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Оглавление[12][13]1. Zur Sinnerfahrung und zum Umgang mit Religion
Den Blick auf allgemeine Strukturen der heutigen Sinn- und Religions-Problematik voranzustellen, widerspricht in gewisser Hinsicht dem Grundsatz dieser Arbeit, welche dem Leser verdeutlichen möchte: Hier geht es nicht um etwas Abgehobens, sondern um Deinen Lebensalltag. Eine Arbeit über den Lebenssinn sollte daher konkreter beginnen. Doch es schien mir noch wichtiger, dem Leser einen generellen Verständnishorizont für das darauf Folgende zu ermöglichen.
1.1 Probleme der Sinnerfahrung heute
Sinnerfahrung beginnt bei alltäglichen gleichsam ‚technischen‘ Vorgängen. Um die Stoppeligkeit der männlichen Kinnpartie zu reduzieren, macht es Sinn, sich zu rasieren. Um den Teppich einigermaßen staubfrei zu erhalten, macht es Sinn, einen Staubsauger einzusetzen. Wenn man geschäftlich viel unterwegs ist, erweist sich ein eigenes Auto vielleicht als sinnvoller als die Abhängigkeit von Fahrplan und Streiks der Deutschen Bahn. Das Ziel der Reduzierung des CO2-Ausstosses, um die Erderwärmung zu begrenzen, weist fast schon in eine andere Sinndimension, die sich nicht mehr auf den unmittelbar erfahrbaren Kausalbezug von Maßnahmen als Mittel zum Erreichen wünschenswerter Zwecke begrenzt, sondern Entscheidungen aus weltweiter Verantwortung voraussetzt.
1.1.1 Was ist Sinn?
Der Versuch einer Beantwortung dieser Frage führt zu einer Vielfalt von Bedeutungsrichtungen. Sinn ist das, was eine spezifische Gruppe, Gemeinschaft, Gesellschaft oder Tradition für sich als Sinn festgelegt hat, heute mehr denn je aber auch das, was der Einzelne – nicht frei von diesem Angebot – für sich selbst als Sinn ausgewählt und akzeptiert hat und als Sinn in seinem Leben erfährt.
Ein Lexikon wie Meyers (2003, Bd. 21, S. 6890) definiert Sinn als
„die Bedeutung bzw. der Wert einer Sache, eines Vorgangs, eines Erlebnisses für jemanden oder etwas, daneben auch gleichbed. mit Zweck, Funktion […]. Sinnvolles Handeln strebt einem Ziel zu, das selbst einen Wert darstellt“.
[14]Ein Blick in das Duden Synonymwörterbuch (2007, S. 796 f.) mag einen ersten Hinweis auf die Vielschichtigkeit dieses Begriffes andeuten. Hier erscheinen: Nutzen, Wert, Ziel, Zweck; Bedeutung, (Sinn)gehalt; Bewusstsein, Denkart, (Grund-)Einstellung, Gesinnung, Lebensanschauung, Wesen; Empfinden, Geschmack, Verständnis und Wahrnehmungsfähigkeit.
Zum Teil weniger abstrakt haben Essener Studenten 1983 auf die Frage, was „Sinn“ eigentlich sei, geantwortet (schriftl. Befragung; vgl. Bohnsack 1984, 5): 1. Sinn = Bedeutung: Bedeutung, Gehalt, Lebensinhalt. Wissen, wofür und warum man etwas macht. Begründung, Hintergrund-Zusammenhang. 2. Sinn = Ziel: Wissen, was man will, wo es lang geht, Verwirklichung einer Vorstellung, Lebensperspektive. 3. Sinn = Zweck: Funktion, Nutzen, Effektivität. Lohnt es sich? 4. Sinn = Motiv: Für wen und was setze ich mich ein und warum? 5. Sinn = Zufriedenheit, Sicherheit, Identität.
Heutige Studenten könnten sich ähnlich äußern.
Das Sinn-Streben richtet sich auf Sicherung und Steigerung der Existenz, in Industrienationen vor allem in der Befriedigung durch Arbeit und Konsum. Eine europaweite Untersuchung ergab folgende Reihenfolge der (abnehmenden) Bedeutung von Aspekten der Berufsarbeit:
– | gute Bezahlung |
– | nette Arbeitskollegen |
– | interessante Tätigkeit |
– | Sicherheit der Anstellung |
– | Passung zu eigenen Fähigkeiten |
– | Ermöglichung von Leistung und eigener Initiative sowie Mitverantwortung |
– | gesellschaftlich anerkannte und geachtete Tätigkeit |
– | Aufstiegsmöglichkeiten etc. |
„Der Anteil der Menschen, die ihr Leben für sinnlos halten, ist in Europa sehr niedrig“. Als wichtig erlebt werden tägliche Lebensbedingungen wie Gesundheit, ökonomische Sicherheit, stabile und liebevolle Beziehungen (Zulehner/Denz 1993, 139, 241). Angesichts der Unsicherheiten (Kontingenz) der Alltagsbewältigung strebt der Mensch nach „Kontrolle“ und Bewahrung von „Selbstachtung“ (Hanisch 2000, 157). Und das Bemühen, nach dem Entdecken von Belanglosigkeit in der Vielseitigkeit des Interessanten den Schein des Vordergründigen, Oberflächlichen, Vorläufigen zu tieferer Sinnerfahrung zu durchdringen, ist immer noch nicht ganz verdrängt und vergangen, sondern offenbar wieder „im Kommen“ (so Mynarek schon 1983, 83 f.).
Das besagt aber auch: Neuzeitliche Entwicklungen haben die Sinn-Problematik verändert und verschärft. Comenius etwa ging noch von einer umfassenden einheitlichen göttlichen Schöpfungsordnung aus, welcher eine [15]Sinn-Ordnung entsprach, die weder historisch als veränderlich noch als durch „Partialpraxen“ begrenzt angesehen wurde. Sinnvoll war menschliches Leben in dem Maß, wie das Individuum sich dieser Seinsordnung einfügte und ihrem Auftrag folgend handelte (Hanisch 2000, 166; Wollersheim 2000, 98 f.). Die neuzeitliche Einsicht in die globale Verschiedenheit der Sinnsysteme und Akzeptanz dieser Differenzen als prinzipiell gleichberechtigt – zentrales Vorzeichen des Pluralismus – verhindert die Rückkehr zu einer uniformen Sinnordnung, wenngleich z.B. Versuche, die Scharia weltweit durchzusetzen, weiterhin oder erneut ihre Absolutheitsansprüche verteidigen.
Darin kommt eine menschliche Grundhaltung zum Ausdruck. Die Vielfalt des Pluralismus hat die seit jeher bestehende Unsicherheit dieser Welt zur Desorientierung erhöht: Angst motiviert zum Streben nach einer umfassenden Sinn-Sicherung, nicht nur invividuell für sich selbst, sondern bestätigt durch die Gleichartigkeit der Anderen. Es geht dabei um einen Kampf um die (innere) ‚Heimat‘, auf deren Grundlage die Belastungen dieser Welt bewältigt werden sollen. Doch eben diese individuelle Sinn-Integration bzw. -Kohäsion, die Entwicklung von Selbstkonsistenz, vor welcher der Einzelne heute steht, wird erschwert durch die divergierenden Anforderungen aus seiner Umwelt: Gesellschaftliche Bereiche wie Wirtschaft (Konkurrenz, Profit, Wachstum), Politik (Macht), Verwaltung, Recht, Familie oder Kirche haben ihre unterschiedlichen Sinnordnungen, welche jeweils das Handeln bestimmen und die der Notwendigkeit der persönlichen integrierenden Identitätsbildung entgegenstehen (nach Luckmann). Der Sinn betrifft Gegenwart und Zukunft. Die letztere aber wird gefährdet, wenn etwa das „Wachstum“ weiterhin die Umwelt oder das Machtstreben (Atomkrieg) die Welt zerstört. Die Bedrohung ihrer Zukunft, auch durch die gesellschaftliche Verschuldung, wird insbesondere von Jugendlichen als Sinnverlust erlebt.
Auch in früheren Jahrhunderten homogenerer Sinnordnungen hat es Unterschiede individueller Sinnbesetzung und Sinntiefe gegeben. Die Möglichkeiten eines Ausweichens vor einer vertieften Sinnerfassung sind jedoch deutlich gestiegen. Vielfach misslingt die subjektive Beherrschung und Begrenzung der Informationsflut mit ihrer Inflation von Identifikationsangeboten, der Einflüsse von Werbung, Kauf- und Freizeitofferten, politischer Propaganda, der drogenhaften Abhängigkeit von Fernsehen, Laptop, Smartphone oder auch Diskothek, Videothek, Fußballplatz. Die zwanghafte Sinnsuche heftet sich an den gesellschaftlichen Status und Aufstieg in der sozialen Hierarchie, repräsentiert durch die entsprechende Automarke, also an das Besser-Sein als andere – meist auf deren Kosten. Aus der Ruhelosigkeit des Nie-am-Ziel-Seins mutiert der Beruf zur Erfolgssucht und endet heute für manche Beobachter rasant zunehmend im Burnout und nicht selten (nach Friedman/ Rosenman, 1975, Typ A) mit dem Herzinfarkt. Und die atemberaubende Beschleunigung, welche fast alle Gesellschaftbereiche und Lebensaspekte ergriffen hat und durchdringt, lässt sich auch verstehen als Flucht vor der aus[16] der Oberflächlichkeit resultierenden Sinn-Leere. Die Beschleunigung verbindet sich mit der narzisstischen Sucht nach Größe und Stärke und der Verachtung von Schwäche, mit der Gewalt gegen diese und im Amoklauf und Suizid auch gegen sich selbst. Erich Fromm sprach von der „Rache des ungelebten Lebens“ (zitiert bei von Hentig 1979, 51). Spätere Partien dieses Bandes gehen auf solche Fehlwege des Ringens um den eigenen Lebenssinn und des Ausbrechens aus der Sinn-Problematik näher ein.
1.1.2 Zur Entstehung von Sinn
Über die Entstehung von Sinn deutete sich im Vorstehenden einiges an. Beim Kleinkind entsteht erlebter Sinn aus seinen unmittelbaren Bedürfnissen, etwa nach Zuwendung, Wärme, Nahrung, Versorgung; und aus seiner praktisch zugreifenden ‚Eroberung‘ seiner Umwelt (detaillierter Nipkow 2000 und die dort angegebene Literatur). Solcher Sinn differenziert sich mit der kindlichen Entwicklung und Welterfahrung, aber auch mit den Widerständen und Enttäuschungen, die der Heranwachsende von Anfang an bewältigen muss. Dabei ist auch die Bildung von Neurosen als Kampf um Sinnhaftigkeit deutbar (vgl. Miller 1983; dazu Näheres im 7. Kapitel). In diesem Entwicklungsprozess werden neue Erfahrungen zunehmend auf frühere eigene und auf in der umgebenden Kultur deponierte Problemlösungen und Werte bezogen – das heißt auf die bei allem Pluralismus weiter bestehende jeweils lokale Matrix aus Erwartungen, Gewohnheiten, Sitten, Ritualen und Techniken, welche das individuelle Verhalten beeinflussen und ihm Sinn geben bzw. stimulieren, Sinn zu schaffen. Doch außer dem gesamtgesellschaftlichen Sinnkonsens ist auch der Konsens dieser einzelnen „Sinngemeinschaften“ heute bedroht, weil die „geistigen Zäune“, mit denen sie ihren Fortbestand zu schützen suchen, „niedriger und löchrig“ werden: Und durch die „Löcher“ wird man gewahr, dass auch Anderes möglich ist (Wollersheim 2000, 104).
