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ОглавлениеDienstag, den 6. Juni, bis Donnerstag, den 22. Juni 1967
Die folgenden zehn Tage vergingen, ohne daß sich etwas ereignete. Besonders der Dienstag war höllisch zu durchstehen. Ich war erst um vier Uhr morgens nach Hause gekommen und mußte ja um zehn mit dem Polizeibeamten wegen des Einbruchs in der Kapelle sprechen. Diese Vereinbarung konnte ich nicht rückgängig machen, und ich mußte ganz normal erscheinen. Natürlich nicht körperlich. Auch ein Krematoriumsangestellter darf sich in seiner Freizeit einmal vollaufen lassen. Ich meine, ich konnte es mir nicht leisten, den geringsten Zweifel an meiner seelischen Verfassung aufkommen zu lassen.
Die Montagnacht hatte ich richtig durchsumpft. Ich aß in einer kleinen Wirtschaft an der Svärtegade und blieb an einem Stammtisch hängen. Später machte ich mit Johansen die Runde, der zufällig Geld hatte, was mir gut paßte, da ich ebenfalls bei Kasse war.
An sich mache ich mir nicht viel aus Johansen. Er ist Vertreter irgendeiner Firma, die der Industrie Farben und Lacke liefert. Seine Einkünfte sind unregelmäßig, so daß es für mich ein Glück war, daß er gerade einen seiner guten Tage hatte. Er könnte ein flotter Bursche sein, wenn seine zwanzigjährige ungezügelte Lebensweise nicht ihre Spuren in seinem Gesicht hinterlassen und seinen Ehrgeiz nicht untergraben hätte. Er kleidet sich elegant, und die ausholenden Bewegungen sind ihm angeboren. Er wäre gern eine große Kanone geworden, hat es aber nur zu einer kleinen Büchse gebracht.
Als wir gegen elf Uhr abends in einem Restaurant an der Vesterbrogade saßen, sagte Johansen unvermittelt, er müsse im Hauptbahnhof seinen Koffer holen. Da ich nichts anderes zu tun hatte, ging ich mit. Es war kein besonders großer Koffer, denn er war in einem der Schließfächer aufbewahrt, in die man eine Krone steckt, die für 24 Stunden gültig ist. Johansen holte sich seinen Koffer, und wir zogen weiter.
Mit Mühe und Not gelang es mir, die Vereinbarung am Dienstag um zehn einzuhalten. Aber ich war sogar vor dem Polizeibeamten bei der Kapelle.
Er untersuchte die Tür.
»Sie ist mit einem Stemmeisen oder etwas Ähnlichem aufgebrochen worden«, stellte er fest.
Um das zu erkennen, hätte man die Polizei nicht zu bemühen brauchen. Hierauf machte er sich Notizen und zeichnete die Merkmale ab.
»Sie können das Schloß nun instand setzen lassen«, erklärte er. »Irgendwelche Spuren von dem Dieb? Fußabdrücke oder so etwas? Hat er etwas verloren? Einen Zigarettenstummel? Ein Streichholz?«
»Nein«, erwiderte ich. »In der Kapelle war alles sauber and ordentlich, als ich gestern herkam. Jedenfalls ist mir nichts aufgefallen.«
»Ist seitdem reingemacht worden?«
»Ja, die Putzfrau kommt immer morgens, fegt und wäscht den Boden auf.«
»Hm«, machte er.
Wir gingen hinein.
»Fehlt noch etwas außer den beiden Kerzenhaltern?« fragte er, während wir durch den Mittelgang schritten.
»Nein. Der Küster und ich sahen gestern alles nach. Hier gibt es ja gar nichts Wertvolles.«
»Scheint mir auch so«, gab er gleichgültig zurück.
Als wir zu dem Altar gelangten, zeigte er auf die Leuchter.
