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Zwei

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Als ich am frühen Nachmittag nach Haus kam, stand das Garagentor auf. Von dort konnte man zwar nicht ins Haus eindringen, aber trotzdem achtete ich immer darauf, das Tor abzuschließen. Mehr aus Gewohnheit, denn bewusster Entscheidung. Es gab dort nichts zu holen, ein altes Fahrrad, das Rennrad stand im Keller, auch keine abgegriffenen Pornohefte oder sonstige Peinlichkeiten. Nicht dass ich je daran gedacht hätte, jemand könnte sich für den Krempel in der Garage interessieren. Ich hatte schließlich nicht die Probleme des Kollegen Günther. Vergesslichkeit war menschlich, allzu menschlich.

Aber es beunruhigte mich doch, dass ich das Tor nicht abgeschlossen hatte, ja, ich hatte es nicht einmal ganz zugeschoben. Einen Spaltbreit stand es offen, Platz genug, dass eine Katze hätte hinein schleichen oder eine Ratte hinein huschen können. Und wenn schon, dachte ich, schaute aber gründlich nach, ob etwas einen Spaziergang machte. Die Taschenlampe stand noch im Regal, es fehlte kein Werkzeug und mir glitt auch keine Ratte ins Hosenbein.

Es war nichts gewesen als eine kleine Unkonzentriertheit, ohne jede Konsequenz.

Nach wenigen Schritten hatte ich meinen Rhythmus gefunden und schwebte über den Asphalt. Mal links, mal rechts das Bein kräftig auszustrecken und abwechselnd den linken oder rechten Fuß vor den Körper zu stellen waren eins.

Viele Gelegenheiten würde es nicht mehr geben, vielleicht war dies die letzte noch einmal loszurollen, bevor Laub, Feuchtigkeit und frühe Dunkelheit die Saison beendeten. Mit Blitz und Donner oder Regen war heute nicht mehr zu rechnen. Blitze kommen nicht aus heiterem Himmel.

Ein warmer Wind hatte die regenglitschigen Vormittagsstraßen inzwischen gänzlich trocken geblasen. Der Boden durfte nicht schlüpfrig sein; Nässe war Gift beim Skaten, man verlor den Halt, nein, man hatte gar keinen Halt, sondern glitt immerzu weg nach links und rechts, bekam keinen Widerstand gegen die Rollen, und also keinen Schwung. Das war dann nur so ein Schleudern und Schlingern. Aber jetzt war es trocken. Ich hatte noch einmal in der Garage nachgesehen, bevor ich losgefahren war.

Ein Kanaldeckel. Ich ziehe leicht die Beine an und schon fliege ich drüber, komme auf, der rechte Fuß landet leicht versetzt vor dem linken und beschleunige wieder: rechts, links, rechts, links, ich rolle, ich rolle, ich rolle... Und meine Gedanken rollten zurück in die Schule.

„Hover through the fog and filthy air“, sagten die Hexen in Macbeth. Und mit den Hexenworten „Fair is foul, and foul is fair“ hatte Tanja die Vorstellung des Stücks begonnen und auch beendet. Dazwischen lag die nachdrückliche Aufforderung an die Kursmitglieder, Macbeth als Lektüre zu wählen.

Sie schwärmte von unglaublichen Sachen, von Leidenschaften, Obsessionen und Abgründen größer als Hollywood. Das wäre ein ganz kolossaler Thriller: Auf Mord folge Mord und Totschlag, eine Welt aus den Fugen, Wahnsinn sei auch dabei, Drogen und Hexerei. Sei also auch was für Leute mit esoterischem Tiefsinn. Und Sprüche hätte der Shakespeare drauf, zynisch und gewetzt, besser als von Appelt und Schmidt zusammengenommen.

Ich hatte, was ich für diesen Kurs wollte; zweitklassige Lektüre konnten meine Kollegen wählen. Diese Studierenden verdienten etwas wirklich Gutes, etwas Anspruchsvolles.

