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ОглавлениеKapitel 1
1992, Bill Clinton wird Präsident der USA. Der VFB Stuttgart wird deutscher Meister.
Das Großraumflugzeug Airbus A330 startet zu seinem Erstflug und meine Ehe bricht auseinander.
Wir hatten uns sukzessive auseinandergelebt und es nicht bemerkt.
Unsere Töchter gingen inzwischen eigene Wege. Sie hatten keines meiner Hobbys übernommen, oder Interesse daran gezeigt. Es waren beileibe keine langweiligen Hobbys, denen ich nachging. Fallschirmspringen, Tauchen, Surfen, Wasserski, alpines Drachenfliegen, Langstreckenläufe. Langweilig war es bei uns nicht.
Wir waren viel unterwegs und unternahmen das meiste gemeinsam. Am Anfang mit dem Zelt, später mit dem VW-Bus, an dem bald ein kleiner Wohnwagen hing.
Dann ergriff der Pferdevirus Besitz von unseren Töchtern. Elke, meine Ex, hatte das fortgeschrittene Stadium des Klucken-Syndroms erreicht.
Es kam, was kommen musste, die Trennung.
Eine versuchte Aussprache und der Versuch, die Weichen neu zu stellen, verliefen ergebnislos.
Ich beschloss den Rückzug, den Auszug aus der gemeinsamen Wohnung.
Wichtige Entscheidungen wurden bei mir eine Nacht überschlafen, das hatte ich in meiner Bundeswehrzeit gelernt.
Am nächsten Tag stand für mich der Entschluss fest, ich ziehe aus, mein neues Zuhause wird ein Wohnmobil. Ich stellte nur Ansprüche auf Handtücher, Bettwäsche und meine persönlichen Utensilien. Für mich begann ein neuer Lebensabschnitt.
Wir wohnten auf einem Flugplatz und betrieben eine Flugschule für Ultraleichtflugzeuge.
Ich war Ausbildungsleiter, Fluglehrer und Prüfer. Die Trennung sprach sich natürlich gleich herum. Es wurde nicht nur getratscht. Man glaubt es nicht, aber man wollte auch helfen. Auf die an mich oft gestellte Frage, wie fühlst du dich jetzt, das ist doch kein Leben in einem Campingfahrzeug, antwortete ich wahrheitsgemäß: frei, unglaublich frei,
ich bin ein glücklicher Mensch.
Ich habe alles, was ich zum Leben brauche.
Ein bequemes Bett, eine Küche, einen Kühlschrank, eine Toilette und eine Dusche, eine Heizung, klein, fein, mein!
Angebote, interimsmäßig bei Freunden zu wohnen, bis ich eine adäquate Bleibe finden würde, lehnte ich höflich ab.
Sauwohl fühlte ich mich. Mal übernachtete ich auf dem Flugplatz, mal in Eckernförde oder Kappeln.
Die Nordseeküste war auch nicht weit.
Da machte sich in den Fliegerkreisen die Kunde vom Wasserfliegen in den südlichen Gefilden breit.
Sprüche, wie: „Hast es auch gehört, Werner aus Göttingen ist mit drei Trikes in der Türkei und „baggert“ dort auf dem Wasser die „Touris“, machten täglich ihre Runde.
„Wiesbacher ist mit einem Ultraleichtflugzeug, umgebaut als Wasserflugzeug, auf der Insel Rhodos. Er verdient sich dumm und dämlich, die Wasserfluggenehmigung soll kein Problem gewesen sein.“
Diese und ähnliche Botschaften wurden in Fliegerkreisen emsig gehandelt und ließen mich nicht unbeeindruckt.
Es kam, dass über die Flugschule ein neues Ultraleichtflugzeug vom Typ IKARUS C22 verkauft wurde und ich es vom Hersteller zum Kunden überführen musste.
Das Herstellerwerk befand sich auf einem Flugplatz in Baden Württemberg.
Aus versicherungstechnischen Gründen wurden die Flugzeuge auf einen Spezialtrailer zum Kundenflugplatz gebracht.
Die erste große Tour mit meinem neuen Zuhause.
Hinten dran, der Trailer für den Flugzeugtransport.