Dabei entwickelt sich Sinn in und mit den Aufgaben, die das Leben einem jeden stellt und an denen sein Sinn-Erleben wächst oder zerbricht. Er scheitert nicht nur an Schicksalsschlägen, sondern auch, wenn er sich mit seinen Aufgaben übernimmt und zur Marionette übersteigerter Ansprüche wird (diese Gefahr habe ich am Beispiel von A.S.Makarenkos Kollektiv aufgezeigt; Bohnsack 2003, 13-53). Diese Versuchung liefert nicht nur, wie erwähnt, die Berufswelt, sondern auch die Schule mit ihrer vielfach von den Betroffenen als letztlich sinn-leer erlebten Beschleunigung in der „Erledigung“ der abprüfbaren „Stoff“-Fülle, während es an Erfahrungen mit persönlich und/oder gesellschaftlich ernstzunehmenden und insofern als sinn-voll erlebten Aufgaben, Selbsterprobungen und Bewährungen mangelt. Die Stabilisierung der Personen erscheint höchstens im Sport- und Religionsunterricht als Zielsetzung, andere Möglichkeiten durch „Aufbauende Kräfte“ in den verschiedenen Facetten von Unterricht und Schulleben (vgl. Bohnsack [17]2009) werden kaum ausgeschöpft. Stabilisierung und Sinnentwicklung sind zwei Seiten desselben Vorgangs.
Der Sinn von Schule gründet sich auf der Annahme, dass institutionalisiertes Lehren und Lernen zur Sinnentstehung und -vertiefung beiträgt, d.h. Bildung bewirkt. In einer gewissen Analogie zum Bildungsprozess ist verschiedentlich versucht worden, eine progressive Entwicklung von biographischen Sinn-Entwicklungen fest- und aufzustellen. Jean Piaget wurde dabei zu einer Art Vorbild mit seinen Untersuchungen zur moralischen Entwicklung des Kindes, Lawrence Kohlberg folgte mit seiner einflussreichen Aufstellung von Stufen der sittlichen Entwicklung, James W. Fowler (1981, deutsch 2000) mit seinen „Stages of Faith“ und Fritz Oser und Paul Gmünder (1988) mit ihren Stufen der religiösen Urteilsfähigkeit des Menschen. Kohlberg, Fowler und Oser strebten dabei jeweils eine formal-universale Stufenfolge, jenseits des Pluralismus, an, blieben jedoch in mancher Hinsicht der abendländisch-christlichen Tradition verhaftet.
Fowler stellte 6 Stufen auf, vom kindlichen Urvertrauen zu einer zunehmenden Glaubenssouveränität, welche die Abhängigkeit vom Urteil und Verhalten anderer ebenso relativiert wie sie die angstbesetzte Fixierung auf die eigene konfessionelle Herkunft mildert. Die 5. Stufe dieser Entwicklung bringe, so Fowler, u.a. die Einsicht, dass jede Konfession partikular ist und der Ergänzung durch andere Perspektiven bedarf. Und die 6. Stufe erreicht eine „Einheit des Seins“, die auch (christlich) als „Reich Gottes“ bezeichnet wird (Fowler 2000, 223). Oser und Gmünder sehen ebenfalls einen Progress von einer Heteronomie gegenüber dem „Letztgültigen“ (Gott) zu einer Autonomie. Diese verdankt sich dem Einklang mit dem Absoluten, erreicht also eine zunehmende Überwindung der Furcht, dass das Absolute direkt und willkürlich in menschliches Leben eingreift, verbunden mit dem wachsenden Vertrauen, dass es auch bei schweren Belastungen trägt. Zugleich erreicht diese 5. und letzte Stufe von Oser/Gmünder eine „universale Solidarität mit allen Menschen“ – eine Qualität, die sich auch in buddhistischen Erleuchtungen zeigt, wie das 5. Kapitel dieses Bandes näher darlegen wird. Die Transzendenz wird dann erfahren als immanent, d.h. Gott als gegenwärtig in allem menschlichen Tun (auch Buddha ist in jedem und allem präsent).
Diese Konzepte setzen voraus, dass der Weltzusammenhang und Weltsinn auf jeder Entwicklungsstufe anders erfahren und gedeutet wird, die menschliche Biographie also aus einer „Abfolge sich wandelnder Sinnwelten“ besteht (Schweitzer 1992, 244-246). Während diese Sinnentwicklung bei Fowler und Oser theologisch und auch christlich orientiert ist, hat Ludwig Duncker (2000) eine stärker pädagogische Stufenfolge aufgestellt. Danach erscheint „sinnerschließendes Lernen“ 1. als zweckrationales Denken, welches plan- und berechenbar, ökonomisch, effizient und ohne Umwege mit gegebenen Ressourcen seine Ergebnisse erreicht; 2. als Reflexion darüber, d.h. in Sprache und Begrifflichkeit, welche diese Sinnzusammenhänge, also[18] auch die Welt, gleichsam „lesbar“ machen; 3. als ästhetischer Ausdruck solcher Sinnerfahrungen im Bild und in den Künsten; 4. auf einer Metaebene als Argumentation über Kategorien zur Beurteilung der Sinn-Problematik selbst und als Einsichten in Wertvorstellungen und Sinntiefe (auch Moralität) menschlichen Handelns (Duncker 2000, 186-189, 191-193).
Dazu ebenso wie zu den zuvor genannten Stufenfolgen fragt es sich, wie weit eine solche zunehmende Blickerweiterung, aber auch Abstraktion, eine Stärkung der Personen und ihrer Stabilität mit sich bringt. Und es fragt sich, wie weit die in den Sinnstufen gegenwärtige Bildungshierarchie sich mit einer gleichen Würde der einzelnen Stufen verbinden lässt: Jesus errichtete eine umgekehrte Hierarchie, wenn er seinen Jüngern – von den „Schriftgelehrten“ zu schweigen – die Kinder als Vorbild vorstellt (Matth. 5,3; Mark. 10,15; Luk. 18,17). Und unter den Erwachsenen wählte er die Fischer und Zöllner, eben nicht die „Schriftgelehrten“ aus: Er wusste offenbar, dass mit der Gelehrtheit nur zu leicht die existentielle Unmittelbarkeit verloren geht – wenn erstere nicht von Anfang an eine Flucht vor der letzten Betroffenheit war. Damit steht die Sinn-Entwicklung vor der Problematik, die Kleist in seinem „Marionettentheater“ ansprach: Wie lässt sich nach der Vertreibung des Menschen aus dem „Paradies“ der Unmittelbarkeit in die Bewusstheit und der Unmöglichkeit einer Rückkehr eine bewusste Unmittelbarkeit gewinnen? Solche Fragen stellen sich noch eindringlicher im Blick auf die Stufentheorie von Klaus Giel (2000) und werden im 5. Kapitel bei der Darstellung des Buddhismus wieder aufgenommen.
Giel unterscheidet 3 Stufen der „Erweiterung des Sinnhorizonts“. 1. Die sinnliche (er nennt sie auch „ästhetische“) Wahrnehmung der Welt ist von individuellen Voraussetzungen und situativen Bedingungen abhängig und daher für ihn zufällig, oberflächlich und partikular und liefert „Scheinsicherheiten“, z.B. in der Lebenswelt der Kinder (Giel 2000, 62 f., 78). 2. Mit der Versprachlichung, etwa in der Schule, werden empirische Befunde in theoretische Zusammenhänge gestellt und erst dadurch zu Wissen (a.a.O.85). Im Studium werden die Dinge aus dem „Strom der Zeit gelöst“ und gewinnen eine „ ‚Abgeschiedenheit‘ von der Lebenswelt“ (a.a.O.60). Die dabei benutzten Texte erschließen die Wirklichkeit jenseits der lebensweltlichen und lebensgeschichtlichen Zufälligkeit und setzen eine „sachliche […] Dignität und Verbindlichkeit der Erfahrung“ frei (a.a.O. 63), der „Vergänglichkeit enthoben“ (a.a.O. 62): „Die Schule kennt keine unvermittelte Gegenwart der Dinge und der anderen Menschen“ (a.a.O.78). 3. Die Wissenschaft repräsentiert für Giel die „prinzipiell ‚abwesende‘ […] Wirklichkeit“ (a.a.O.79), und zwar deshalb, weil sie Irrtümer und Unsicherheiten (Kontingenz) des unmittelbaren Lebens auf eine eindeutige Wirklichkeit reduziert (a.a.O. 85).
Giels Ansatz zwingt zur Entscheidung, was als „Wirklichkeit“ und als Sinnvertiefung zu verstehen ist. Wie Jesus die Sinn-Hierarchie umdrehte und bevorzugt den Kindern den Zugang zum „Reich Gottes“ zusprach, so dreht[19] die biblische Tradition, wie sie für mich heute etwa Martin Buber ansprach, die Gewichtung von Unmittelbarkeit und Wissenschaft um: Für Buber erschließt sich tieferer Sinn nicht durch Theorie, auch nicht durch platonische theoria, mit der Giel offenbar sympathisiert, sondern in der „Du“-Beziehung, d.h. in der existentiellen Begegnung, also der Einmaligkeit und Vergänglichkeit der Situation, welche für ihn nichts Zufälliges hat, sondern den Gehalt, den Sinn der göttlichen Offenbarung anbietet. Und Giels Schultheorie (siehe das obige Zitat) scheint zu übersehen, dass Schule, zumindest für die meisten Schüler, nur erträglich wird im Ausmaß von Erfahrungen mit „unvermittelte[r] Gegenwart der Dinge und anderen Menschen“, der Mitschüler und Lehrer und ihrer Zuwendung (vgl. Bohnsack 2013).
Wissenschaftliche Erkenntnisse vermögen Sinnbezüge aufzudecken, welche die alltägliche Wahrnehmung nicht erfasst. Und die Komplexität hochindustralisierter und computerisierter Gesellschaften erfordert differenziertere Erkenntnis- und Steuerungskompetenzen und entsprechende Sinnbindungen als die von Kindern und Jesu Fischern – für Buber Fähigkeiten der Problembewältigung in dem, was er „Es“-Welt nannte. Das weist auf deren höchst komplexe Sinnstrukturen. Aber die letzte Sinnorientierung – gleichsam das „Himmelreich“ – zeigt nicht auf die Wissenschaft, wie der 2. Teil dieses Kapitels verdeulichen wird.
Die uralten Fragen: Wozu leben wir? Was trägt uns – auch im Angesicht von Leiden, Schicksalsschlägen und Tod? – lassen sich kaum durch Reduktion auf Wissenschaft beantworten: Die „Einwurzelung“ (Simone Weil) muss schon tiefer gehen. Früher lieferte diese die Religion. „dein Glaube hat dir geholfen“, heißt es im Neuen Testament. Hubertus Mynarek (1983) hat Menschen nach ihrem letzten Ziel gefragt, das sie als „religiös ohne Gott“ verstanden. Sie geben etwa an: „das existentielle Einschwingen in die Totalität des Seins“; das Sich-gebunden-, -angesprochen- und -verpflichtet-Fühlen durch das Universum; die Gewissheit, in eine „größere Wirklichkeit eingebettet und durch sie geführt zu sein“; ein „Objekt und Subjekt zusammenschmelzendes Einheitsbewußtsein“ (a.a.O. 81, 103, 125, 204). Es ist vielleicht kein Zufall, dass solche Formulierungen an Sinn-Orientierungen im Buddhismus und Taoismus erinnern. Sie bleiben oft auch unbewusst, jedenfalls unausgesprochen, bestimmen aber sichtbarere Engagements, wie etwa den Einsatz für Freiheit und Demokratie (John Dewey), für Rechte der Farbigen (Martin Luther King: „I have a dream“), gegen ein totalitäres System (Geschwister Scholl), für Bedürftige und Kranke (Mutter Teresa, Albert Schweitzer) und unzählige mehr (vgl. Englert 1993b). Viele andere Menschen finden ihren Lebenssinn in der wortlosen Pflichterfüllung am Arbeitsplatz oder in der Erziehung ihrer Kinder.
Der Sinn-Begriff ist also vielfach unterschiedlich gefasst worden. Man kann ihn eingrenzen auf Erkenntnis, etwa von bleibenden oder doch relativ stabilen Erfahrungs-Resultaten, Erfahrungs-Mustern und Gestalten („Gestalt- [20] psychologie“). Auch ein solches Wissen ist nicht wie ein Paket übertragbar, sondern wird im Lernprozess modifiziert und insofern selbst erzeugt. Das Ausmaß variiert dabei mit den jeweiligen Inhalten: historische Daten oder englische Vokabeln kann man mitteilen und relativ unverändert aufnehmen, das englisch Sprechen erfordert jedoch „Sprachgefühl“; letzte Sinn-Orientierungen, wie sie oben genannt wurden, lassen sich zwar verbal präsentieren, werden jedoch zu Sinn erst als Ergebnis eines längeren oder lebenslangen Erfahrungs- wenn nicht Leidens-Prozesses, oft ‚infiziert‘ durch den überzeugenden Einfluss als bedeutend erlebter Menschen, deren Seins-Vertrauen selbst im schulischen Unterricht „mitgelesen“ (von Hentig 1984, 117) wird. In dieser Hinsicht hat Sinn immer eine emotionale, eine existentielle Basis, welche sich der bloßen Machbarkeit durch andere wie durch sich selbst entzieht.