»Ähnlich wie diese?«
»Genau gleich«, antwortete ich. »Alle dänischen Krematoriumskapellen sind damit ausgestattet.«
»Soso.« Das notierte er. »Was sind sie wert?«
»Das Stück kostet 235 Kronen. Ein Trödler zahlt sicher nicht mehr als 50 Kronen dafür, vielleicht noch weniger, wenn er es für heiße Ware hält.«
»Sie scheinen ja etwas davon zu verstehen«, bemerkte er und sah mich mißtrauisch an.
Ich fluchte im stillen.
Er ließ sich nicht weiter darüber aus, sondern ging um den Altar herum und schaute sich die Leuchter von allen Seiten an. »Wir werden sie in die Liste der gestohlenen Sachen eintragen, die versandt wird. Viel nützen wird das zwar nicht. Sie stehen sicher schon auf irgendeiner Anrichte und schmücken ein Zimmer. Derartige kleine Diebstähle sind fast nie aufzudecken. Wir können ja wegen zwei Kerzenhaltern nicht den ganzen Polizeiapparat in Bewegung setzen, was?«
Er blickte mich scharf an, als ob ich in meiner wildesten Fantasie daran denken könnte, ihm zu widersprechen. Das kam mir gar nicht in den Sinn. Ich dankte ihm herzlich für seine Bemühungen, und wir waren gerade im Begriff, uns als die besten Freunde von der Welt zu trennen, als er plötzlich noch eine Frage stellte.
»Wie lange war die Tür unverschlossen?«
»Was?« ich verstand nicht, was er meinte.
»Wann waren Sie das letztemal hier, bevor Sie gestern um 14 Uhr herkamen?«
»Ach so.« Ich antwortete bereitwillig: »Wir hatten am Samstag zwei Bestattungen, eine um 13 und eine um 15 Uhr. Larsen und ich waren um 19 Uhr 30 mit unserer Arbeit im Keller fertig, und seitdem war niemand mehr hier.«
»Wer ist Larsen?«
»Mein Kollege. Gestern hatte er sich krank gemeldet. Magenbeschwerden.«
»Soso.« Er schrieb das auf. »Wann kam die Leiche, die Sie gestern zur Ruhe betteten?«
Er hatte eine sonderbare Ausdrucksweise. »Der Leichenwagen mit dem Sarg kam am Samstag gleich nach der letzten Trauerfeier. Das heißt, so um vier Uhr nachmittags.«
»Und nach Ihrem Weggang war niemand mehr hier?«
»Niemand. Das heißt ...« Ich stockte.
»Das heißt?« half er mir weiter.
Ich schwieg. Wieso hatte der Gärtner nicht gemerkt, daß die Tür aufgebrochen worden war, als er mit dem Blumenschmuck kam?
Ich riß mich zusammen. »Ich wollte sagen, der Gärtner Svendsen muß gestern vormittag irgendwann hier gewesen sein, um die Blumen zu bringen.«
»Da müßte ihm doch die aufgebrochene Tür aufgefallen sein, oder nicht?«
»Eigentlich ja«, antwortete ich gedehnt.
»Hat er Ihnen etwas davon gesagt?«
»Ich habe ihn seit mehreren Worhen nicht gesehen.«
»Gibt es hier ein Telefon?« fragte er.
Ich führte ihn in die kleine Nebenkammer, und er rief Svendsen an, nachdem er die Nummer nachgeschlagen hatte.
Ich hörte nur seine kurzen Fragen, doch er teilte mir hernach mit, was Svendsen gesagt hatte. Svendsen hatte nichts von einem Einbruch bemerkt, weil er die Blumen und Kränze schon am Sonntagnachmittag in die Kapelle gebracht hatte. Er hatte hoch und heilig versprochen, sie persönlich abzuliefern, aber am Montag keine Zeit dafür gehabt. Er war am Sonntagnachmittag zwischen vier und halb sechs in der Kapelle gewesen und hatte die Tür mit seinem eigenen Schlüssel abgeschlossen.