Im Herstellerwerk angekommen, traute ich meinen Augen nicht. Stand dort nicht eine IKARUS C22 umgebaut als Wasserflugzeug! Wieder jemand, der damit ins “gelobte“ Land wollte, schoss es mir durch den Kopf.
Da war Wiesbacher auf Rhodos, erweitert der etwa seine Flotte? Ich wurde kribbelig.
Rüdiger, Mitarbeiter im Herstellerwerk, der Mann der alles wusste, den frage ich.
„Rüdiger“, brannte ich ihm meine Frage auf, „gehört die Maschine Wiesbacher?“
Die Stirn in Falten gelegt, über den Brillenrand schauend, antwortete Rüdiger:
„Nee, die gehört einem Griechen, Jannis Kraikos. Jannis ist kurz in die Stadt gefahren, er kommt gleich wieder. Ich mache euch nachher bekannt.“
Ich trat von einem Bein auf das andere. Gott oh Gott, was macht der Grieche so lange in der Stadt, wo ich doch so viele Fragen hatte?
Endlich, da kam Rüdiger in Begleitung eines Fremden in die Werkshalle.
„Darf ich vorstellen? Jannis, das ist Norbert, von dem ich dir erzählt habe. Er hat eine Flugschule in Schleswig-Holstein. Norbert, das ist Jannis.“
„Hallo Norbert, habe viel von dir gehört.“
„Hallo Jannis, freue mich, dich kennenzulernen.“
Rüdiger ließ uns alleine. Jannis erzählte mir, dass er in Deutschland aufgewachsen, dort sein Abitur gemacht habe und mit Marlis, einer Deutschen, verheiratet sei.
Sie lebten seit einigen Jahren in Griechenland. Jannis betrieb in Paliouri, auf Kassandra eine Watersport-Station. Kassandra ist der erste Finger der Halbinseln Chalkediki, südöstlich von Thessaloniki.
„Den Strand säumen gut besuchte Hotels, an potenziellen Kunden mangelt es also nicht“, bemerkte Jannis noch.
Sein Hauptgeschäft sei Wasserski, Banane und Ringe. Er habe keine Zeit zum Wasserfliegen.
„Was ist mit dir, Norbert, warum kommst du nicht zu mir nach Griechenland?
Ich mache Banane, Ringe und Wasserski, du kümmerst dich um das Wasserfliegen.“
Das hätte ich mir überhaupt nicht träumen lassen! Eine greifbare Möglichkeit in die Wasserfliegerei einzusteigen. Ich konnte es nicht fassen.
„Der Flieger hier ist verkauft“, fuhr Jannis weiter fort, „ohne das Zubehör für die Fliegerei auf dem Wasser, das könnte ich dir günstig mit der dazugehörigen Adaption überlassen.“
Schnell wurden wir handelseinig. Für abends verabredeten wir uns mit Rüdiger zum Essen, natürlich beim Griechen.
Im Laufe des gemütlichen Abends wurden Nägel mit Köpfen gemacht.
Ich verabredete mich mit Jannis zum Treffen in Paliouri auf Kassandra, direkt am Strand, wo Jannis seinen Strandbetrieb hatte.
Im Laufe des Julis sollte ich dort eintreffen, dann wären genügend Touristen da.
Wir haben jetzt Mitte März, dachte ich kurz nach, da habe ich noch Zeit einen Abstecher nach Süditalien zu machen, um meinen guten Freund, den Optiker Gino Brunellisi zu besuchen.
Zum ersten Mal hatte ich für die Dauer des Besuchs im Herstellerwerk kein Zimmer reserviert. Ich hatte ja mein neues Zuhause dabei.
Ein unbeschreibliches, neues Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit durchströmte mich.
Auf meiner Rückreise dachte ich immer wieder über das Gespräch mit Jannis nach und träumte von Griechenland.
Als zusätzliches Gepäck zu dem neuen Flieger, den ich in Niedersachsen übergeben sollte, hatte ich die Schwimmeradaption und die Schwimmer von Jannis Flieger mit im Gepäck.
Gestern war noch alles Gerüchteküche, heute fast Realität. Der Gedanke an Griechenland und dem Wasserfliegen durchzog mich mit einem Wohlgefühl.