Zum gerade erwähnten Seins-Vertrauen bringt diese Arbeit ein eigenes, das 2. Kapitel. Im Vorgriff darauf sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass dieses Vertrauen jene Universalität anvisiert, die Fowler und Oser nicht recht gelang, und keine konfessionelle Bindungen eingeht, wenn es diese auch individuell keineswegs ausschließt. Es findet sich bei Kindern ebenso wie bei Jesu Fischern, transzendiert also die üblichen gesellschaftlichen und Bildungs-Hierarchien. Ohne das grundlegende Vertrauen, dass die Welt auf die Frage, ob unser Bemühen in ihr insgesamt auf Kooperationsbereitschaft trifft, eine positive Antwort gibt, ist sinnvolles Leben und Handeln angesichts ihrer Belastungen nicht möglich. Dann führen alle Anstrengungen zu planvollem Vorausdenken und Entscheiden am Ende in die Vergeblichkeit, Verkrampfung und das Scheitern, wie John Dewey dargelegt hat. Näheres dazu spricht das 2. Kapitel an.
1.1.3 Ausblick auf Sinn-Probleme der Jugend und der Schule
Seit den 1980er Jahren ist eine ganze Reihe von Untersuchungen zur Sinn-Problematik der Jugendlichen erschienen (z.B. Jörns/Großeholz 1998; Feige/Gennerich 2008). Das soll hier nicht referiert werden. Im vorliegenden Zusammenhang genügt ein Hinweis, dass die „postmaterialistische“ Orientierung an „Selbsterfüllung, Kreativität, Lebensgenuss und auch Hedonismus“ seit der Jahrhundertwende zugunsten stärker „materialistisch[er]“ Werte wie Sicherheit, Ordnung, Fleiß und Konzentration zurückgetreten ist, eine Entwicklung, welche u.a. aus der Gefährdung der wirtschaftlichen und beruflichen Zukunft erklärt wird (Shell 2010, 47). Die als „pragmatisch“ gekennzeichneten Jugendlichen zwischen 12 und 25 Jahren reagierten gleichsam anti-phobisch mit persönlichem Optimismus und gesellschaftlicher Skepsis, jedenfalls leistungs- und erfolgsorientiert.
50-60 % dieser Jugendlichen surfen im Internet, treffen sich mit „Leuten“, hören Musik und sehen fern (a.a.O. 96). Aber 70 % haben Angst vor [21]Armut, 62 % vor Arbeitslosigkeit, 61 % vor Terroranschlägen, 60 % vor Umweltverschmutzung, 57 % vor Klimawandel (a.a.O. 119). Wichtig ist ihnen zu 78 % gesund zu leben, zu 69 % der Lebensstandard, zu 59 % das Umweltbewusstsein, zu 58 % Benachteiligten zu helfen, zu 55 % eigene Bedürfnisse durchzusetzen, zu 54 % die Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen, zu 37 % an Gott zu glauben, zu 14 % das zu tun, was die anderen auch tun (a.a.O. 203). Sehr ausgeprägt ist die Hochschätzung von personalen Beziehungen und deren Sicherheit. 95 % stimmen dem Statement zu: „Im Leben braucht man Menschen um sich herum, denen man unbedingt vertrauen kann“ (a.a.O. 214). Bei Lebensproblemen werden „immer“ zu 31 % die Freunde, zu 19 % die Eltern herangezogen, „öfter“ zu 48 % bzw. 42 % (a.a.O. 228) Die Veränderungen gegenüber der Shell-Studie von 2002 sind gering, mit Ausnahme der rasanten Steigerung des Gebrauchs von Computern (von 26 % auf 59 %; Shell 2010, 96) und Smartphones.
Das alles schließt natürlich nicht aus, dass für etliche der Teddybär, die Hauskatze oder das Reitpferd zum Sinn-Geber werden; oder die Markenkleidung und das „toll Aussehen“; oder die Freude am Flirten und Shoppen; aber auch Aktivitäten in Vereinen oder kirchlichen Gruppen, der Einsatz für hilfsbedürftige alte Menschen, Behinderte oder für den Umwelt- und Tierschutz, die Menschenrechte oder die Dritte Welt. All diese Sinngebungen sind als reale Aspekte der jugendlichen Lebenswelt ernst zu nehmen: sie verhindern wenigstens vorübergehend die Sinn-Leere und Sinn-Losigkeit, auch wenn eine Neigung zum Ergreifen der nächstliegenden gegenwärtig absorbierenden „action“ vielfach als Flucht vor einer Sinnvertiefung verstanden werden kann. Nicht angesprochen werden in der gegenwärtigen Diskussion zur Sinn-Problematik gewichtige Hintergründe und Einflüsse, etwa auf Hoffnung und Ängste, welche aus frühkindlichen Lebenserfahrungen und Verletzungen resultieren, psychoanalytische Perspektiven und Zusammenhänge also. Auch das lässt sich als eine Flucht deuten. Das 7. Kapitel kommt darauf zurück.
Auch in der Schule werden solche Perspektiven selten aufgedeckt, psychoanalytische Hintergründe also eher weiter verdrängt. Die bewussten Erfahrungen von Sinn und Unsinn in der Schule vollziehen sich fast ausschließlich auf anderen Ebenen. Für viele Schüler ist schulisches Lehren und Lernen sinnvoll als Vorbereitung ihrer beruflichen Zukunft. Doch die ‚Passung‘ dieser schulischen Gegenwart auf die Zukunft wird immer problematischer. Die Anforderungen der Berufswelt werden spezialisierter und komplexer, eine schulische Vorbereitung trotz aller Exemplarität (vgl. Klafki: Exemplarisches Lernen) schwieriger. Zudem verliert das Motiv der Vorbereitung auf die Zukunft auch dadurch an Substanz, dass die einst sichere Relation von Abschluss und Anstellung sich auflöst, zugleich aber immer höhere Abschlüsse gefordert werden. Auch ökologisch (Umweltzerstörung) und politisch (zunehmende Bedrohung durch Krieg und Atombombe) geht[22] den Heranwachsenden, wie erwähnt, die Sinn-Gebung durch Zukunft verloren.
Angesichts eines derartigen Szenarios wirken manche schulischen Maßnahmen und wohlmeinende Reformen eher wie ein Stühlerücken an Deck beim Untergang der Titanic. An sich ist es durchaus sinnvoll, in Zeiten gesellschaftsweiter Individualisierung den traditionellen ‚Lerngleichschritt‘ weiter zu beschränken und individuelle Lernzugänge nicht nur zu ermöglichen, sondern grundsätzlich vorzubereiten und zu eröffnen; und dementsprechend Ergebnisse der Fachwissenschaften nicht zu verkünden, sondern mit Hilfe von Lebenserfahrungen und Interessen der Schüler handlungsbezogen zu entwickeln (z.B. durch „entdeckendes Lernen“). Dabei vermögen nicht nur ‚passende‘ Inhalte zu stimulieren, sondern auch die Beobachtung, wie sehr der Lehrer „durch seine Person überzeugt, daß dieser Gegenstand für einen heute lebenden Menschen – z.B. für ihn – wichtig ist und Folgen hat“ (von Hentig 1984, 112). Auf Seiten der Schüler heißt das, diese müssen Themen und Inhalte „mit konstruieren“ (Nipkow 2000, 24). Nur so wird der implizite Sinn erfahrbar und übernommen. Im Ausmaß, wie das geschieht, nimmt das Verhalten des Lehrers eher Merkmale des Begleitens als solche des Belehrens an. Soweit der Schüler vom Belehrungsobjekt zur Person wird, wandelt sich auch der Lehrer vom Funktionsträger zum „Menschen“, den manche Schüler statt des „Lehrers“ erwarten (vgl. Bohnsack 2013, 122). Aber: Schule ist Pflicht – wie weit führt Zwang zu Sinn?
Wilhelm Flitner versprach sich Bildung aus der Teilhabe an gemeinsamen „Lebensformen“ (vgl. dazu das 6. Kap.). Solche indirekten Vermittlungen von Sinn gelten auch im Pluralismus. Individualisierung bedeutet nicht notwendig Isolierung, sondern (etwa nach Martin Buber) Einmaligkeit und Verbundenheit. Schule vermittelt zwischen Familie und Gesellschaft, damit auch zwischen Personalität und apersonalen Strukturen in Wissenschaft, Technik, Wirtschaft etc. Ebenso wie diese läuft die Schule heute Gefahr, ihre menschliche Substanz zu verlieren. Im Bild: die Titanic geht unter. Person bedeutet nicht nur deren Einmaligkeit, sondern auch die der Situation: existentiell erlebt ist jede anders. Dieser Situativität zu entsprechen, auf sie ‚ant-worten‘ zu können, erfordert Bereitschaft zum Neuen, zum Unvorhersehbaren, auch zum Risiko, und Kreativität – und Unterricht verlangt damit, statt nur Bescheid zu wissen, die Begegnung mit Überraschendem, auch mit Paradoxien. Dazu passen wenig die Funktion der Schule als Aufstiegsinstrument und Statusvermittler und auch der industrielle 45-Minuten-Takt, die einseitige Dominanz des Frontalunterrichts und die ebenso einseitige Sinn-Orientierung am Tauschwert der Inhalte für Zensuren und Abschlüsse. Projekte haben es oft leichter, Sinn-Ernst zuzulassen, insbesondere wenn sie auf außerschulische, gesellschaftliche Probleme bezogen werden, etwa aktuell auf Kriege, Umwelt, soziale Notlagen, und mit selbstständigem praktischen Handeln verbunden sind, wie die bekannte Herrichtung des Heilbronner jüdischen [23]Friedhofes durch Schüler (vgl. Ramseger 1991). Generell fragt sich: Unter welchen Bedingungen hilft Schule den Schülern, sinn-voll sich selbst und die Welt zu begreifen?
Sinn weist auf Zusammenhang. Der fehlt einzeln ausgeteilten Wissensbrocken. Sinn erfordert die Einbettung in das Ganze, sowohl inhaltlich wie biographisch. Zerstückelung bringt Leere. Das bedeutet, Unterricht muss für den Lernenden transparent werden, was die Ordnung und den Organismus der Inhalte und Methoden wie was deren Bedeutung für den Heranwachsenden auf seinem Weg zu sich selbst betrifft. In beiderlei Bezug geht es um das Erfahrbar-Werden des „tiefere[n] Sinn[es]“ (Hurrelmann, zitiert bei Giel 2000, 72). Dieser meint nicht Subjektivität als Narzissmus, sondern Selbst-Werden und Stabilität gewinnen im Ringen mit der (auch) widerständigen Welt.
Das alles besagt, dass der Sinn in der Schule ebenso wie der im außerschulischen Leben über die ganze Palette, den ‚Regenbogen‘, des Erlebens reicht, vom Teddybären, der vielleicht den Unterricht miterleben darf, über die Zuwendung, den der Banknachbar mit dem Ausleihen eines Radiergummis oder dem Abschreiben-Lassen spüren lässt, ferner das Aufleuchten der Erkenntnis, weshalb und wie die eigene Taschenlampe funktioniert oder auch nicht oder weshalb der Luftballon aufsteigt, der Fußball jedoch fällt (Physik); und das Verstehen des Rilke-Gedichtes über den „Abschied“, vielleicht nach dem Tod einer Oma; oder auch des Wortes Jesu „dein Glaube hat dir geholfen“, mit seinen tiefen Wurzeln in der „Frohen Botschaft“ von der göttlichen Akzeptanz eines jeden Menschen aufgrund seines „Glaubens“, das heißt seines Gottes- bzw. Seins-Vertrauens. Doch nicht nur solche Sinn-Höhe, auch der Sinn des Teddybären will geachtet werden. Wie bei alledem Sinnvertiefung konkret aussieht, wie diese sich im Alltag vollziehen kann, das sollen die folgenden Kapitel weiter entfalten. Der nächste Abschnitt wird dazu eine weitere Perspektive ansprechen.