Ich mag nicht, wenn Dinge von selbst geschehen, unkontrollierbar und rätselhaft. Wenn ich nicht lenkend ins Geschehen eingreifen kann wie ein Regisseur, dann werde ich unruhig und nervös. Unterricht muss sein wie ein Theaterstück, durchkonstruiert wie ein Kunstwerk mit steigender Spannung.

Selbstverständlich, und im Übrigen auch zurecht, hätten meine Leute gemurrt, hätte ich ihnen den Macbeth einfach aufgeschwatzt. Erwachsene, die das Abitur nachholen wollen, sind in der Lage für sich selbst zu entscheiden.

Natürlich wusste ich von Anfang an, dass sie Tanjas Vorschlag annehmen würden. Gegen ihre Argumente, gegen ihre spannende Darstellung der Tragödie und vor allen Dingen gegen ihren Willen würde niemand wagen aufzumucken, nicht einmal ihre Freunde Rick, Ben und Moni.

Ich war mit ihnen hinunter auf den Schulhof gegangen und hörte im Weggehen, wie sie sich verabschiedeten: „When shall we four meet again?“

Pass jetzt besser auf, sagte ich mir. Unter der Brücke am Bach war es häufig feucht, außerdem konnte man erst spät sehen, ob einem ein Fahrrad entgegenkam.

Es war nicht ungewöhnlich, dass Kollegiatinnen schon mal die Gelegenheit ergriffen und über meine Glatze streichelten. „Wie ein warmer Lederball, irgendwie lebendig und pulsierend, wenn darunter ein Mann, also kein Lehrer steckte, würde ich sogar sagen gar nicht unerotisch, echt geil“, rief Heike den anderen in der Klasse zu. „Lass mich mal, ich will auch mal“, drängte Tanja sich heran. Wenn es passierte, war’s okay, aber nicht mit Ansage.

Niemals hätte ich daran gedacht, dass meine glänzende Kuppel, die ich aus Überzeugung trage, mein Leben auf extremste Weise verändern könnte. Wer dächte je daran, dass der blanke Skalp Teil eines Spiels werden könnte, in dem es auf Leben und Tod ging?

Ich will mich damit nicht brüsten, ich kann nur mutmaßen, weshalb das Verhältnis zu meinen Leuten immer so ungetrübt gut war. Ich vertraute ihnen, sie vertrauten mir. Ich war der Ansicht, ich bin wie sie und sie sind wie ich.

Damals, in tiefer Nacht schwankten wir durch die engen Gassen jener Universitätsstadt mit Disney-Ruine am Hang für Amis und Japaner. Erhitzt und heiter hatten sie mich links und rechts untergehakt und Sonja sagte: „Theo, eigentlich bist du doch einer von uns.“ Das war vor zehn Jahren, aber ja, aber ja, ich bin wie ihr. Sind wir nicht alle aus Glut und Verstand?

Wo ist man am glücklichsten? Dort, wo man sich sicher fühlt, dort, wo man die Dinge überschaut und versteht, dort, wo man die eigene Stärke fühlt, dort, wo die Gewissheiten wie von selbst aus dem Bewusstsein rollen. Ich hatte Erfahrungen gesammelt und Routinen entwickelt, in denen ich mich völlig sicher fühlte, ich konnte Menschen einschätzen, konnte mit Situationen umgehen, ja, konnte Situationen gestalten, wie ein Spielleiter Szenen auf der Bühne gestaltet. Ich hatte gelernt aufzubrausen wie ein Schauspieler, konnte mit den Studierenden schimpfen, ohne dabei auch nur einen Anflug von Ärger zu empfinden. Ich war mir sicher, nach Belieben durchschauen und lenken zu können. Aber das war nur der rationale Teil meines Vorurteils, daneben gab es den emotionalen. Ich konnte nicht anders als annehmen, vielleicht gegen mein besseres Wissen sogar, dass die Leidenschaften anderer Menschen ebenso mild und moderat seien wie meine eigenen.

