Читать книгу Die zweite Leiche - Frits Remar - Страница 8

3

Оглавление

Freitag, den 23. Juni, bis Freitag, den 14. August 1967

Ich trat durch den Haupteingang unter der Neonuhr ein. Die roten Ziffern waren in dem scharfen Sonnenlicht knallrot wie die Glasur eines Geburtstagskuchens. Es war Stoßzeit. Wenn man nicht gesehen werden will, ist es am besten, ganz allein zu sein oder im Gewimmel von zehntausend Menschen. Ich wählte das Gewimmel, denn wie kann man in einem Hauptbahnhof ganz allein sein?

Mein Schritt war fest und zielbewußt. Nichts von Zaudern und Unsicherheit. In der Halle wandte ich mich nach links und bahnte mir einen Weg durch die Menschenmenge, vorbei an dem Zeitungskiosk, der zu zehn Prozent Zeitungen und zu neunzig Prozent billige Bücher und Schulheftchen verkaufte, wenigstens nach der Auslage zu urteilen. Die meisten Zeitschriften zeigten unanständige Titelbilder, aber das ist ja heutzutage überall so. Der Geschlechtstrieb hat sich in den letzten Jahren von seiner natürlichen Stelle in die Augen verlagert. Niemand will mehr als zwei Kinder haben, so daß die Pille ein Massenartikel geworden ist und Abtreibungen erlaubt sind. Man will genießen, ohne Folgen tragen zu müssen. Na ja, wer wirft mit Steinen, wenn er selbst im Glashaus sitzt? Ich ging an dem Blumenstand vorbei und bog rechts um die Ecke zum Restaurant. Dann vorbei an Automaten mit Lebensmitteln und einem zweiten Zeitungskiosk – eine unglaubliche Menge von Kultur, die Reisende konsumieren –, und endlich hatte ich die Schließfächer vor mir. Es waren nicht viele – vielleicht dreißig –, und alle waren besetzt.

Es war keine gute Stelle. Keine Bank, wo ich harmlos hätte sitzen können. Nur ein Durchgang für Leute, die nach der Ankunft dem Ausgang zustrebten oder umgekehrt. Das machte nichts. Auch in der Ankunftshalle gab es Schließfächer, sogar an die hundert. Ich ging weiter.

Offenbar erfreuten sich Schließfächer großer Beliebtheit. Ich mußte fast die ganze Reihe abschreiten, bevor ich ein leeres Fach fand. Ich las die Benutzungsanweisung. 24 Stunden Aufbewahrung für eine Krone. Ich schaute mich schnell um. Ich hatte nicht daran gedacht, etwas mitzunehmen, das ich hineinlegen könnte. Niemand beachtete mich. Warum sollte man auch einen älteren Mann mit schütterem Haar und ohne besonderes Kennzeichen beachten? Einem Mann mit abgearbeiteten Händen, schlechter Haltung und ungeputzten Schuhen schenkt man keinen zweiten Blick. Nicht zu vergessen den kleinen Schmerbauch, das Ergebnis allzu vielen Biertrinkens und zu geringer körperlicher Bewegung. Ja, ich mache mir nichts vor. Eine ganz gewöhnliche Erscheinung, von der es in meinem Gesichtskreis mindestens fünfzig ihresgleichen gab.

Ich steckte eine Krone in den Schlitz und schloß das Fach ab. Den Schlüssel steckte ich wie selbstverständlich in die Tasche und schlenderte dann zum Stehbüfett. Ich kaufte zwei Würstchen und ein Bier und suchte mir ein freies Tischchen.

Ich nahm den Schlüssel aus der Tasche und spielte geistesabwesend damit. Aber mit meinen Nerven war alles in Ordnung. Nur meine Neugier trieb mich, ihn sofort näher zu untersuchen. Ich befühlte ihn mit den Fingern und betrachtete ihn ab und zu.

Stahl. Zacken. Eine deutlich eingeprägte Nummer. Damit konnte ich unmöglich zu einem Schlosser gehen. Er wußte vielleicht, daß derartige Schlüssel nicht vervielfältigt werden durften. Ich konnte ihn aber auch nicht selbst nachmachen. Dazu war besonderes Werkzeug vonnöten.