1.2 Probleme der Religion heute
In der gegenwärtigen Diskussion der religiösen Situation in der Moderne bzw. Postmoderne gibt es keine klare Differenzierung von Begriffen wie „Religion“, „Religiosität“ und „Spiritualität“. Dieser Zustand weist nicht nur auf sprachliche, sondern auch auf damit verbundene inhaltliche Unklarheiten. Einst deckte der Begriff der „Religion“ sowohl die institutionalisierten Formen, also Traditionen, die Kirche mit ihren Gottesdiensten, Riten, Dogmen etc. ab, als auch das in der Bevölkerung realisierte religiöse Leben. Für dieses bildete die Kirche, sowohl als Institution wie als Gebäude, das Zentrum, die Heimstätte. Inzwischen hat sich beides zu einem gewissen Grade auseinanderentwickelt. Deshalb erscheint es heute als sinnvoll, die tradionellen Formen der Kirchlichkeit als „Religion“ von den sich viel breiter ausdehnenden [24]Erscheinungen unmittelbar gelebter „Religiosität“ zu unterscheiden. Dass eine solche Trennung eher traditionell gesinnten und institutionell gebundenen Theologen nicht ganz leicht wird, ist nachvollziehbar. Der „Strukturbegriff“ Religiosität wird – im Unterschied zu „Glaubensinhalt bzw. Dogma“ – als „individuelle subjektive Aneignung von Religion(en)“ bezeichnet (Angel 2015, 15).
Der folgende Abschnitt versteht unter „Religionen“ also die jeweils historisch entstandenen Institutionalisierungen der diesen zugrundliegenden, aber auch von ihnen wiederum beeinflussten Lebensformen der „Religiosität“. Unter „Spiritualität“ wird in diesem Band eine Sinnvertiefung verstanden, die sich auf das „umgreifende Ganze“ („enveloping whole“; John Dewey) bzw. „Umgreifende“ (Karl Jaspers) richtet. Was das heißt, wird im Verlauf der Arbeit deutlicher. Zur Zeit ist eine „konsensfähige Definition von ‚Spiritualität‘ nicht in Sicht“. Als „Kernkompetenz“ wird sie vielfach als „Verbundenheit (connectedness)“ verstanden.
„Diese kann ausdifferenziert werden in eine horizontale, mit Natur bzw. Kosmos und sozialer Umwelt, sowie eine vertikale, mit einem höheren, transzendenten Wesen, das in der Regel nicht personal gefasst wird, sondern als entgrenzt, etwa kosmische Liebe, Licht oder Geist“; als „eine menschliche Universale […], in gleicher Struktur nachweisbar in unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten“ bzw. „angeborene Kapazität“ (Bucher 2015, 17, 19; zur heutigen Diskussion vgl. auch den Ansatz von Harald Wallach 2011).
Die erwähnte Auseinanderentwicklung ist nichts Ungewöhnliches. Die moderne „Organisationsentwicklung“ hat u.a. gezeigt, wie „Organisationen“ entstehen und vergehen. Das gleiche gilt von der kirchenhistorischen Forschung. Religiöse Impulse, wie sie etwa von Buddha, Jesus oder Mohammet ausgingen, wurden kodifiziert und gerannen zu Institutionen, welche den rechten Glauben festigten und absicherten. Deren Erstarrung oder Entfernung von lebendigen Bedürfnissen führten zu Reform-Impulsen (Luther!), Kirchenspaltungen und Neugründungen. Das gilt weltweit für die Anregungen der jeweiligen Religionsstifter. Jesus stand auf gegen das Establishment, Franziskus kehrte um zur Einfachheit und Armut. Heute dominieren „Kirchenfürsten“ in Palästen, nicht nur in Rom. Zur Geschichte der Entwicklungen, Abspaltungen, Neugründungen des Buddhismus hat Michael von Brück (1998) eine detaillierte Darstellung vorgelegt. Der Aufstand gegen Überholtes ist also programmiert.
Ein befreundeter Pfarrer erteilte Religionsunterricht an einer Essener Berufsschule. Wenn er eine neu zusammengestellte Klasse von Jugendlichen betrat, wurde ihm erklärt, wenn er den Schülern mit der Bibel, Gott oder Christus komme, stünden sie auf und verließen den Raum. Die Klasse beschäftigte sich etwa 1 Jahr lang mit den persönlichen Problemen der Jugendlichen,[25] bevor der Lehrer allmählich die genannten Zeichen der christlichen Tradition ansprechen konnte.
Im Blick auf derartige Probleme spricht der Tübinger Theologe Friedrich Schweitzer (1998, 204) von einem Mangel an „Passung“ zwischen den üblichen religionspädagogischen Angeboten und den Bedürfnissen der Jugendlichen bzw. von einer „Ungleichzeitigkeit“. Darin besteht – über den Religionsunterricht hinaus – generell die Problematik der gegenwärtigen Kirchlichkeit. Das Bild, das diese vermittelt, und die Äußerungen, welche sie von sich gibt, werden heute weithin als ‚Fremdsprache‘ empfunden. Nun kann man Fremdsprachen erlernen – wenn sich das als sinn-voll erweist. Welche Hindernisse stehen einer solchen Sinnfindung im Wege und wie lassen sie sich überwinden?
1.2.1 Neue Konturen einer Sinnvertiefung durch religiöse Erfahrung
Die Frage, was ist „Religion“?, lässt sich so ebenso wenig beantworten wie im vorigen Abschnitt die nach dem Sinn. Was darunter in der Diskussion verstanden wird, soll an einigen Beispielen angedeutet werden.
Religion ist demgemäß in der Menschheitsgeschichte entstanden als Suche nach einer „umfassenden Deutung der Wirklichkeit“ und das heißt, einer „übergreifenden ‚Sinn‘-Erkenntnis“ (Nipkow 2000, 27), bezeichnet also eine letzte Zuspitzung der Sinnvertiefung. Der umgreifenden Frage an das eigene und alles Leben: Was soll das alles?, kann man ausweichen, und das geschieht vielfältig, aber sie stellt sich beharrlich weiter, gehört also offensichtlich zur menschlichen Existenz, selbst bei kirchenfeindlichen Jugendlichen. Dazu Näheres später. Dabei geht es, auch und gerade in der Fragmentarisierung der Postmoderne, um das Suchen nach „menschliche[r] Wirklichkeit im Zusammenhang eines Ganzen“: eine solche „Rückkehr in die Einheit des Ganzen“ habe stets Erlösungsreligionen motiviert (Feldtkeller 2006, 194, 245 f.), offensichtlich als Ausdruck allgemein-menschlicher, existentieller Bedürfnisse. Aus ähnlicher Perspektive stammt die Rede von einer „Solidarität mit der ganzen Schöpfung“ (Mürner 1994, 208), d.h. kommt eine Verpflichtung gegenüber dem Ganzen in den Blick, gegenüber einer Lebens- und „Weltordnung“, deren Verletzung zur ökologischen Krise und am Ende zur Vernichtung des Lebens auf diesem Planeten führt (Feldtkeller 2006, 240).
Fritz Oser und Paul Gmünder (1988, 9) definieren Religiosität als eine Weise der Lebensbewältigung, welche sich orientiert an einem „Letztgültigen, das die gegebene Wirklichkeit transzendiert“. Der Begriff der Transzendenz bleibt in der Diskussion unklar: Meint er traditionell „das jenseits des Bereichs der sinnl. Erfahrung Liegende, das Jenseits“ (Meyers 2003, Bd. 23, S. 7634), wie Jahrhunderte lang auch Jesu „Himmelreich“ als beginnend mit dem irdischen Tode verstanden worden ist? Oder meint Transzendenz[26] einen Durchbruch, damit auch den Beginn des „Himmelreichs“, jetzt und hier, mitten im Alltag, wie sie etwa der bekannte amerikanische Theologe Paul Tillich (vgl. Wachinger 1970, 241 f.) verstand, also eine letzte Sinnvertiefung in Richtung auf den „Grund des Seins“, welche dem Menschen hilft, die Belastungen und Kontingenzen dieser Welt zu bewältigen (Fiedler in Szagun/Fiedler 2008, 491 f.)? Mit anderen Worten: vollzieht sich eine ultimate Sinnvertiefung in der Welt oder durch das Verlassen dieser Welt? Das In-der-Welt käme dem Verlangen der heute Heranwachsenden nach Erfahrbarkeit und Überprüfbarkeit entgegen, d.h. auch dem Bedürfnis nach „alltägliche[n] transzendente[n] Erfahrungen“ (Oser/Reich 1996, 8). Zur „Erschließung der Tiefendimension eines Unbedingten in jeder Situation des Lebens“ betonen Oser und Gmünder (1988, 9, 222), dass sie Religion nicht „als solche oder in ihren historischen Gestalten […], sondern ‚Religiosität‘ als besondere, subjektive Form der Lebensbewältigung“ meinen.
Für James W. Fowler (1989, 44 f.) fragt sich, wie weit das Nirvana im Hinduismus und Buddhismus und das Reich Gottes bei dem amerikanischen Theologen H. Richard Niebuhr nicht formal gewisse Parallelen zeigen im Blick auf ein Konzept von Transzendenz, das nicht eine „andere Welt“ meint, „weit weit weg“, sondern „diese Welt, in der man wahrhaftig, mitfühlend lebt“. Auf solche fernöstliche Parallelen geht das 5. Kapitel diese Arbeit näher ein.
Menschen wussten sich seit Jahrtausenden durch die Unberechenbarkeiten und Unsicherheiten des Lebens in dieser Welt bedroht und suchten Stütze und Stabilisierung in Religion als „Kontingenzbewältigung mit Transzendenzbezug“ (Fiedler in Szagun/Fiedler 2008, 492, 545 f.; vgl. Oser/Gmünder 1988, 44). Die moderne Gesellschafts- und Werteentwicklung hat diese Stütze brüchig werden lassen. Das zeigt sich in unserem Kulturkreis in der „reihenweise[n …] lapidare[n] Verabschiedung von Gott samt Christentum und Kirche“ (Nipkow 1998, 244). Doch das Streben nach Halt angesichts von Krankheit, Tod, Elend und Verzweiflung bleibt lebendig. Das bedeutet, die zunehmende „Kluft“ zwischen institutionalisierter Kirchlichkeit und unmittelbaren religiösen Bedürfnissen führt zum „Ausbluten“ der ersteren und andererseits zugleich zu einer Vielfalt „erfahrungsnahe[r] freie[r] Religiosität“ (Klosinski in Loccumer Protokolle 13/16, S. 113): „Die freigesetzte, von den Kirchen nicht mehr gebundene religiöse Substanz strahlt außerhalb der gewohnten Ordnungen auf und bildet eigene Wirkungsfelder aus“ (Nipkow 1984, 91), z.B. die Kirchentage, Meditationsgruppen westlicher und östlicher Prägung, Erlebniswochen in Taizé und eine Vielfalt anderer Aktivitäten. Für die Kirchen jedoch ergibt sich damit, so heißt es, die Aufgabe, „in selbstloser Weise […] die nicht kirchlich behauste Religiosität [zu] unterstützen“ (Zulehner/Denz 1993, 238) – eine weitgesteckte und bislang keineswegs erfüllte Reform-Erwartung.