Nun wußte ich es. Die Leiche – die zweite Leiche – war zwischen 17 Uhr 30 am Sonntag und 14 Uhr am Montag in den Sarg gelegt worden. Darum waren auch die Blumen nicht mehr so frisch gewesen.
Der Polizist notierte, daß der Einbruch in diesem Zeitraum stattgefunden haben mußte. Er klappte sein Notizbuch zu und sagte, wir würden Bescheid bekommen, wenn die Leuchter gefunden würden, aber wir sollten nicht damit rechnen.
Das war alles.
Ich atmete erleichtert auf, als er gegangen war. Der Katzenjammer machte mir immer noch zu schaffen. Zum Glück fand an diesem Tage keine Bestattung statt, so daß ich nur Papierkram erledigen mußte, bevor ich nach Hause gehen und meinen Rausch richtig ausschlafen konnte.
Das hört sich vielleicht an, als ob wir ein Faulenzerleben führten, aber das stimmt nicht. Die Arbeitszeit ist zwar unregelmäßig, doch alles in allem nicht kürzer als in anderen Berufen. Wir unterstehen einem strengen Reglement. Da wäre zum Beispiel Paragraph 6: »Muß die Asche versandt werden, so ist die Urne in eine feste Umhüllung aus Holz oder Pappe zu verpacken. Das Paket ist eingeschrieben zu versenden.«
Larsen und ich sind auch für die Beisetzung der Urnen zuständig, und wir müssen dafür sorgen, daß alle Apparaturen im Krematorium in Ordnung sind. Auch für die Urnengräber und -nischen tragen wir die Verantwortung und für die Ordnung auf dem Friedhof.
Wir teilen uns in die Arbeit. Ich erledige alles Technische und auch den Bürokram, weil mir das mehr liegt als Larsen. Er hält sich lieber im Freien auf. Nur die Arbeit am Ofen machen wir gemeinsam. Es ist ja auch todlangweilig, ganz allein da unten zu sitzen.
Manchmal findet eine Inspektion statt. Aber bei uns hat man noch nie etwas bemängeln müssen. Wir sind beide zufrieden mit unserem Arrangement.
Ich ging also nach Hause und schlief. Ich habe ein Zimmer mit Bad im ersten Stock einer Villa. Keine Küche. Was sollte ich auch damit? Dafür mischt sich auch niemand in mein Privatleben ein, sofern ich nicht lärme. Zu Hause lärme ich nie. Wenn mir der Sinn danach steht, gehe ich in die Stadt. In der Regel nicht so ungestüm wie gestern. Aber das war eine Notlage.
Die Tage schleppten sich dahin. Es fanden Einäscherungen und Beisetzungen statt. Dazwischen reinigte ich Düsen und wechselte elektrische Birnen aus; Larsens harkte auf dem Friedhof die Wege, rupfte Unkraut und goß die Blumentöpfe. An einem Tag mußte ich an der Orgel etwas instand setzen. Ich hatte weniger Hoffnung als der neben mir stehende und zuschauende Organist, daß es mir glücken würde; aber das sagte ich ihm natürlich nicht. Tatsächlich gelang es mir, und danach spielte die Orgel wieder, daß es eine Ohrenweide war.
An sich mache ich mir nicht viel aus klassischer Musik, aber im Lauf der Jahre habe ich hier in der Kapelle Orgelspiel lieben gelernt. Der Organist ist zwar kein bedeutender Künstler, doch mitunter, wenn er sich so richtig ins Zeug legt, kann es ergreifend klingen. Ich habe mir sogar ein paar Platten mit Orgelmusik gekauft, und ich höre mir manchmal Kirchenkonzerte an, wenn einer von den großen Kanonen den Blasebalg tritt.
Unser Organist ist ein kleines Männchen. Er kann keine Delle in einen Filzhut schlagen, so daß er froh sein muß, daß ihm ein elektrischer Blasebalg zur Verfügung steht. Er ist ein reizbarer Bursche mit einem Teufelstemperament, dabei rothaarig und häßlich. Wegen nichts und wieder nichts fährt er hoch. Ein Glück, daß der Küster so schweigsam ist, sonst hätte es sicher einige interessante Dispute gegeben.