Ich trank mein Bier aus und ging wieder zu den Schließfächern. Ich las die Verordnungen, die in mehreren Sprachen abgefaßt waren, und die kurze, fast patzige Mitteilung der Dänischen Eisenbahngesellschaft, daß sie sich jeglicher Verantwortung entziehe. Wieder einmal ein strenges Reglement.

Mißbrauch war nicht gestattet.

Mein Problem fand seine Lösung.

Verlust oder Beschädigung des Schlüssels wurde zwecks des Ersatzes mit fünf Kronen geahndet. Man wende sich an den Handgepäckschalter.

Ich wollte sogleich zu dem Schalter gehen, als mir einfiel, daß mein Fach leer war, und das durfte es nicht sein. Es hätte merkwürdig ausgesehen. Ich mußte am nächsten Tag etwas hineinlegen. Am besten so bald wie möglich, denn es konnte ja einige Zeit dauern, bis sich mein Plan ausführen ließ.

Früh am folgenden Tag ging ich wieder zu den Schließfächern, diesmal mit einem Koffer, der alles enthielt, was man für eine zweitägige Reise braucht. Alle Fächer waren besetzt, obwohl keine Reisezeit war. Ich mußte ein paar Stunden warten, bevor ein Fach leer wurde. Die Wartezeit verbrachte ich auf einer Bank, wo ich friedlich saß und die Tageszeitungen las.

In den letzten Tagen hatte die Presse nicht viel über Marie Louise gebracht, doch das wenige hatte mich in meiner Auffassung bestärkt, daß ich den richtigen Mann gefunden hatte. An diesem Tag wurde alles nochmals aufgewärmt, ohne daß neue Einzelheiten vermerkt waren.

Marie Louise war spurlos verschwunden. Es hatten sich zwar ein paar Mitreisende gemeldet, die sie in dem betreffenden Zug gesehen hatten; aber niemand vermochte anzugeben, wo sie ausgestiegen war. Auch die Nachforschungen auf den einzelnen Stationen hatten zu keinem Ergebnis geführt. Es war ja über zwei Wochen her. Die Polizei vertrat die Theorie, sie sei vielleicht auf der Fähre über den Großen Belt über Bord gefallen, und wenn das stimmte, würde man später ihre Leiche finden. Fest stand nur, daß sie nicht in Struer angekommen war, denn unterwegs waren andere Schülerinnen zugestiegen, die sie hätten sehen müssen, wenn sie sich zu der Haushaltungsschule begeben hätte.

Endlich wurde ein Schließfach frei, das ich gebrauchen konnte. Es mußte weiter oben beim Ausgang zur Bernstorffsgade liegen, so daß es mir möglich war, schnell zu entschlüpfen.

Es war das Schließfach Nr. 91. Ich stellte den Koffer hinein, steckte eine Krone in den Schlitz und schloß das Fach ab. Dann ging ich. Das heißt, ich fuhr mit der Stadtbahn nach Hause. Daheim betrachtete ich den Schlüssel. Ein kleines Stahlding, doch für mich eine Kostbarkeit. Stark genug, mein Opfer mir gefügig zu machen.

Oh, ich wollte mit dem Geld sorgsam umgehen. Nicht damit um mich werfen. Nein, jede Woche einen Hundertkronenschein heimlich, still und leise in meinen Umsatz gleiten lassen. Das ergab fünfhundert Wochen, wenn ich 50000 Kronen aus ihm herausholte. Fast zehn Jahre. Ich konnte es mir gestatten, einiges davon zusammenzusparen, so daß es mir vergönnt war, einmal etwas Großes zu kaufen oder Ferien zu machen. Auf Mallorca, in Italien, in Griechenland, ja in der ganzen Welt – alles stand mir offen, wenn ich jede Woche einen steuerfreien Hunderter unter die Matratze steckte. Bis jetzt hatte ich jede Woche durchschnittlich zweihundert Kronen mit den Särgen und dem Schmuck dazuverdient, aber das ging immer für Zigaretten und Bier drauf. Die neuen Hundertkronenscheine bedeuteten eine fast fünfzigprozentige Erhöhung meines wöchentlichen Taschengeldes.