[27]Durch die moderne technische und kommunikative Entwicklung ist die Welt gleichsam kleiner geworden. Den Kulturgemeinschaften ist es nur noch schwer möglich, sich abzuschotten und isoliert zu halten. Diese Entwicklung ermöglicht den leichteren Austausch, gefährdet aber auch die Bewahrung von Besonderheiten. Die schützenden Mauern werden niedriger und „löchriger“, hieß es im vorausgehenden Abschnitt. Damit ist an bekannte Aspekte des Pluralismus erinnert. Auch die Religiosität nimmt dabei in westlichen Ländern eine „pluralisierte, individualisierte und privatisierte Gestalt“ an (Schweitzer 1998, 97). Und mit dem Rückzug aus den Institutionen wird sie gleichsam „unsichtbare[r]“ (Luckmann, zitiert bei Baader 2005, 275), verglichen mit den sozial sichtbaren religiösen Institutionen (Zulehner/Denz 1993, 234), d.h. verlegt ihre Substanz stärker ins Private. Pluralisierung und Vielfalt bedeuten also zugleich Individualisierung. Das Individuum ist relativ frei, aber auch gezwungen, seine persönliche religiöse Form und Bindung zu finden bzw. zu konstruieren, vielfach auch ein Sammelsurium aus dem „Warenlager“ gesellschaftlicher Angebote synkretistisch zusammenzubasteln (vgl. Nassehi 1996, 43 f.). Richtungweisend dabei ist die „Authentizität“ der individuellen Erfahrung, ein „Charakteristikum von Religiosität in der Moderne“ (Baader 2005, 65). Eingeschränkt wird diese individuelle Wahl und Gestaltung der eigenen Religiosität allerdings durch die spezifische kulturelle Herkunft und Umwelt, in welcher das Individuum jeweils aufwächst und lebt, und durch andere ‚Zufälle‘ seines Schicksals (Englert 2002a, 27 f.).
Angesichts der Beliebigkeit dessen, was einem Individuum „heilig“ sein kann, bis hin zum Liebesbrief, Mofa, „die Murmel in meiner Tasche“ u.a. scheinbar prophanen Dingen (Sauer 1993, 18), zum Playboy und zur Popmusik, zu Heilsbringern wie New Age und östlicher Meditation, fragt sich allerdings, von welcher Grenze an es dabei um „Religiosität“ bzw. „Spiritualität“ gehen soll, und nicht mehr um willkürliche Sinn-Kreationen. Das heißt, wie weit soll in den folgenden Ausführungen dieses Bandes ausschließlich das Kriterium subjektiven Erlebens von „Heiligkeit“ zur Bestimmung des hier verwandten Begriffes von „Spiritualität“ gelten oder dieser durch objektive Kriterien mitbestimmt werden wie etwa das bereits erwähnte eines Zugangs zum „umgreifenden Ganzen“ (Dewey)? Die Diskussion der letzten Jahrzente zur Bedeutung von „Religion“ und „Religiosität“ schwankt zwischen beiden Konzepten und damit auch zur Frage, ob es für die Mehrheit, zumindest unter den Heranwachsenden, die sich von den institutionellen Festlegungen der Religion durch die Kirchen und den Dogmen der christlichen Offenbarung distanziert, die Möglichkeit einer „religiösen“ Orientierung gibt, welche einen ähnlich substanziellen Tiefgang erreicht wie die der traditionellen Konfessionen und überhaupt der Hochreligionen. Das wird nicht leicht sein, denn zum einen haben sich in diesen Überlieferungen Jahrtausende alte Erfahrungen und ‚Weisheiten‘[28] des Umgangs mit dem letzten Sinn inkarniert. Und zum anderen geht mit der Zurückweisung der überlieferten religiösen Formenwelt an Ritualen, Riten, Praktiken etc. auch erst einmal deren Gehalt verloren, so dass sich die Frage ergibt, wie eine neue religiöse Sinnverwurzelung angestrebt bzw, erreicht werden kann, eine neue Sinnvertiefung also. Dazu wird u.a. das 2. Kapitel über das Seins-Vertrauen eine Antwort suchen.
So viel hat die Diskussion der letzten Jahrzehnte deutlich gemacht: die offensichtlich zum Mensch-Sein gehörende Frage nach dem letzten Sinn, nicht nur des Leidens, führt nicht notwendig zu dem, was traditionell als „Gott“ verstanden worden ist. Das übliche Gotteskonzept, „der Glaube an einen persönl. überweltl. Gott, der […] die Welt als seine Schöpfung erhält, das Weltgeschehen lenkt und im Glauben existenziell erfahren wird“ (Meyers 2003, Bd. 23, S. 7506), ist als Orientierung für eine universale, d.h. Kulturen übergreifende, weltweite Bestimmung ultimater Sinnbindung bzw. Religiosität nicht geeignet. Und er ist auch nicht erst heute mit Glaubenskriegen, Völkermord, Tsunamis u.a. Schicksalsschlägen schwer vereinbar (Theodize), so sehr, dass die Weiterverwendung des Gottesbegriffs, wie sich zeigen wird, sich für die Förderung und Pflege von Religiosität als kontraproduktiv erweisen kann. Von einem anderen Gottesbild berichten Fritz Oser und Anton Bucher (1992, 260): Eli Wiesel erlebte, wie in Auschwitz, vor versammelten Häftlingen, ein 14jähriger am Galgen eine halbe Stunde mit dem Tode rang. Da hat einer der Häflinge gerufen: „Wo ist Gott?“ und Wiesel in sich eine Stimme antworten gehört: „Hier ist er … Er hängt dort am Galgen“ (nach Dorothee Sölle).
Hubertus Mynarek (1983) hat in einer Befragung Selbstzeugnisse zu einer Religiosität ohne Gott gesammelt. Einige davon wurden im vorausgehenden Abschnitt zitiert. Bei aller Vielfalt der Aussagen zeigt sich eine Orientierung am alles „Umgreifende[n]“, an der Verbundenheit mit dem „unendlichen Kosmos“ und der Ordnung und Gesetzlichkeit der Natur, wobei der Mensch zusammen mit allem Seienden erlebt wird als „Faser im Gewebe des Seins“ (a.a.O. 103, 115 f., 211). Das spätere Kapitel über den Buddhismus wird zeigen, wie für diesen „Erleuchtung“ (Satori) die Überwindung der Ichheit in deren Aufgehen in einer weder-ich-noch-nicht-ich allumfassenden Einheit bedeutet.
Ein Modell der Überwindung abgelöster Ichheit lebte uns Jesus vor. Er lebte aus der unlösbaren Bindung an den „Vater“. Das heißt, er war Einheit mit dem Schöpfer und dessen Schöpfung so überzeugend, dass seine Ausstrahlung seither bis heute, 2000 Jahre später, Millionen Menschen in aller Welt beeinflusst, viele in ihrem Lebensverlauf so total wie etwa Mönche oder Mutter Teresa. Allerdings wandelte sich Jesu Gestalt wie auch die anderer Religionsstifter (z.B. Buddha) durch Legendenbildung (dem Menschen ist es schwer, ohne seine ‚Heiligen‘ zu leben) und durch Jesu Umformung zum „Christus“ durch die Evangelisten 80 Jahre nach seinem Tode sowie durch[29] die weitere Kirchengeschichte, so dass die Theologie vor der schwierigen Aufgabe steht, Jesu Leben (vgl.dazu schon Albert Schweitzer) und das, was er wirklich gesagt hat, von der Bibelfassung der Evangelien und der kirchlichen Tradition abzuheben. Jedenfalls betont der von der katholischen Kirche abgestrafte Mystiker Willigis Jäger (2002, 86-88), „Sohn Gottes“ seien alle Menschen und alle Wesen, die Einzigkeit Jesu bestehe in seiner „Einheitserfahrung mit dem, was er Vater nannte“. Die besondere, „kosmisch-umfassende Dimension“ seines Todes sei heute schwer nachvollziehbar und Jesus selbst habe seinen Tod nicht als „Erlösungstod“ verstanden: es sei kein „Sühnetod“, sondern ein „Prophetentod“ wie der vieler anderer, welche aufstanden gegen erstarrte Lebens- oder Religionsformen.
Trotz solcher Wandlungen kann man sagen, Jesus habe sein Gottvertrauen für uns „lesbar“ gemacht (Kaufmann 1991, 106); oder: „Das verzweifelte Verlangen, Gott zu ‚sehen‘ und sein Wirken zu ‚spüren‘, kann nur im Anschauen des Menschen [!] Jesus von Nazareth seine Erfüllung finden“ (Nipkow 1987, 74). In der Sprache einer Religiosität ohne Gott würde das bedeuten: Jesus hat in seinem Leben ver-körpert, wie Seins-Vertrauen auf dem Wissen aufbaut, angenommen, akzeptiert und getragen zu sein durch ein letztlich doch wohl-meinendes und sinn-volles „umgreifendes Ganzes“ (der Begriff wird im 2. Kapitel erläutert) – vorausgesetzt wir akzeptieren diese Akzeptanz oder auch: wir überwinden die Dualität und gehen auf in eben diesem Ganzen. Das aber ist alles andere als leicht. Denn wir sind seit unseren frühkindlichen Erfahrungen und Verletzungen durch Enttäuschungen gezeichnet und selbst Narben behindern noch ein rückhaltloses Vertrauen. Oder anders formuliert: Unsere abendländische Tradition widerspricht weithin der Überwindung der Dualität. Das 5. Kapitel über den Buddhismus kommt auf diese Problematik zurück.
1.2.2 Jugend und Religiosität heute
Die gegenwärtige religiöse Situation der Jugendlichen bestätigt das im Vorstehenden Skizzierte. Nach den zahlreich vorliegenden empirischen Unteruchungen haben Jugendliche ein „kritisch-distanziertes Verhältnis zur institutionell verfassten Religion“. Kirche erscheint 16- bis 18Jährigen als abzulehnender „Gegenentwurf“ und Widerspruch zur gewünschten individuellen autonomen modernen Lebenspraxis, d.h. als Bevormundung und Disziplinierung und Gefahr für die Selbstbestimmung: In religiösen Fragen müsse „jeder für sich selbst entscheiden“ (Oertel 2004, 315, 410-413, 417). Eine Mehrheit der Jugendlichen unabhängig von der Konfession unterscheidet zwischen der „kirchlich verfasste[n] Religiosität“ und ihrem Glauben: die Kirche habe das Monopol in Glaubensfragen verloren (Ziebertz u.a. 2oo3, 147-150, 386, 419). Nur der eigene persönliche Glaube wird nicht als „Gefängnis“ erlebt (Nipkow 1998, 254). Dieser Glaube bleibt allerdings vielfach gerichtet „irgendwie“[30] und an „irgendjemanden“, „da oben irgendwo“ – wenigstens aus der Perspektive tradioneller Erwartungen. Der Pluralismus wird bejaht: Die Angst davor scheint eher ein Problem der Erwachsenengeneration zu sein (Ziebertz u.a. 2003, 114, 384).
Die Einstellung der Jugendlichen weist mehrheitlich auf das „Ende des klassischen Theismus“, weil Gott offensichtlich keine Antworten hat auf individuelle und globale Probleme und Gefahren (Ziebertz u.a. 2003, 327). Eine Befragung von 1236 15- bis 20Jährigen Berufschülern in Baden-Württenberg schon 1982-83 ergab: Sie wollen Gott „persönlich spüren und als Handelnden erfahren“, erwarten dass er sich „zeigt“ und „ ‚bemerkbar‘ macht“, doch er hilft nicht „in der Klemme“. Nicht mehr Schuld und Sündenbewusstsein lassen einen vergebenden Gott suchen, sondern die „menschliche Kälte in der Welt“ einen Gott der Liebe, Wärme und Geborgenheit. Für den Kreuzestod Jesu vor dem Hintergrund menschlicher Schuld gibt es kaum Akzeptanz (Nipkow 1987, 50, 52 f., 86 f.), d.h. die Kreuzestheologie wird als „einfach inhuman“ erlebt, ein derartiger Gnaden- und Erlösungsbegriff ist vielfach unverständlich geworden, damit auch die „Auferstehung von den Toten“: Jesus wird gesehen „primär als Mensch, dem es nachzuleben gilt“ (Nipkow 1993, 199 f.). Kennzeichen solcher Nachfolge ist die Liebe (barmherziger Samariter), in Gruppen der „neuen Religiosität“ suchen Jugendliche die „ ‚liebende‘ […] Gemeinschaft“ (Nipkow 1984, 104), ihre Existenz gründen sie nicht auf Gott, sondern auf „Familie“ und „Liebe“ (Oertel 2004, 418 f.).