In diesen Tagen habe ich so viele Zeitungen gelesen, daß mir der Kopf vor Tatsachen und Meinungen fast zerspringt. Noch nie in meinem Leben war ich über alles so gut unterrichtet, mag es sich um Weltereignisse handeln oder um die Geschehnisse in unserem kleinen Land. Es war mir ein Trost, alle die Zeitungen zu lesen. Du bist gar nicht so schlimm, Hans, sagte ich mir. Deine kleinen Schummeleien sind nichts im Vergleich zu dem, was andere anstellen. Manchmal zwackt einen nämlich doch das Gewissen.
Von dem, was ich wirklich gern gewußt hätte, stand zehn Tage lang nichts darin. Es geschah an einem Freitag. Da ich die Abendnachrichten im Radio nicht gehört hatte, durchstöberte ich die Zeitungen besonders gründlich. Nicht ganz ungefährlich, sich so viele Zeitungen zu besorgen. Ich konnte sie nicht alle zusammen an meinem üblichen Kiosk kaufen, sondern mußte herumlaufen und sie mir einzeln an verschiedenen Stellen besorgen.
Da stand es nun. Eine bescheidene kleine Vermißtenmeldung. Offenbar war der Apparat noch nicht in Bewegung gesetzt worden.
»Als vermißt gemeldet wurde die 21 jährige Marie Louise Bentzen, Tochter des Verkaufschefs Viggo Bentzen und seiner Ehefrau, wohnhaft Stjernevej 43, Frederiksberg. Marie Louise Bentzen ist 1 Meter 64 groß und wiegt ungefähr 50 Kilo.« (Mein Augenmaß ist wirklich nicht schlecht.) »Sie hat hellblonde Haare, hellblaue Augen, vorstehende Backenknochen und regelmäßige Zähne. Als sie zum letztenmal gesehen wurde, trug sie ein geblümtes Terylenkleid, durchsichtige Nylonstrümpfe und weiße Schuhe mit hohen Absätzen. Bei sich hatte sie einen hellbraunen Lederkoffer und ein weißes Handtäschchen. Sie trägt an der linken Hand einen Goldring mit rotem Stein. Marie Louise Bentzen wurde am Sonntag, dem 4. ds. Mts., zuletzt gesehen, als sie den Schnellzug ›Syd-Vestjyden‹ 17 Uhr 10 bestieg, um nach Struer zu fahren, wo sie ihr Studium in der Haushaltungsschule fortsetzen wollte. Alle Hinweise auf das Verschwinden des jungen Mädchens sind an die Polizeidienststelle Frederiksberg, Telefon Fasan 1448, oder ans nächste Polizeirevier zu richten.«
Reine Lüge. Richtiger gesagt, halb gelogen. Der Himmel mochte wissen, in was der Vater des Mädchens sich da verwikkelt hatte.
Ich war gespannt, ob die Polizei in den nächsten Tagen etwas herausfinden würde. Leicht war das sicher nicht. Für mich bedeutete es das größte Risiko, daß der Mörder den Kopf verlieren und sich stellen könnte. Dann würde es mir schwerfallen, mich herauszureden. Immerhin konnte ich, wenn der Leichenbitter dichthielt – womit zu rechnen war, denn er bangt um seine Haut ebenso wie ich –, an der Behauptung festhalten, mir wäre bei der Leichenverbrennung nichts Ungewöhnliches aufgefallen.
Ich hatte mich gehütet, den Goldschmied hineinzuziehen. Und Larsen wußte von der ganzen Sache keinen Pieps. Es bestand kein Grund, ein größeres Risiko als notwendig zu laufen; darum hatte ich sowohl den Ring der alten Dame als auch des Mädchens sowie das Medaillon bei mir zu Hause verwahrt.