Grauenhaft die fiebrige Kälte der Lady Macbeth. Er solle zu seinem Versprechen stehen, reizt sie ihren Gatten. Sie würd’s tun, wenn sie’s versprochen hätte. Sie würde, während es sie anlächle, ihr Baby von der Brust reißen und ihm das Hirn an der Wand herausschlagen, hätte sie es versprochen. Ich bin mal gespannt, wie sie die Figur anpassen werden. Die Gruppen kamen gut voran, die Ergebnisse wuchsen.

Ich fuhr zur Hecke, sackte mit den Rollen in den weichen Boden dahinter und erleichterte mich. Schwerfällig mit flappenden Flügelschlägen hoben Krähen sich vom gepflügten Acker in den septemberwarmen Nachmittag. Im Sommer fielen sie nicht so auf. Nur wenn sie hartnäckig einen Milan oder Bussard attackierten mit lautem Gezeter. Zeichen waren sie in jener Geisterwelt bei Shakespeare; alles konnte dort zum orakelnden Zeichen werden: die Eule den Falken jagend, die gebrochene Deichsel so gut wie das Jammern der Katzen unterm Mond. Die zirpende Grille kündete vom Tod. Und die Folge? Gebete, Fürbitten, Hexenverbrennungen, Wallenstein, der Untergang ganzer Imperien. Meine Gedanken wanderten wieder zurück zum Macbeth-Kurs.

„Soll ich zum Kindermörder werden?“ rief ich nach der Pause in die unruhige Klasse. „Wir sind keine Kinder!“ „Ich will auch kein Mörder werden, obwohl der die ungeteilte Aufmerksamkeit eines Menschen hat.“ Jetzt habe ich sie, dachte ich und war zufrieden. „Gibt es etwas Schöneres als die absolute Aufmerksamkeit? Ja, Rick?“ „Die ist absolut nervig. Die Idee kann nur einem frustrierten Paukerhirn entspringen, eine Déformation professionnelle sozusagen. Der Pauker wünscht sich die totale Aufmerksamkeit immer, hat sie aber nie. Mir sind Katzen lieber als Hunde.“ „Richtig, es geht nicht um die ungeteilte Aufmerksamkeit, sondern ums rechte Maß, darauf kommt es mir an.“

„Nothing comes from nothing”, sagte Ben. „Wir sind schon mitten drin. Nothing comes from nothing, meinetwegen. Was treibt Macbeth zum Mord?“ Ich ging an die Tafel und sammelte: Ehrgeiz, Machtstreben, Einflüsterungen der Lady, günstige Gelegenheit, Prophezeiungen der Hexen, Schicksal, das Dämonische und Böse. „Alles schön und gut. Wir brauchen es genauer. Wir brauchen Erklärungen, Kausalitäten. Ich schlage vor, wir gehen von der Hypothese aus: Alle Geschehnisse sind in gegenseitiger Abhängigkeit miteinander verknüpft, alles kann mithilfe des Verstandes erklärt werden, wenn wir uns den Text genau ansehen.“

„Schließlich ist alles determiniert“, sagte Rick, „ja, in guter Literatur sogar überdeterminiert“, äffte er mich nach. Die Klasse lachte.

„Also, ihr habt euch einen ersten Überblick verschafft. Aber es muss uns auch ums Detail, um die Feinheiten gehen. Wie hat er es gemacht? Shakespeare war wortreich, gilt als schwer, ist also genau das Richtige für euch. Ich schlage vor, dass wir den Text mit verteilten Rollen Zeile für Zeile lesen und diskutieren. Einverstanden?“

„Das ist langweilig.“

„Wir sind nicht im Kino!“

„Das ist lehrerzentrierter Bullshit, ich will selbst was machen.“

„Genau, wir wollen nicht die Lehren des Lehrers, wir wollen selbst gestalten, keinen kurz- und kleingekauten Brei, ekelhaft.“

Die Reaktion hatte ich natürlich vorhergesehen. Wenn man es nur geschickt genug anstellte, dann war es ja so einfach, die Leute in genehme Richtungen zu lenken. Die Motive der Menschen sind ja so leicht zu durchschauen. Die meisten Handlungen sind determiniert wie die Bewegungen von Billardkugeln.