Doch dieses Bild passt nicht auf alle Jugendlichen. Die „bleibende Religiosität“ bei „Nachlassen der Kirchlichkeit“ (Schweitzer 1993, 81) zeigt teilweise durchaus auch traditionelle Züge. Eine Mehrheit der Jugendlichen stimmte den Sätzen zu: „Es gibt ein höheres Wesen, das wir nicht in Worte fassen können“, und übergreifend: „Es gibt etwas Höheres, das alle Religionen anders benennen“ (Ziebertz u.a. 2003, 337). Nach der Shell-Jugendstudie von 2000 trifft das Statement „Es gibt Vorgänge, die man nicht erklären kann, in denen übernatürliche Kräfte am Werk sind“ für 58 % der befragten 12- bis 25Jährigen zu, der Satz: „Für mich hat alles, was geschieht, eine höhere Bestimmung“, für 30 %. In den letzten 4 Wochen vor der Befragung sind 4 % aller Befragten dreimal oder öfter zum Gottesdienst gegangen, 4 % zweimal, 9 % einmal, 83 % überhaupt nicht. Doch von den letzteren beten 8 % der männlichen Jugendlichen und 14 % lesen gelegentlich in der Bibel, von den weiblichen 26 % und 17 %. Von allen Befragten beten 27 % manchmal oder regelmäßig, 56 % nie (Shell 2000, 162-164, 175 f.). Nach der Shell-Jugendstudie von 2010 halten 37 % der Jugendlichen es für wichtig, an Gott zu glauben; bezeichnenderweise nur 44 % der formal zur katholischen Kirche und 39 % der zur evangelischen Kirche Gehörenden, während die Zahl der offiziellen Kirchenmitglieder, die Gott in klassisch-christlicher [31]Weise als Person sehen, noch niedriger ist (32 % und 26 %; Shell 2010, 203, 205, 207).
Die Untersuchungen des Gottesverständnises von Kindern durch die Rostocker Theologin Anna-Katharina Szagun rücken ein spezifisches Problem der gegenwärtigen Religiosität in den Blick. Szagun hat die Kinder aufgefordert Gott darzustellen und ihnen dazu eine Fülle verschiedenartigen Materials zur Verfügung gestellt. Es kamen die unerwartetsten Gestaltungen zustande: Gott wurde als Gerät, Maschine etc. dargestellt, nicht als der Weise im Himmel mit dem Rauschelbart (vgl. dagegen Bucher 1994). Für den vorliegenden Zusammenhang bedeutsamer sind die Gespräche, die Frau Szagun mit den Kindern führte. Es waren Kinder aus der damaligen DDR, also weitgehend aus einem nicht-christlichen Hintergrund. Das erklärt, dass der Begriff „Gott“ zusätzlich negativ und mit Abwehr besetzt war. Einerseits zeigten die Kinder religiöses Erleben und religiöse Bedürfnisse, etwa den Glauben, dass es statt „Zufall“ eine „Bestimmung“, ein „Schicksal“, auch „jemanden gibt, der über uns wacht“, eine „Kraft“, die sich äußert „in der Liebe, der inneren Stimme, der Natur“, „im inneren Licht, das neue Zuversicht“ gebe. (Szagun/Fiedler 2008, 402). Zugleich aber lehnen diese Kinder für diese Glaubensinhalte vielfach den christlichen bzw. kirchlichen Begriff „Gott“ als unzutreffend bzw. für sie nicht akzeptabel ab. Nach Szagun besteht die Gefahr, dass sie sich dadurch ihre weitere und nötige religiöse Entwicklung verbauen.
Wenn man wie Frau Szagun von der Voraussetzung ausgeht, dass eine solche Entwicklung kindlicher, „theistisch“ verengter Gottesvorstellung zu einer reiferen und für das Leben eines Erwachsenen in der modernen Welt angemessenen möglich, wünschenswert und nötig ist, dann ergibt sich die Frage: „Muss die alte Gottessprache verlernt werden, damit eine neue gelernt werden kann?“ (a.a.O. 90 f.). Nach alledem, was zuvor angesprochen wurde, kann eine solche Neugeburt nicht nur die Sprache, den „Namen“ und „Begriff ‚Gott‘ “ (a.a.O. 402) betreffen, sondern muss die Substanz der „theistischen“ Tradition erfassen. Die „Blockerwirkung“ ist keine solche nur der „Sprachmuster“ (Fiedler in Szagun/Fiedler 2008, 518):
Die „Engführung der Gottesbilder auf die Vatermetapher in Gebeten und Bekenntnis bilden verknüpft mit theistisch-vergegenständlichenden Liedtexten und Ansprachen für Heranwachsende eine Barriere, die sie hindert, sich auf christliche Inhalte einzulassen. Gottesdienste werden so zu Stolpersteinen des Glaubens statt für den Glauben zu öffnen“ (Szagun/Fiedler 2008, 456).
Die „notwendigen Abschiede“ (zum Begriff vgl. Jörns 2004) greifen also weiter als auf die Formulierungen, wenn ein ‚Enttäuschungsatheismus‘ angesichts der konkreten Lebenserfahrungen in dieser Welt sich nicht weiter ausbreiten soll, ja wenn – statt dieser Alternative von christlicher Religion und [32]„Atheismus“ – eine lebenstragende Religiosität nicht auch jenseits der christlichen Tradition je nach individuellem Bedürfnis gefördert und gepflegt werden soll.
James W. Fowler (2000) hat einen „universal“ gültigen Begriff von „Glauben“ angestrebt, der als „dasselbe“ allgemein menschliche „Phänomen“ bei Christen, Marxisten, Hindus u.a. erkennbar, aber jeweils individuell „einzigartig“ ist. Er bestimmt diesen „Glauben“ nach H. Richard Niebuhr als „Suche nach einem übergreifenden, integrierenden und tragenden Vertrauen in ein Wert- und Machtzentrum, das es wert ist, unserem Leben Einheit und Sinn zu geben“. Und er betont, letztlich sei es nicht wichtig, ob wir Moslems, Juden, Buddhisten oder Christen werden, sondern ob es auf dieser Erde einen gemeinsamen Glauben gibt, der umfassend und stark genug ist, um den destruktiven Absolutheitsansprüchen religiöser, nationalistischer, rassistischer u.a. Darbietung erfolgreich zu widerstehen, getragen von einem „Bundes-Vertrauen“ und der Loyalität gegenüber dem gemeinsamen „Seinsgrund“, dem „Universum“, in dem wir uns „zu Hause fühlen“ (Fowler 2000, 23, 27, 32, 310). In einem „Appell […] an die Welt“ fordert der Dalai Lama: „Ethik ist wichtiger als Religion“ (2015). Und Hans Küng (1992; 2008) entwickelt das „Projekt Weltethos“. Und 1994 referieren 300 Vertreter und Fachleute aus aller Welt in Nürnberg zum Thema „ ‚Das Projekt Weltethos‘ in der Erziehung“. (Lähnemann 1995).
1.2.3 Probleme einer religiösen Erziehung und Belehrung heute
„Belehrung“ als Mittel der Förderung von „Glauben“ als Vertrauen? – ist das ernst gemeint? Doch es gibt in Deutschland den staatlich anerkannten und vertraglich abgesicherten konfessionellen Religionsunterricht. Die Probleme, vor denen sich dieser heute sieht, wurden bereits angesprochen und sollen im Folgenden genauer analysiert werden.
Dazu sei erinnert daran, dass sich heute nicht nur neben einer z.B. im Elternhaus übernommenen Kirchlichkeit eine „zweite Religion“ entwickelt hat (Pöggler 1994, 28), sondern dass die religiöse Beeinflussung und Erziehung in den Familien „weithin“ eben nicht auf „Kirchlichkeit“ und d.h. auf das gerichtet ist, was die Kirchen erwarten (Schweitzer 2003, 97). Da die „kirchlich vermittelte Substanz“ eher auf Abwehr stösst, d.h. zu „kontraproduktiven Folgen“ führt, bleibt nach den empirischen Ergebnissen eine „kirchlich-christliche Prägung“ Ausnahme, „Spezialfall“ (Ziebertz u.a. 2003, 412). Wenn nur noch durchschnittlich jeder 10. Grundschüler eine Bindung an eine kirchliche Gemeinde hat (Englert 1993a, 109 f., Anm. 19) und dementsprechend die Weitergabe der „christlichen Inspiration“ eher auf Ablehnung stößt, welche Aufgabe bleibt dann der Religionspädagogik im „weiten [33]Spielraum außerchristlicher Religiosität“ (Englert 2002b, 105 f.)? Der Versuch, das religiöse Erleben der Heranwachsenden
„mit der sanften Gewalt der Überredung in Richtung der Institution ‚Kirche‘ zu kanalisieren, wäre das Falscheste, was pastoral getan werden könnte“ (Pöggeler 1994, 29).
Das würde auch die außerkirchliche Religiosität noch gefährden. Damit zeichnet sich ein Weg der religiösen Erziehung ab, dessen Anfang, Mitte und Ende offen sind: der Anfang insofern, als alle Richtungen des Glaubens und Nicht-Glaubens aufgenommen werden; die Mitte insofern, als die zitierte „Kanalisierung“ vermieden wird; das Ende insofern, als dieses individuell bestimmt ist. Das allgemeine Ziel aber könnte man als „Seins-Vertrauen“ bezeichnen (Näheres dazu im 2. Kapitel). Das bedeutet, was religionspädagogisch geschieht, kann nicht etwa aus einem kirchlichen Religionsverständnis deduziert werden, sondern orientiert sich an der individuellen Lebensgeschichte und religiösen Erfahrung, versteht sich als deren „Aufarbeiten“ durch den Heranwachsenden, und als „[l]ebensbegleitende erfahrungsnahe Identitätshilfe“ (Nipkow, zitiert bei Schweitzer 1998, 157, 165 f.). Dabei bilden die jugendlichen „Konstruktions versuche[…] von Lebenssinn“ (vgl. oben Abschnitt 1.1) gleichsam den „anthropologischen Humus“ für das gemeinsame „Aufarbeiten“, nicht etwa die Einpflanzung eines „unveränderlichen christlichen Erbes“ (Ziebertz 2002a, 51 f.).
Das bedeutet einen „Perspektivenwechsel“: Es geht nicht mehr gleichsam von ‚oben‘ nach ‚unten‘, sondern von ‚unten‘ nach ‚oben‘; nicht mehr um das Verkünden der Wahrheit und um den Fortbestand der Kirche, sondern um das „Subjektwerden“ der Jugendlichen (Schweitzer 1998, 14-16): doch selbst den „am weitesten fortgeschrittenen“ religionspädagogischen Modellen gelinge es nur bedingt, die Kluft zwischen der christlichen Überlieferung und der Religiosität heutiger Jugendlicher zu überbrücken (Schweitzer 1993, 86). Die erstere kann daher nur noch als „Angebot“ erscheinen, jedenfalls nicht mehr als generelles Ziel (Dohmen-Funke 1993, 302; Gather 1993, 312), was nicht ausschließt, dass Christus auch einmal als provozierende Konfrontation erscheint (Englert 2002b, 102 f.).
Die pädagogische ‚Weisheit‘, jede Erziehung müsse den Lernenden dort abholen, wo er steht, ihn dort aber nicht stehen lassen, gilt auch für die religiöse Erziehung. Weiterentwicklung und Erwachsen-Werden bedeutet auch Abschied nehmen, z.B. vom Kinderglauben (Schweitzer 1998, 158) oder Nicht-Glauben. Mitten in ihrem Leben müssen die Heranwachsenden „zerstören“ und „aufbauen“ (Oser 1994, 154), wobei das Ziel der Sinnvertiefung bedeutet, ein Gespür zu wecken für Möglichkeiten des Durchblickens der „Horizontalität“ und „Flachheit“ gewohnter Abläufe in Richtung auf das, was vielfach missverständlich „Transzendenz“ genannt wird, aber[34] kein Jenseits, sondern wie erwähnt einen Tief-Gang im Hier und Jetzt meint. Ziebertz nennt das (2002c, 213) „Lust auf Religion“, besser auf Religiosität bzw. Spiritualität zu wecken, Nipkow nennt das auch „reife offene Seinserfahrung“ und „Seins-Vertrauen“ (2007, 13). Die ‚anthropologische Verwiesenheit‘ auf solche Transzendenz im Sinne der genannten Sinnvertiefung müssen Schüler in sich selbst entdecken. Während bei Berufschülern, wie erwähnt, tradionelle christliche Inhalte auf „engagierte Ablehnung“ stoßen, finden Auseinandersetzungen mit ihren Lebensproblemen ihr Interesse und lassen sich auch auf religiöse Hintergründe öffnen (Gather 1993, 309).