Das Medaillon!
Davon hatte nichts in der Zeitung gestanden. Es hatte innen im Kleid gehangen, und die Kette war so dünn, daß man sie kaum sah. Ich hatte es auch erst bei der gründlichen Untersuchung entdeckt. Dazu war dem Mörder sicher keine Zeit geblieben. Selbst die größte Kaltherzigkeit hat ja ihre Grenzen. Er hatte nur darauf geachtet, daß keine Papiere zu finden waren. Vielleicht nicht einmal darauf. Er rechnete damit, daß sein Plan, sie spurlos verschwinden zu lassen, glücken würde, ob sie Papiere bei sich hatte oder nicht. Die Identifizierung wäre ohnehin nur eine Zeitfrage, wenn sie gefunden wurde.
Wirklich ein kaltblütiger Bursche. Keiner, der den Kopf verlor. Von ihm hatte ich sicher nichts zu befürchten. Schlimmer wäre es gewesen, wenn jemand ihn gesehen hätte; doch daß das nicht geschah, dafür dürfte er gesorgt haben.
Doch um zu dem Schmuck zurückzukehren: Trotzdem hatte ich meinen Goldschmiedefreund in den zehn Tagen nicht vernachlässigt. Da es wahrscheinlich seinen Verdacht erweckt hätte, wenn ich nicht mehr so regelmäßig zu ihm gekommen wäre, hatte ich ihn ein paarmal mit verschiedenem Flitterzeug aufgesucht. Die Mühe machte sich nicht gerade bezahlt, denn der Schmuck, der den Toten mitgegeben wird, ist meistens nicht viel wert. Der alte Spruch, daß sich die Erben streiten, bevor der Verstorbene kalt ist, hat etwas Wahres. Jedenfalls sorgen sie dafür, daß etwas da ist, worüber man sich in die Haare geraten kann. 85 Kronen hatte ich für zwei Ringe und ein altes abgescheuertes Armband eingeheimst. Davon wird man nicht satt.
Früh am folgenden Abend fuhr ich nach Frederiksberg. Das Haus Stjernevej 43 fand ich schnell. Es war ein einstmals vornehmes Villenviertel, wo jetzt der gehobene Mittelstand wohnte. Einige Häuser sahen ein bißchen verwahrlost aus, aber von Nummer 43 konnte man das nicht sagen.
Es war ein großes weißes Haus, vornehm abseits der Straße. In dem gepflegten Garten hätten gut drei Einfamilienhäuser Platz gehabt. Eine Villa mit vielen Fenstern und Balkonen. Was mochte der Mann verkauft haben, daß er sich ein solches Haus leisten und es so gut erhalten konnte? Seine eigene Schwiegermutter? Jedenfalls konnte er kein gewöhnlicher Verkaufschef sein. Die angebaute Garage bot mindestens drei Autos Platz, und der Hintergarten war so groß, daß sich das Ende nicht absehen ließ.
Ich näherte mich dem Hintergarten auf der Parallelstraße. Ja, es war ein riesiges Grundstück, das von einer sauber geschnittenen Hecke mit einer Pforte abgeschlossen wurde. Hintereingang für Dienstboten und Lieferanten. Ja, das Ganze hatte Stil. Es konnte kein Herr Irgendwer sein, der Fräulein Bentzens Lebenslauf ein Ende gemacht hatte. Er mußte es gewöhnt sein, in den besten Kreisen zu verkehren.
Da war etwas herauszuholen, wenn ich es richtig anpackte. Nur mußte ich den Mörder finden. Es galt, sich mit Geduld zu wappnen. Es dauerte gewiß eine Zeit, bis der Fall zu einer großen Pressesache wurde. Die Polizei nimmt es mit der Ruhe, wenn junge Damen verschwinden.