Andererseits ist ein halbes Dutzend von Motiven auch nicht wenig, denn miteinander kombiniert, dehnen sie sich aus zu einer ungeheuren Zahl von Möglichkeiten, doch ein bisschen Menschenkunde vorausgesetzt, hat man schnell herausgefunden, welches die stählerne Triebfeder ist und welche Neigungen nur weich mitdrängen und also kaum wirksam sind.

Ich hörte die Klasse murmeln und stöhnen, war also bald am Ziel. Noch einen Vorschlag und ich hatte sie so weit. „Dann habe ich da noch eine Schwarte, wäre was für die esoterisch Interessierten, wie wäre es Michaela? Superstition and Witchcraft in the Elizabethan Literature.“

Nur noch wenige Studierende hörten mir zu, die Klasse vibrierte vor Widerspruch, zu zweit oder zu dritt hatten sie die Köpfe zusammengesteckt und äußerten ihre Unlust und Ablehnung meiner Vorschläge. Es war nicht leicht ernst zu bleiben.

„Das ist doch Uni-Kacke, das kann machen, wer Englisch studiert.“

„Ein Referat bringt nur dem was, der es hält, die andern schlafen oder träumen.“

„Genau, keine langweiligen Referate. Ich will mir doch keine Valium reinpfeifen müssen, um den Vormittag zu überstehen.“

„Ich glaube, wir wollen alle was anderes, was Selbstständiges. Mit dem Stück was machen, machend erarbeiten und verstehen.“

„Bitte schön, habe nichts dagegen.“

Jetzt hatte ich sie, nun noch die geeigneten Projekte anregen, dann hatte ich, was ich wollte.

„Schlagt vor, ich bin ganz Ohr, ich schreibe Stichworte an die Tafel.“

„Wir könnten das Stück umschreiben, einen Thriller draus machen.“

„Die Motive der Figuren untersuchen, was treibt sie an, wie beeinflussen sie sich gegenseitig.“

„Das Geschlechterverhältnis untersuchen.“

„Ach ja, ich habe da eine CD-ROM mit Macbeth darauf: Text, Erläuterungen, Videoclips, Hexen, wandernde Wälder, etc. Wer macht das? Warum so zögerlich? Technisches Teufelszeug? Angst? Wenn die Hexen aus dem Monitor wollen, einfach den Stecker raus. Ihr drei? Gut.“

Dass Ben, einer von Günthers fürchterlichen Vier, mitmachte, wunderte mich nicht. Ich wusste von seinen langen Nächten im Netz. Wie ein Nachtwandler war er in der ersten Woche des Semesters in der Schule herumgetappt, müde und ausgebrannt. Er leide an Jetlag, erzählte er mir. Während der sechs Ferienwochen hatte er die Nächte hindurch gesurft und tagsüber geschlafen. „Eines Tages“, prophezeite ich ihm, „durchgeisterst du nur noch die abgelegenen Winkel des in zahllosen Seiten flimmernd ausgegossenen Netzes und es wird heißen, er war ein frühes Opfer der ewigen Welle.“

„Wer will das Stück umschreiben?“ „Gut, ihr vier“. Rick und Tanja waren dabei, ich hatte damit gerechnet und konnte also sicher sein, ein erstklassiges Resultat zu erhalten. Rick und Tanja, Macbeth und seine Lady.

Ich war gespannt darauf, was sie von sich zeigen würden bei der Umformung.

Ich tue, also bin ich, das war Ricks Lebensslogan. Er gehörte zu den Leuten, die ihren Spaß im Rausch des Risikos suchten. Bungeejumping war etwas für Beamte, die auch mal was erzählen wollten.

Taten ohne Täter

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