Der Begriff der „Belehrung“, der oben in der Überschrift erscheint, ist für den Bereich der religiösen Bildung und Erziehung problematisch. Auch „Lehre“ weckt Vorstellungen von der Übergabe von Wissen. Gewiss kann ein Lehrer beispielsweise über Daten der Evangelien und selbst über christliche Dogmen Kenntnisse vermitteln, auch über andere Religionen. Doch das berührt und fördert noch nicht notwendig die Entwicklung einer Sinnvertiefung oder ‚reifen‘ Religiosität. Religiöser Sinn ist nicht einfach „vorfindlich“ und übernehmbar (Schöll 1996, 128 f.). Abgesehen davon, dass religiöse Erziehung weitgehend Selbsterziehung ist, wenn nicht Gnade, und wesentliche Prozesse im Unbewussten stattfinden, also weder vom Betroffenen noch vom Erzieher bewusst kontrolliert werden können, weist die Problematik der Belehrung gerade in diesem Bereich auf die „kontraproduktiv[en]“ Ergebnisse eines „inflationär von Gott“ Redens und „Erfahrungsdefizits“ (Ziebertz u.a. 2003, 379).
Der Begriff der „Erfahrung“ bezieht sich dabei sowohl auf den Lernenden und seine Biographie wie auf den Erzieher und dessen Ausstrahlung seines Seins-Vertrauens und seiner Bindung an das „umgreifende Ganze“ – um christlich einsatzbare aber auch überschreitbare Begriffe zu verwenden. Auf beiden Seiten geht es um die existentielle Betroffenheit, schlichter: um die Echtheit, welche überzeugt. Um dem näher zu kommen, wird in der Religionspädagogik (wie in anderen pädagogischen Gebieten bis hin zur Fachdidaktik auch) versucht, das Reden-über zu transzendieren durch gemeinsames Handeln, etwa in Form von Projekten.
Eine solche Erfahrung im Tun geht weiter als Karl Ernst Nipkows (1998, 247 f., 252) Hinweise auf die unterrichtliche Arbeit mit „expliziten persönlichen Stellungnahmen“ und „autobiographische[n] Erzählgelegenheiten“. Und selbst das „indirekte, unabsichtliche Transparentwerden der eigenen Glaubensposition“ (oder auch der Glaubens-Leere) wirkt überzeugender, wenn es sich in Verhalten umsetzt und so wahrnehmbar zum Ausdruck kommt. Das geschieht auch in jedem Fachunterricht, in welchem die Person, wie erwähnt, immer „mitgelesen“ wird (von Hentig), und zwar die Person des Lehrers und die der Mitschüler. Wie geht der Lehrer mit sich selbst und mit den Schülern um und wie diese miteinander? Wie weit erscheint jener[35] diesen ja doch sehr genauen Beobachtern als „Mensch“, der z.B. auch Fehler eingestehen kann? Und wie weit gelingt es in der Klasse, das hemdsärmelige Besser-sein-Wollen bzw. -Müssen der üblichen Leistungs- und Zensuren-Konkurrenz zu relativieren, obwohl alle Welt von einer derartigen Haltung determiniert zu sein scheint? Wie weit gelingt hier etwa ein Bezug zu Jesu Leben? Nach Walter Hammel (1978, 67) inspiriert dieses zur „Freiheit vom Leistungsfanatismus und vom tierischen Ernst des Erfolgszwangs“. Und Peter Biehl (1991, 44) begründet: „Wenn wir uns annehmen als Bejahte, bedeutet das zugleich eine Befreiung aus einer gesellschaftlichen Situation, die durch Selbstbehauptung und Privilegien bestimmt ist“.
Fritz Oser (1992) sucht solche Aspekte der christlichen Überlieferung für Kinder erfahrbar zu machen, indem er sie die Akzeptanz, Unterstützung und Liebe der Erwachsenen und Mitschüler erleben lässt und diese praktische Nächstenliebe auf Gott bezieht:
„Das kindliche Engagement für andere Kinder, für Alte, für Arme und Benachteiligte, für Menschen, die leiden etc., ist unabdingbar, um die ‚Güte Gottes‘ in dieser Welt sichtbar zu machen“ (Oser 1992, 50 f., 55).
Doch an anderer Stelle (1988, 169 f.) muss Oser zugeben:
„Mein Impuls, daß im menschlichen Verzeihen und Annehmen zugleich auch Gott den Menschen annimmt, verfehlte beispielsweise seine Wirkung. Die Schüler stiegen gar nicht darauf ein“.
Das ist nach dem oben Gesagten über die Ablehnung nicht nur des Gottesbegriffes, sondern der theistischen Vorstellungen von Gott nur zu verständlich. Daher sollten die an sich durchaus sinnvollen Erfahrungen etwa mit der Alten-Hilfe vielleicht besser nicht auf die für viele heute fremde Gestalt eines persönlichen Gottes bezogen werden, sondern auf das im Neuen Testament erscheinende Leben des Menschen Jesus, dem es nach den Vorstellungen von Jugendlichen, wie zitiert, „nachzuleben gilt“ (Nipkow 1993, 199 f.). Anregungen dazu, was das heißen könnte, lassen sich etwa gewinnen aus Hans Küngs (2012, 26-101) Versuch einer Rekonstruktion des Lebens Jesu. Den erfahrungsbezogenen Zugang zu Religion gefährdet man am ehesten, wenn man ihn sogleich wieder auf lebensferne Deutungen bezieht. Wenn die religiöse Erziehung und auch der schulische Religionsunterricht sich für die „kirchenferne Lebenswelt“ der heutigen Jugend öffnen will, müssen sie sich auf ein „vergleichsweise hohes Maß an Kirchendistanz“ einlassen. Das ist mehr als „Entschulung“ (Schweitzer 1998, 203).
Die „Umkehr“ zur „Frohen Botschaft“ der Bibel kann uns nur gelingen, „wenn eine Vision vorhanden ist, die Charme genug hat, uns anzulocken. Zur Umkehr wird man nicht getrieben, man wird zu ihr gezogen“ (Steffensky [36]2001). Was hat das Leben des Menschen Jesus für heute Lebende Verlockendes? Das erscheint hier als die zentrale Frage an unsere religiöse Tradition.
Das Bild vom Stühle-Rücken bei sinkender Titanic wurde schon einmal benutzt. James W. Fowlers Vision von einem weltweiten, Religionen übergreifenden Bündnis der Glaubenden an den Sinn, die Schönheit und den Erhaltenswert dieser unserer Welt bzw. der Schöpfung lässt manche Debatten um die Differenzen der Konfessionen oder einen angemessenen Religionsunterricht in der Tat an jenes Stühle-Rücken erinnern. Sind wir uns überhaupt des riesigen Abstandes unseres gegenwärtigen Lebens, sei es katholisch, evangelisch oder auch beides nicht, sowie der christlichen Tradition, vom Leben und von der Botschaft Jesu bewusst? Wie weit sind selbst die Christen unter uns wirklich Nachfolger Jesu?
„Es gibt nur die Wahrheit der verschiedenen Perspektiven und niemand hat eine Über-Perspektive außer Gott selbst“ (Englert 2002c, 202). Diese Position bringt ein erhebliches Maß an Verwirrung in die religionspädagogische Diskussion. Alle für die modernen bzw. postmodernen Entwicklungen aufgeschlossenen Theologen beider Konfessionen akzeptieren deren Pluralismus, dessen Vielfalt „auszuhalten“, ernst zu nehmen bzw. zu tolerieren sei. Das Suchen nach einem diese Vielfalt transzendierenden „Kern“ aller Religionen wird als Reduktion abgelehnt (Nipkow 1998, 517, 519, 537), dabei jedoch gern übersehen, dass auch die bleibende Orientierung an Konfessionen wie „katholisch“ oder „evangelisch“ eine Verallgemeinerung und insofern Reduktion der individuellen Vielfalt darstellt (vgl. Ziebertz u.a. 2003, 226). Jede Blicköffnung über die eigene Position hinaus bringt neben der Chance der Bereicherung eben auch die Bedrohung der eigenen religiösen ‚Heimat‘. Das mag den ‚Tanz‘ zwischen Öffnung und Abschluss in der gegenwärtigen Diskussion erklären
Die an sich sinnvolle Forderung nach einem „ökumenische[n]“ Lernen, welches das Verhältnis der christlichen Konfessionen betrifft, und einem „interreligiöse[n]“ Lernen, das sich auf andere Religionen bezieht, erscheint vielerorts als zu hoch angesetzt, etwa wenn sich z.B. das „Hamburger Modell“ einer Klientel gegenüber sieht, die sich zu weniger als 50 % aus getauften Kindern und zu 40 % aus solchen zusammenfügt, die keiner Religion angehören (Nipkow 1998, 485 f.; nach Doedens/Weiße 1997). Der „Umgang mit Pluralität“ muss gelernt werden, der Heranwachsende muss im Blick auf die Vielfalt der Angebote „urteilsfähig“ werden und dazu Kriterien entwickeln (Schweitzer 1998, 154, 157, 174), aber nicht mit dem Ziel der „Entscheidung für eine bestimmte Religion“ (Schweitzer 2003, 179), sondern wie dargelegt für die Konturen individueller religiöser Identität.
Eine solche Differenzierung der Abstraktionsebenen fehlt in der Diskussion oftmals. Mit der Unterscheidung von 1) „Religiosität“ überhaupt, 2) Religion im Sinne etwa von christlich oder mohammedanisch, 3) Konfessionen im Sinne von etwa katholisch und 4) individueller bzw. persönlicher [37]Entwicklung sind schon 4 Ebenen angesprochen. Wenn Hans-Georg Ziebertz u.a. (2003, 201) feststellen, eine „multi-kulturelle Identität“ gebe es nicht, dann fragt sich, wie weit z.B. „christlich“ oder „evangelisch“ gegenüber dem Individuellen multi-kulturelle Begriffe sind. Von daher bedarf es einer Klärung etwa der Forderung der katholischen Bischöfe, vor jeder Begegnung mit anderen Religionen oder Weltanschauungen sollten Heranwachsende ihre „eigene Religion“ verstehen (a.a.O.): auf welcher Ebene ist dieses „Eigene“ anzusetzen (Nipkow 1998, 477, 491 f., spricht von „Beheimatung“ und „religiöser Verwurzelung“)? Die Versuchung ist groß, dieses Erst-Einmal vor der Begegnung mit dem Anderen konfessionell, auf jeden Fall aber auf der Ebene der Hochreligionen zu verstehen, auch um die Jugendlichen durch ein Zuviel an Pluralität nicht zu verunsichern.
Doch wie weit ist dieses Festhalten an einem konfessionellen, „religiös homogenen Raum“ (Ziebertz u.a. 2003, 114) angesichts einer gleichsam von Geburt an pluralistischen Realität, wie sie am Beispiel der Hamburger Verhältnisse oben angesprochen wurde, illusorisch? Denn diese Pluralität beginnt jenseits von institutionalisierten Religionen, nicht einmal erst auf der Ebene der erwähnten „zweite[n] Religion“ der Jugend (Pöggeler 1984, 28), sondern auf derjenigen eines scheinbaren Atheismus, der auf dem Spielplatz dabei ist oder als Banknachbar in der Schule sitzt. Es könnte sein, dass die Vielfalt, welche für Erwachsene eine Bedrohung darstellt, für heutige Heranwachsende von Anfang an so sehr zum Lebensraum gehört, dass die Auseinandersetzung mit ihr Persönlichkeit, auch religiös, nicht verunsichert, sondern stabilisiert (vgl. zu diesem Problem Ziebertz 2002b, 142). Insofern ist die Problematik der religiösen Identitätsbildung durchaus ungeklärt: Wie z.B. ist das Verhältnis von „Verwurzeln“ und Dialogfähigkeit mit Anderen zu sehen, gibt es da eine zeitliche Abfolge (Englert 2002a, 34; vgl. Ziebertz 2002b, 142) und welche Konsequenzen für das erklärte Ziel der individuell offenen religiösen Person-Werdung? Die Zurückhaltung als Erhaltung des Eigenen erweist sich nicht nur für konfessionell Gläubige als schwierig. Das soll im Folgenden im Blick auf die Probleme des Religionsunterrichts noch ein wenig differenziert werden.