Ich verdiene wöchentlich 450 Kronen als Ofenwart, aber wenn ich Miete, Steuern, das Essen und andere feste Ausgaben bezahlt habe, bleiben mir nur 75 Kronen für Kleidung, Ferien und Taschengeld, so daß es wohl nicht verwunderlich ist, wenn ich vom einwandfreien Lebenswandel abgekommen bin. Ich lebe gern und gut, bin nicht aus Holz, und ein bißchen sogenannten Sex muß der Mensch ja auch haben; aber dazu reicht mein Gehalt leider nicht.

Am folgenden Tag fuhr ich abermals zum Hauptbahnhof, aber eine Stunde später, so daß meine vierundzwanzigstündige Aufbewahrungsfrist abgelaufen war. Laut Reglement würde mein Fach leer oder gesperrt sein. Es war denn auch leer.

Ich begab mich zum Handgepäckschalter und sagte: »Entschuldigen Sie, daß ich mich verspätet habe. Ich hätte gern meinen Koffer zurück. Schließfach Nummer 91. Hier die zwei Kronen Gebühr.«

Ich hatte es mit einem älteren Mann in überlangem blauem Kittel zu tun. Er musterte mich sauertöpfisch und brummte: »Den Schlüssel bitte.«

Ich kramte vergeblich in meinen Taschen und murmelte: »Das verstehe ich nicht ...«

Er sah mit der gleichen mürrischen Miene zu, während ich nochmals überall suchte.

»Ich kann Ihnen Ihren Koffer nicht herausgeben, wenn Sie den Schlüssel nicht abliefern. Woher soll ich wissen, daß er wirklich Ihnen gehört?«

»Ich kann ihn beschreiben«, erwiderte ich. »Ich kann Ihnen genau sagen, was darin ist.«

»Macht fünf Kronen«, sagte er.

»Was?« rief ich. Er konnte nicht ahnen, daß ich das Reglement gründlich durchgelesen hatte.

»Sie müssen den Schlüssel ersetzen, und das kostet fünf Kronen«, erklärte er und sah mich abwartend an.

Ich kramte einen Fünfer hervor und gab ihm das Geld. Er sagte nichts, sah mich aber immer noch erwartungsvoll an.

Ich sagte ebenfalls nichts.

Ich gewann, denn nun machte er den Mund auf.

»Wie sieht er aus?«

»Ach so, der Koffer.« Ich lächelte. »Er ist aus dunkelbraunem glattem Leder und hat an den Ecken Metallbeschläge. Er ist alt und abgenutzt. Besondere Kennzeichen hat er nicht.«

»Hm«, brummte er und schlurfte weg. Kurz darauf kehrte er mit meinem Koffer zurück.

»Ist er abgeschlossen?« fragte er und fingerte an dem einen Schloß.

»Nein«, antwortete ich.

»Was ist also darin?« Er war nicht mehr ganz so mißtrauisch.

Ich beschrieb ihm den Inhalt, worauf er den Koffer aufmachte und gleichgültig hineinschaute.

»Stimmt«, sagte er, klappte den Deckel zu und schob mir den Koffer hin. »Haben Sie einen Ausweis bei sich?« fragte er, wobei er den Koffergriff noch festhielt.

»Ja«, antwortete ich, holte bereitwillig meinen Fahrausweis hervor und reichte ihn ihm. Er verglich teilnahmslos die Fotografie mit meinem Gesicht und ließ den Koffer los.

»Sie müssen den Schlüssel zurückbringen, wenn Sie ihn finden«, sagte er, kehrte mir den Rücken und entfernte sich.

»Ja, mache ich«, gelobte ich dem Rücken, seufzte erleichtert auf und zog mit meinem Koffer ab.

Ich hatte meinen Schlüssel und mußte nun nur abwarten. Ich beschloß, sechs Wochen verstreichen zu lassen, bevor ich mich an mein Opfer heranmachte. Bis dahin war der kleine Zwischenfall mit dem Schließfach Nr. 91 bestimmt vergessen.

Nur etwas mußte ich kontrollieren, ehe ich ans Werk ging. Also fuhr ich drei Wochen später wieder zum Hauptbahnhof, um nachzusehen, ob mein Schlüssel immer noch zum Fach Nr. 91 paßte. Ja, er paßte. Es war ja auch nicht zu erwarten, daß man ein ganz neues Schloß einsetzte, wenn der Ersatz nur fünf Kronen kostete.