Auf der Heimfahrt sann ich darüber nach, wie ich mich verhalten sollte, wenn ich meinen Mann gefunden hatte. Es ging nicht an, vor ihn hinzutreten und zu sagen: »Raus mit 50000 Kronen, oder ich rede.« Vor einem zweiten Mord würde er nicht zurückschrecken. Nein, ich mußte eine schußsichere Verbindung zu ihm herstellen. Daß ich den Mann finden würde, daran zweifelte ich keinen Augenblick.
Es vergingen weitere fünf Tage. Dann kam Leben in die Zeitungen. Zuerst erschienen Bilder von dem Mädchen mit Steckbrief und der Bitte um Hinweise aus dem Publikum. Am 21. Juni wurden Einzelheiten berichtet, darunter die Erklärung, warum es so lange gedauert hatte, bis man mit der Fahndung begonnen hatte.
Die kleine Marie Louise hatte der Haushaltungsschule einen Brief geschrieben, in dem sie mitteilte, daß sie aus familiären Gründen erst eine Woche später kommen würde. Infolgedessen hatte die Schule nicht vor dem 13. bei den Eltern angefragt, wo sie denn bleibe, und erst nach einigem Hin und Her war die Fahndung in Gang gekommen.
Von meinem Gesichtspunkt aus ergaben sich schlüssige Folgerungen. Sie hatte geplant, eine Woche ungestört mit einem Mann zu verbringen, aber er hatte andere Pläne gehabt. Ganz andere. Mich wandelte wieder Mitleid mit dem Mädchen an, doch das bestärkte mich nur in meinem Entschluß, dem Kerl die Hölle heiß zu machen.
Ich konnte mir nicht vorstellen, daß es sich um eine zufällige Gewalttat handelte. Sie mußte den Mörder gekannt haben, und der Mörder war der Mann, mit dem sie eine Woche zusammen verbracht hatte. Er seinerseits mußte einen Satansgrund gehabt haben, sie sich vom Halse zu schaffen. Eifersucht, abgekühlte Liebe oder Schwangerschaft genügten da nicht. Sie war mündig, und auch er war erwachsen. Jedenfalls nach dem Bild im Medaillon zu urteilen.
Was für ein Motiv kam in Frage? Sollte sie enterbt werden, wenn sie ihn ohne Einwilligung ihrer Eltern heiratete? Nein, unmöglich bei unseren heutigen Erbgesetzen. In unserem sozialistischen Wohlfahrtsstaat kann eine Erbschaft nur um dreißig Prozent geschmälert werden. Es konnte ein verheirateter Mann sein, der sich nicht scheiden lassen mochte. Marie Louise hatte vielleicht die Sache auf die Spitze getrieben und gesagt: Entweder bekennst du deiner Frau gegenüber Farbe, oder ich tue es. So etwas kann einen Mann schon zur Verzweiflung treiben.
Ich setzte mein Vertrauen darein, daß die Presse die Sache ausschlachten und vielleicht Bilder ihrer Bekannten bringen würde, etwa Marie Louise fröhlich lachend auf einem Gartenfest oder bei einer Neujahrsfeier. Selbst wenn der Mann im Medaillon nicht darauf zu sehen war, bestand dann die Möglichkeit, die Leute zu beschatten und so in Sichtweite des Gesuchten zu kommen. Das wäre eine Höllenarbeit, aber ich hatte ja Zeit. Die Belohnung winkte, und ich gedachte, die nötige Geduld aufzubringen.
Ich machte mir grundlos Sorgen. Der Mann im Medaillon wurde als einer der ersten in den Zeitungen abgebildet. Anfangs war ich im Zweifel, ob das wirklich der Richtige sein könnte; dann aber, als ich es mir überlegte, zerstreute sich der Zweifel, und ich beschäftigte mich mit dem nächsten großen Problem.
Wie sollte ich an das Geld herankommen, ohne mich einer Gefahr auszusetzen? Da gab mir die Erinnerung an meinen Ausflug mit Johansen zum Hauptbahnhof, wo wir seinen Koffer abgeholt hatten, einen glänzenden Gedanken ein.