Dazu einleitend noch einmal generell: Der Pluralismus zeigt zur Zeit – vereinfacht gesagt – u.a. zwei Wirkungen, nämlich einmal das Bemühen um Akzeptanz und Gleichberechtigung des Verschiedenen, so schon bei Lessing in seiner Parabel von den drei Ringen (Religionen) und in unserer Zeit etwa bei Martin Buber in seinem Konzept der Religionen bzw. Kirchen als „Fenster“ in Richtung auf Gott; andererseits die zunehmende Angst vor dem Verlust des Eigenen, materiell und geistig, und die entsprechenden Absolutheitsansprüche, die z. Zt. im Nahen Osten den blutigsten Ausdruck finden. Die Idee, zwischen diesen Unmenschlichkeiten und unserem gegenwärtigen Ringen um eine zeitgemäße religiöse Erziehung eine Analogie zu sehen, erscheint als grotesk. Dennoch zeigen sich beide Tendenzen und ihre Polarität[38] auch hier. Die Erwartung an die Akzeptanz der Gleichberechtigung des Verschiedenen geht allerdings heute deutlich weiter als bei Lessing und Buber: sie umfasst, wie erwähnt, auch die „zweite Religion“ der Jugendlichen und selbst die Sinnsuche derjenigen, die früher einfach als „Atheisten“ bezeichnet wurden.
Unstrittig ist, dass religiöse Bildung zum Auftrag der Schule gehört, und zwar nicht nur in kirchlich gebundenen, sondern in den sog. allgemeinbildenden (öffentlichen bzw. staatlichen) Schulen, um die es im Folgenden geht. Das Problem besteht, vereinfacht gesagt, darin, dass man auf die Realität des Pluralismus etwa durch die Einrichtung eines sowohl ökumenischen wie interreligiösen Unterrichts für alle Schüler reagieren und die bisherigen Grenzen abbauen und neutral und objektiv über das Andere informieren will, zugleich aber die „Beachtung der unverlierbaren Momente, die für Kontinuität und Kohärenz im eigenen religiösen bzw. konfessionellen Bereich sprechen“, festhalten muss (Nipkow 1998, 149). Das Modell eines religiös neutralen Lernbereichs „Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde“ (LER) in Brandenbueg ist umstritten, u.a. weil mit der Bekenntnistabuisierung der religiöse Tiefgang fehle, d.h. weil die christliche Botschaft nicht mehr „lebensbedeutsam“ eingebracht wird (Schweitzer u.a. 2002, 12). Die Befürchtung Karl Ernst Nipkows (1998, 473), ein „strikt beschreibende[r] religionskundliche[r] Religionsunterricht“ führe in die Langeweile, übersieht, dass jeder gute Unterricht die ‚Botschaft‘ und das ‚Bekenntnis‘ des Lehrenden fordert, ohne zu indoktrinieren, d.h. dass entscheidend ist, „wie sehr er durch seine Person überzeugt, daß dieser Gegenstand für einen heute lebenden Menschen – z.B. für ihn – wichtig ist und Folgen hat“ (von Hentig 1984, 112). Eine derartige Ausstrahlung geschieht im Klassenraum, wie erwähnt, ohnehin, in jedem Augenblick – oder auch nicht. Die Frage ist nur, um welche ‚Botschaft‘ es dabei christlich bzw. gar konfessionell gehen soll. Was da allenfalls gelebt wird, ist viel weniger, viel bescheidener aber auch zentraler als die Masse der christlichen Tradition und Dogmatik. Auf die Bedeutung von Jesu Leben als Vorbild für Seins- bzw. Gottes-Vertrauen wurde hingewiesen.
Damit erscheint auch der Vergleich der kodifizierten Weltreligionen mit dem kodifizierten Christentum als fragwürdig, weil er eventuell das Wissen befriedigt, aber gelebte Religiosität nicht errreicht (Schweitzer 2002, 163). Es geht doch in aller Sinnvertiefung und eben auch religiösen Erziehung darum, dass der Heranwachsende ‚Sinne‘, ‚Antennen‘, einen ‚Durchblick‘ dafür entwickelt, dass die Bedeutsamkeit nicht mit ihm selbst aufhört, sondern dass er von einem allumfassenden Zusammenhang getragen wird, ohne dessen Wahrnehmung sein Ich letztlich bodenlos bleibt.
Der Hamburger Ansatz eines für alle Schüler gemeinsamen „dialogischen“ Religionsunterrichts mit Hilfe gemeinsam entwickelter Lehrpläne und Unterrichtsmaterialien, der die Lernenden als „Subjekte“ in ihren unterschiedlichen[39] religiösen und ethischen „Suchbewegungen“ ernst nehmen und zu „Lebenszuversicht“ führen will (Knaut 2005, 109; Ziebertz u.a. 2003, 203205), wird von Karl Ernst Nipkow (1998, 484 f.) als ethisch, aber nicht theologisch kritisiert. Der Religionsunterricht hat nur so lange eine „Zukunft“, wie die Kinder und Jugendlichen ihn bejahen (Nipkow 1998, 192). Diese sind zwar mehrheitlich für seine Beibehaltung, aber nicht „katechetisch“ als Einführung in eine religiöse Tradition, d.h. in den christlichen Glauben, sondern „religionskundlich-existentiell“; d.h. er soll über verschiedene Religionen informieren, aber auch helfen, „Antworten auf die Sinnfrage zu finden“ (Ziebertz u.a. 2003, 208, 420 f.).
„Einen katechetischen Religionsunterricht lehnen alle Jugendlichen ab […]. Einem religionskundlich-existentiellen Unterricht stimmen alle Jugendlichen – auch Bekenntnislose – eindeutig zu“ (a.a.O. 212 f.). Das bedeutet, die Jugendlichen drängen von sich aus, aufgrund ihrer Suche nach Sinnvertiefung, über die bloße Information hinaus. Und das impliziert, „religiöse Identifikationen“ (Nipkow 1998, 473) sind keineswegs ausgeschlossen, ergeben sich hier nicht aus Verkündigung oder gar didaktischer Planung, sondern eben „existentiell“. Das schließt nicht aus, dass sich bei Bedarf innerhalb der Gesamtgruppe Teilgruppen mit besonderen Schwerpunkten, auch einer Verkündigung und des Bekenntnisses, bilden. Das leitende Prinzip einer solchen religiösen Förderung lautet, wie erwähnt, „die Suchprozesse der Schüler/innen im Raum religiöser Pluralität hilfreich zu begleiten“ (Englert 2002a, 33) und das schließt ein, dass die Kirchen, so hieß es ebenfalls bereits, „in selbstloser Weise […] die nicht kirchlich behauste Religiosität unterstützen“ (Zulehner/Denz 1993, 238). Wenn Kirche das nicht will oder kann, läuft sie Gefahr,
„je mehr sie das ihr eigene christliche Bildungsangebot neu zu vermitteln sucht, desto mehr droht sie aufgrund der Strukturlogik der Individualisierungssemantik der subjektiven Anerkennungsfähigkeit ihrer Bildungsinhalte entgegenzuwirken und damit letztlich ihr pädagogisches Ziel zu verfehlen, religiöse Bildungsprozesse zu initiieren“ (Oertel 2004, 422).
Diese Paradoxie weist auf die Frage, was das „eigene christliche Bildungsangebot“ der Kirche meint: Gilt das für das Angebot der traditionell legendär überhöhten (theistischen) Christusgestalt oder für den von Jugendlichen gewünschten durch sein Leben vorbildlichen Menschen Jesus, der heute ja durchaus zum der Kirche eigenen Bildungsangebot werden könnte?
Der vorstehende Zusammenhang hat natürlich nicht nur Relevanz für den Religionsunterricht, sondern auch für das Überleben der Kirche überhaupt.
[40]1.3 Ausblick
„Tu nos fecisti ad Te,
et cor nostrum inquietum est,
donec requiescat in Te“.
Diese Glaubensaussage des Augustinus mit ihrem personalen Gotteserleben ist nach dem Vorstehenden zwar heute, auch im christlichen Kulturbereich, für viele Menschen, insbesondere Jugendliche, nicht mehr nachvollziehbar, doch sie lässt sich als anthropologische Feststellung auch 1600 Jahre nach Augustin zeitlos aufrechterhalten. Dass der Mensch auf dieser Erde als deren Teil (bzw. dem des „umgreifenden“ Kosmos) durch und durch auf sie und ihre Erhaltung angewiesen und insofern „auf sie hin“ angelegt ist, das ist wohl kaum zu bezweifeln.
Die Frage ist, wie der Mensch sich von der weiteren Zerstörung dieser seiner Lebensgrundlage und Be-Hausung abhalten lässt. Offensichtlich ist eine „Umkehr“ nötig. Doch die Warnungen vor den Gefahren (das Bild vom Untergang der Titanic wurde mehrfach gebraucht) liefern dazu erfahrungsgemäß keine ausreichende Motivation. In dem erwähnten Zitat Fulbert Steffenskys (2001) hieß es, zur „Umkehr“ würde man nicht „getrieben“, sondern „gezogen“, d.h. verlockt. Das bedeutet, die Genüsse, welche zur Zerstörung motivieren, z.B. das Streben nach „Wachstum“ und immer mehr Konsum und Erlebnis von Überfluss, lassen sich durch Erzeugung von Ängsten und durch Verbote nicht begrenzen, sondern müssen sich durch tiefer greifende Freuden als weniger attraktiv erweisen.
In einem aufschlussreichen Beitrag spricht Wolfram Kurz (2000) zwei Ebenen solcher Freude an. Die erste nennt er „Liebe zum Leben“. Was dem Menschen höchst wertvoll erscheint, z.B. der geliebte Partner oder hier das geliebte Leben oder die geliebte Welt, „dafür kämpft er“. Um diese Motivation bei Heranwachsenden zu wecken, wäre statt einer „Pädagogik der Angst“ eine solche des durch Liebe ausgelösten „schöpferische[n] Urtrieb[s]“ notwendig:
„Es geht darum, die Educanden so mit der Welt als Biotop für Pflanzen, Tiere, Völker, Menschen vertraut zu machen, daß sie sich in die Erde verlieben: in ihre Schönheit, in ihren Reiz, in ihr Geheimnis, in die Vielheit ihrer Farben, Formen, Phänomene. Nur wer liebt, wird die vielfältigen Mühen auf sich nehmen, all die kognitiven, affektiven und operativen Kompetenzen zu erwerben, die man erwerben muß, um die Erde zu bewahren und um ein menschliches Leben auf der Erde zu ermöglichen“ (Kurz 2000, 127).
Wolfram Kurz stützt diesen Ansatz auf einer vertieften Ebene durch die Botschaft Jesu von der Vergebung und der Befreiung des Menschen zur „Freude am Leben, zur Lust am Leben“ (a.a.O. 134). Die Freude, akzeptiert zu sein,[41] welche Jesus vermittelt, lässt ich auch ohne den Rückgriff auf die heute für viele nicht mehr zugängliche personale (theistische) Gottesgestalt erfahren: das in dieser Arbeit immer wieder bemühte „Umgreifende“ vermag eine letzte Sinnorientierung und –vertiefung zu gewähren und ist hier und jetzt, in jedem Augenblick eindruckvoll, wenn nicht zuweilen überwältigend, gegenwärtig, kann „Ehrfurcht“ und „Dankbarkeit“ (vgl. die entsprechenden Abschnitte in dieser Arbeit) auslösen – wie erwähnt für das, was die zeitlosen Alpenberge, das Unendliche des Meeres, eine Heidelandschaft, der Blick des Freundes, des Kindes, des Hundes oder der Sonnenkäfer auf der Fensterbank oder auch das Wunder unseres Körpers und Geistes uns zu sagen haben. Es kommt alles darauf an, das Verlockende einer „Umkehr“ zu dieser Sinnvertiefung in einer Erziehung zur „Achtsamkeit“ lebendig werden zu lassen.
Ein solcher Verzicht auf traditionelle theistische Dogmatik schließt nicht aus, dass der Mensch in seiner Not ein Du – etwa im Gebet „Herr erbarme Dich!“ – anruft und auf diese Weise Stützung erfährt. Wie in dieser Arbeit keineswegs kritisiert werden soll, dass viele Menschen sich von traditionellen Formen christlichen Glaubens leiten und erfüllen lassen. Die postmoderne Entwicklung hat durchaus auch ihre Grenzen.