Weitere drei Wochen später machte ich meinen kurzen Telefonanruf. Ich hielt ein Taschentuch über die Muschel, um meine Stimme zu verstellen, und hängte den Hörer ein, ehe er sich sammeln und etwas sagen konnte. Gespannt wartete ich zwei Tage, aber es bestand keine Gefahr. Er gehorchte. Natürlich konnte ich nicht wissen, ob er die Polizei benachrichtigt hatte; aber er unterließ es. Ich war gut geschützt.

Nun kam die zweite Phase.

Ich hatte vor, ihn abermals anzurufen, doch da das Gespräch diesmal länger dauern sollte als das erstemal, war das Wagnis für mich größer, wenn ich nicht den richtigen Mann erwischte, oder wenn er sein Telefon von der Polizei hatte anzapfen lassen, so daß sie ermitteln konnte, von wo aus ich telefonierte. Deshalb traf ich auf jeden Fall Vorsorge und rief ihn von einer Telefonkabine in der Stadtbahnstation Herlev aus an. Er meldete sich sofort selbst.

»Es handelt sich um Marie Louise«, sagte ich, und ich konnte geradezu hören, wie er erstarrte.

»Ja«, sagte er heiser. »Wer sind Sie, und was wollen Sie?«

»Wer ich bin, ist unwichtig, aber ich bin im Besitz ihres Ringes«, erklärte ich, »und ich weiß, was aus ihr geworden ist.«

Er schwieg, aber ich hörte ihn schwer atmen.

»Ich verkaufe Ihnen den Ring für 10000 Kronen«, sagte ich. Da gerade ein Zug in den Bahnhof einfuhr, sprach ich rasch weiter, bevor er antworten konnte: »Ich rufe Sie in zehn Minuten wieder an. Bleiben Sie in der Nähe des Apparats.« Ich warf den Hörer auf die Gabel und stürzte zu dem Zug.

In Husum stieg ich aus, wartete ein paar Minuten, bis sich die Leute verlaufen hatten, und rief abermals an.

»Ich bin’s. Interessieren Sie sich für den Kauf?«

»Ja«, antwortete er. Er hatte jetzt seine Stimme in der Gewalt und klang ganz geschäftsmäßig. »Wie?«

»Seien Sie morgen nachmittag um fünf im Hauptbahnhof, und mieten Sie das Schließfach Nr. 91. Haben Sie verstanden?«

»Ja«, sagte er rasch, fast eifrig. »Schließfach Nr. 91. Morgen um siebzehn Uhr im Hauptbahnhof.«

»Wenn es besetzt ist, warten Sie zwei Stunden, ob es frei wird. Wenn es dann immer noch besetzt ist, verschieben wir die Sache auf übermorgen und so fort, bis das Fach einmal unbesetzt ist.«

»Und weiter?«

»Vorläufig nichts weiter. Ich melde mich in zehn Minuten wieder.«

Ich lief zum Schalter und kaufte mir eine Fahrkarte zur nächsten Station, nach Islev. Er wartete getreulich. Ich setzte meine Anweisungen fort.

»Wenn Sie das Fach Nr. 91 bekommen haben, legen Sie einen Umschlag mit zehntausend Kronen hinein. Keine neuen Fünfhundertkronenscheine. Gemischte Banknoten, keine Serien. Und Sie können es sich gern ersparen, die Banknoten zu numerieren – so dumm bin ich nicht.«

»Nein, nein«, erwiderte er. »Wenn ich nur den Ring bekomme. Welche Garantie habe ich, daß ich den Ring bekomme?«

»Keine.« Ich grinste vor mich hin. Ich sah ihn im Geist schwitzen. »Dann schicken Sie mir den Schlüssel sorgfältig verpackt. Haben Sie etwas zum Schreiben da?«

»Ja.«

»Gut. Also schreiben Sie: An E. Albertsen, Dyremosen 44, Charlottenlund. Geben Sie die Absenderadresse deutlich an. Verstanden?«

»Ich hab’s notiert.«

»Die Adresse gibt es nicht, aber ich habe eine besondere Abmachung getroffen, daß ich den Schlüssel erhalten werde. In zehn Minuten hören Sie wieder von mir.«

Weiter ging es nach Jyllingevej. Ich verbrauchte eine Menge Kleingeld fürs Fahren und viele Fünfundzwanzig-Öre-Münzen, aber es war ja für einen guten Zweck.

Für mich!