Zu Hause angekommen wurde sofort an der Realisierung des Vorhabens gearbeitet.
Willi konstruierte und baute einen neuen Trailer, der den Anforderungen, problemloses Be- und Entladen des Wasserfliegers, gerecht wurde.
Eine C22 aus dem Flugschulbestand war entbehrlich und wurde als Wasserflugzeug umgerüstet. Es musste noch eine Ausrüstungs- bzw. Zubehörliste erarbeitet werden, dann konnte das Packen und Verladen beginnen. Was benötige ich alles, fragte ich mich?
Das Moped, Marke Simson, muss auf alle Fälle mit, dann braucht das Wohnmobil nicht für jede Kleinigkeit bewegt zu werden.
Für den Wasserflieger einen Anker und Kettenvorlauf, damit der Anker hält. Ankerseil, Bojen, Treibstoffkanister, Werkzeug, Abdeckplanen.
Leere Getreidesäcke, die vorort mit Sand gefüllt werden sollten, um den Flieger am Strand gegen Sturm zu sichern. Gummirollen, damit er über den Strand geschoben werden konnte. Werkzeug, Fett zur Schmierung der Bolzen undundund….
Was man eben so braucht!
Es wurde montiert, gepackt und geladen. Ca. drei Tage vor dem Abreisetermin kam der Tag der Wahrheit, die öffentliche Waage!
Es ist jetzt erst mal an der Zeit mein Wohnmobil vorzustellen.
Hersteller Adria. Ein Alkovenmodell auf Peugeot Basisfahrzeug. Länge 5,90 Meter, 75 PS Saugdiesel (zieht keinen Hering vom Teller) großer Sanitärraum, separate Dusche, Dachbox für Gepäck, Aufbauklimaanlage, Solarpaneelen zur Stromerzeugung.
Vor der Fahrt zur Waage wurde das Mobil vollständig aufgerüstet: Diesel, Wasser, Zusatztanks mit Wasser, Bekleidung, Campingmöbeln, Lebensmitteln usw.
Nur noch den Trailer mit dem Flieger dranhängen, damit ich ein Gefühl bekomme, wie es sich mit dem neuen Trailer und seiner Beladung fahren würde und ab zur öffentlichen Waage.
„Hallo und moin, moin, bitte einmal das Wohnmobil wiegen, dazu stelle ich mich mit auf die Waage“, sagte ich und schob einen 10-Mark-Schein, die Gebühr für das Wiegen, über den Tresen.
„Jo, mok man, geid ook glig los“, antwortete der Mann in dem grauen Kittel, während er höchst interessiert den Anhänger musterte.
„Dreedusendveerhundertneegentig Kilo“, rief er mir zu.
„Klasse“, freute ich mich, „dann ist alles im grünen Bereich.“
„Sall de Anhänger ook noch woogen warrn?“, fragte er jetzt, mit einem lauernden Unterton in der Stimme, als wüsste er das Ergebnis?
„Ich weiß nicht“, antwortete ich, „ist ja eigentlich nicht viel drauf. Der Flieger wiegt mit den Schwimmern 335 Kilo, ja und dann noch das Moped und ein bisschen Zubehör.“
Ich hatte Angst vor der Wahrheit.
„Nu bis du jo hier dormit, denn loot em man ook wegen.“
„Gut, machen wir“, willigte ich ein.
„Dammi noch mol, dor mut ober wat rünner, 1,8 tunnen!“
Der Anhänger wurde auf die Schnelle noch mal umgebaut und die Ausrüstungsliste zusammengestrichen.
Immer wieder wurden ungläubige, ja zynische Fragen gestellt.
„Wo wolltest du damit noch mal hin, Norbert?“
„Nach Griechenland.“
„Und in welchem Jahr wolltest du dort eintreffen?“
Anspielungen auf den 75-PS Saugdiesel.
Man glaubte nicht, dass ich mit dem Gespann jemals in Griechenland ankommen, oder die Kassler Berge schaffen würde, vom Brenner ganz zu schweigen.
Ein 75-PS-Saugdiesel zieht nichts vom Teller!
Der Tag der Abreise war gekommen. Mit Jannis, der nach dem Kennenlernen im Herstellerwerk nach Griechenland zurückgekehrt war, hatte ich telefonisch noch verschiedene Einzelheiten besprochen. Eine Fähre von Italien nach Griechenland z.B. sollte ich noch nicht buchen, das sei vor Ort effizienter. Der beste Weg wäre in meinem Fall die Fähre von Brindisi/Italien nach Igoumenitsa/Griechenland und dann über den Katara Pass durch Thessaloniki auf die Halbinsel Kassandra nach Paliouri. So würde er, Jannis, immer fahren. Naja, dachte ich, Jannis muss es ja wissen.
Dina, meine kleine, weiße Mischlingshündin wich mir nicht mehr von der Seite. Die ständigen Aktivitäten der letzten Tage hatten ihr signalisiert, dass Außergewöhnliches bevorstand.
Dina war für mich nicht nur meine Hündin, sondern auch meine treue Freundin und Sozialpartnerin.
Ihr Körbchen war vor dem Beifahrersitz platziert. Während der Fahrt hatte sie ihren Platz auf dem Beifahrersitz, angeschnallt natürlich.
Der Verabschiedungsbahnhof war groß, einige wären bestimmt gerne mitgekommen.
Es war ein Hingucker, dieses Gespann.
Das Dach des Wohnmobils war bestückt mit zwei Aluboxen und einer Topbox.
Für die Bordstromversorgung sorgten zusätzlich zwei Solarpaneelen, die auf dem Dach des Wohnmobils installiert waren. Willy hatte fürs Heck eine Halterung konstruiert und angebaut, auf der ein 220-V Stromaggregat diebstahlsicher seinen Platz hatte. Aluminiumkanister für zusätzliches Trinkwasser hatten ihren Platz an der Heckleiter.
Über der Heckbox befanden sich zwei verzinkte 10-Liter-Eimer, die konnten mal nützlich sein, dachte ich mir.
Darunter war ein 30 Meter langer Gartenschlauch platziert. Die gewichtsmäßige Unbedenklichkeitsbescheinigung lag in Form eines Wägeberichtes, Gesamtgewicht, Gewicht Vorderachse und Hinterachse, in den Reisepapieren.
Der ungebremste Trailer war noch etwas überladen. Wie viel, werde ich hier nicht verraten. Auf alle Fälle war die Simson dabei, was sich später als äußerst vorteilhaft herausstellte. Der Rumpf des Fliegers war mit seinem Fahrgestell auf die Schwimmer montiert.
Das Ganze wiederum wurde auf einer von Willy konstruierten gittermäßigen Plattform befestigt, die praktisch einen relativ offenen Deckel des Trailers darstellte. Die jeweils sechs Meter langen Tragflächen hatten ihren Platz auf beiden Seiten des Rumpfes. In gepolsterten Rungen, in Fahrtrichtung untergebracht, sollten sie die fast 3000 km lange Reise schadlos überstehen.
Der Propeller musste nicht abgebaut werden, er passte mit seinem Umfang zwischen die seitlich des Fliegers stehenden Flächen.
1992 war noch die D-Mark gültige Währung und ein „Navigationsgerät“ für den Straßenverkehr war für mich ein Fremdwort. Alles ging noch nach der guten, alten Karte. Um Punkt 11:00 Uhr wurde der Motor meines fahrbaren Zuhauses angelassen und die Räder begannen, sich Richtung Griechenland zu drehen.
Feste Etappenziele waren nicht geplant, der Weg sollte das Ziel sein. Mit zivilem Brummen trieb der 75-PS Peugeot-Saugdiesel seine Besatzung dem Ziel entgegen.
Die Marschgeschwindigkeit betrug 80 bis 90 km/h. Mit gebührendem Abstand floss das Aufmerksamkeit erregende Gespann, auf der rechten Seite der Autobahn im Lkw-Strom mit.
Dass unser Gespann oft überholt wurde, störte mich überhaupt nicht, der Weg war das Ziel.
Wir waren nicht das langsamste Fahrzeug.
Brummis aus den osteuropäischen Ländern und der DDR fuhren teilweise noch langsamer. Selten gab es für mich eine Gelegenheit diese Fahrzeuge zu überholen. Kaum aus dem Windschatten heraus, war es, als hielt eine Geisterhand das Wohnmobil zurück.