Wir setzten das Gespräch fort, als ob keine Unterbrechung stattgefunden hätte.

»Ich hole mir dann das Geld, lege den Ring ins Schließfach, werfe eine Krone ein, um die Frist zu verlängern, und schicke Ihnen den Schlüssel zurück.«

»Sie lassen mir nicht viel, woran ich mich halten kann«, sagte er.

»Nein, aber es bleibt Ihnen keine Wahl.«

»Das ist wahr«, flüsterte er beinahe. »Ich werde tun, was Sie sagen. Aber war ist mit den Kleidern? Sie haben wohl auch ihre Kleider, die ich Ihnen später abkaufen muß?«

»Nein, ich habe sie nicht«, entgegnete ich. »Ich habe nur ihren Ring und noch einen Hinweis, der ohne den Ring nicht viel wert ist.«

»Ich muß Ihnen notgedrungen glauben.«

Da ich nicht die Absicht hegte, ein mehr oder minder vertrauliches Gespräch zu führen, sagte ich abschließend: »Hauptbahnhof morgen um siebzehn Uhr. Schließfach Nr. 91. Zehntausend Kronen«, und hängte auf.

Ich muß gestehen, daß ich mich am nächsten Tag mit großer Spannung im Hauptbahnhof auf eine Bank setzte, von der aus ich das Schließfach Nr. 91 im Auge behalten konnte. Vorher hatte ich nachgesehen. Das Fach war nicht besetzt, und ich hoffte, daß er bald kommen würde, ehe ein anderer es mit Beschlag belegte.

Er kam pünktlich. In der Hand hatte er ein Päckchen. Es hätte eine Schachtel Pralinen oder ein Paar flache Sommerschuhe enthalten können, aber ich wußte es besser. Darin waren meine 10000 Kronen. Die erste Abzahlung für einen Mord. Nur eine bescheidene Abzahlung.

Er suchte die Schließfächer ab, bis er Nr. 91 fand. Offenbar hatte er noch nie ein solches Fach benutzt, denn wie ich las er zuerst die Gebrauchsanweisung. Hierauf legte er das Päckchen hinein, bezahlte und schloß ab.

Er holte einen Plastikbeutel hervor, tat den Schlüssel hinein, verschloß ihn mit zwei Büroklammern und steckte ihn in einen Umschlag. Es war kein gewöhnlicher Briefumschlag, sondern ein sogenanntes Musterkuvert. Er blickte sich nach einem Briefkasten um. Als er keinen fand, begab er sich suchend zur Ankunftshalle.

Er kam so dicht an mir vorbei, daß er fast über meinen Fuß gestolpert wäre. Ich schaute gleichmütig auf, als er auswich; aber er beachtete mich gar nicht. Er sah auf den ersten Blick ruhig und gefaßt aus; doch wenn man Bescheid wußte, hatte er doch etwas Gehetztes an sich. Er bewegte sich ruckweise, ungefähr wie ein Huhn, das auf der Erde Körner sucht.

Ja, ich hatte ihn in der Hand.

Das verlieh mir ein gewisses Gefühl der Zufriedenheit, vom Geld ganz abgesehen. Ich begann die Machtgier zu verstehen, die den Menschen in der Weltgeschichte getrieben hat, andere rücksichtslos auf dem Altar der Macht zu opfern, um dieses angenehme Gefühl zu erleben. Ich war hoch aufgestiegen.

Ich verlor ihn aus den Augen. Ich erhob mich, ging hin und schloß das Fach Nr. 91 auf, holte das Päckchen mit dem Geld heraus und legte den Ring hinein. Ich hatte ihn in einen Schuhbeutel verpackt, damit es nicht merkwürdig aussah, wenn die Aufbewahrungsfrist ablief, bevor er seinen Brief zurückerhielt und das Schließfach geöffnet und geleert wurde. Es ging nicht an, daß nur ein in Seidenpapier eingewickelter Ring darin lag.

Den Brief würde er nämlich mit dem Vermerk »Adressat unbekannt« zurückbekommen.

So einfach war das Ganze.

Das Päckchen mit dem Geld steckte ich in meine Mappe, und dann fuhr ich mit dem Zug nach Hause. Ich zählte die Geldscheine und schmiedete meine Pläne, ehe ich zu Bett ging.

Die zweite Leiche

Подняться наверх