Ich stellte mich auf ein entspanntes Mitgleiten ein.
Die Strecke am Harz vorbei ließen wunderbare Erinnerungen wach werden.
1973 flog der Amerikaner Mike Harker mit einem Rogallo-Drachen von der Zugspitze. Dieser Flug war in Deutschland die Geburtsstunde des Drachenfliegens oder Hängegleitens, wie diese Sportart noch genannt wird.
1976 wird in der Bundesrepublik Deutschland die Gurtpflicht auf Vordersitzen von Pkw eingeführt. Die Vereinigten Staaten feiern den 200. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit. Mit dem Tod von Mao Zedong endet die Kulturrevolution in der VR China. Und ebenfalls 1976 schrieben Rudi und ich uns am Rammelsberg, an dessen Fuß die Stadt Goslar liegt, in die Harzer Drachenflugschule ein, um diese ursprünglichste Art des Fliegens zu erlernen.
Der Rammelsberg hat immerhin eine Höhe von 600 Metern.
Gerne erinnere ich mich an diese Zeit und an Jürgen, dem Besitzer und Leiter der Drachenflugschule. Ein außergewöhnlicher Mensch, der in kein Klischee passte.
Der Harz gab einen ersten Vorgeschmack auf die Kassler Berge. Runterschalten bis auf den zweiten Gang! Die osteuropäischen Kollegen hängten den 75-PS-Saugdiesel nicht ab. Faktisch hätte ich sie hier überholen können, fand aber den wieder
neu, bzw. zwangsläufig entdeckten Trend, „zurück zur Langsamkeit“, entspannend.
Dazu trugen natürlich auch die Pausen für meine Reisegefährtin Dina bei.
Die Kassler Berge meisterte das 75-PS Triebwerk klaglos. Die Kühlwassertemperatur blieb im grünen Bereich. Teilweise wurde ein Runterschalten in den ersten Gang unumgänglich.
Bergab ging es nicht schneller! Hier musste die Fahrweise angepasst sein, der Anhänger hatte keine Auflaufbremse!
Diese Art zu reisen ließ die Wahrnehmung der durchaus abwechslungsreichen und wunderschönen deutschen Landschaft entlang der Autobahn zu.
Schnellfahrern und Rasern bleibt dieser beeindruckende visuelle Genuss versagt.
Ich respektiere und liebe die Natur. Jede Minute gab es Neues zu sehen oder zu bewundern.
Am zweiten Tag unserer Reise wurden wir von der Polizei vor der Raststätte Feuchtwangen mit noch anderen Fahrzeugen von der Autobahn herausgewunken.
Ein freundlicher Beamter erklärte, dass es sich um eine allgemeine Verkehrskontrolle handele.
Nachdem der Beamte die Fahrzeugpapiere und die Fahrerlaubnis kontrolliert hatte, überprüfte er noch visuell das Reifenprofil, Beleuchtung und Blinker.
„Wir müssen noch eine Wägung vornehmen, dazu fahren Sie bitte langsam mit den Vorderrädern auf diese Waage.“
„Ich habe einen Wägebericht dabei, vor einer Woche war ich auf einer öffentlichen, amtlich anerkannten Waage.“
„Zeigen Sie mal her. Ja, das ist o.k., Sie sind aber haarscharf dran. Wo wollen Sie hin?“
„Nach Griechenland!“ antwortete ich, mit dem Unterton eines Entdeckers. „Dort möchte ich mit dem Wasserflugzeug fliegen.“
Wir standen neben dem Trailer und der Beamte hatte noch viele Fragen zu Griechenland und dem Wasserfliegen.
Mit einem gut gemeinten Rat, sich noch in Deutschland eine Vignette für Österreich zu kaufen und diese vollständig in die Windschutzscheibe einzukleben, da sie nur dann gültig sei, entließ er uns, die Griechenlandfahrer.
Der Wägung des Trailers war ich noch mal entgangen.
Während der bisherigen Reise ließen sommerliche Temperaturen erahnen, was wir südlich der Alpen zu erwarten hatten. Ein tolles Gefühl, ich war mit mir und der Welt zufrieden. Die separate Dusche im Wohnmobil sorgte während der Pausen für eine wohltuende Erfrischung.
Die Landschaft veränderte sich zusehends, der Voralpenraum rückte näher.
Für Flachländler und Küstenmenschen ist dieser Anblick immer wieder atemberaubend.
Deutlich war zu erkennen, dass die ersten alpinen Giganten, die einem am nächsten sind, dunkle Farben in ihrem Erscheinungsbild hatten, sie waren nah.
Je weiter sie entfernt sind, desto bläulicher und konfuser ist ihr farbliches Erscheinungsbild.
Diese natürliche Begebenheit in Bezug auf Entfernung und Farbe macht sich die Malerei zunutze.
Auf der letzten deutschen Tankstelle vor dem Grenzübergang Kufstein kaufte ich eine Vignette und klebte sie ordnungsgemäß in die Windschutzscheibe. Da ich nicht wusste, wie es mit den Ver- und Entsorgungsstationen in Italien aussah, versorgte ich mich hier noch mit Frischwasser, ließ das Grauwasser ab und leerte die Fäkalienkassette. Übrigens, während der Pausen auf den Raststätten wurde eifrig über die Fracht auf dem Trailer spekuliert und gerätselt.
„Ist das ein Hubschrauber?“
„Das kenne ich, habe ich mal auf dem Starnberger See gesehen, damit fliegt die Polizei Kontrolle.“
Alles nur Gerede, obwohl man nichts wusste, musste den anderen was erzählt werden. Man machte sich wichtig und wurde bewundert.
Das wenige, mitgenommene Bargeld ging für das Tanken in Deutschland drauf.
So war es geplant.
Aus Sicherheitsgründen sollte auf der weiteren Tour die Bankkarte ihren Dienst tun. Fast jede italienische Raststätte hatte einen Bankautomaten, an dem man problemlos Geld in
der Landeswährung abheben konnte.
Das wusste ich noch von den Fahrten zum alpinen Drachenfliegen in der Nähe von Bassano del Grappa und in Santa Maria di Castellabate, südlich von Neapel, in Campania.
Vier riesige Tabbert-Wohnwagen, mit dicken Mercedes-Limousinen als Zugwagen, wurden gerade von einer Gruppe österreichischer Zöllner kontrolliert. Kein einfacher Job, dachte ich mir, denn die dunkelhäutigen Frauen und Männer der Gespanne redeten wild gestikulierend auf die Zöllner ein.
Ich wurde zügig durchgewunken und setzte meine Fahrt Richtung Brenner fort. Griechenland, wir kommen, ging es mir gut gelaunt durch den Kopf. Strahlend blauer Himmel, teilweise schneebedeckte Bergkuppen und Außentemperaturen von 26 Grad sorgten für eine nicht überzogene Erwartungshaltung.
An der Autobahnabfahrt Zillertal, Mayrhofen, wurden Erinnerungen an unglaublich schöne alpine Drachenflüge wie z. B. von der Höhenstraße, dem Penken oder dem Ahorn wach. Das waren unauslöschliche Erinnerungen.
Das fragwürdige Gefühl im Sessellift mit dem sechs Meter langen Drachenpaket auf dem Schoß wurde ich nie los.
Der Sessellift, oder die Gondel, brachte die Drachenflieger zu den begehrten Startplätzen auf 1000 bis 2000 Meter und mehr.
Die Anspannung wich nach dem gelungenen Start dem unbeschreiblichen Gefühl vogelähnlichen Fliegens. Bäuchlings, mit dem Gesicht zur Erde, gleitet der Hängegleiterpilot im Hangaufwind oder in der Thermik, manchmal stundenlang und lautlos durch die Lüfte. Gestreichelt von der Luft, erschließen sich ihm grandiose Ausblicke. Hätte mir jemand nach der Landung eine Tüte Vogelfutter gereicht, ich hätte sie dankend angenommen.
Zu der Zeit war das Drachenfliegen noch Pionierleistung und nicht ohne Risiko.
Es wurde ohne Helm und Rettungssystem geflogen.
So war es damals 1977.
Der Drachensportverein „Zillertaler Jochgeier“ lud 1977 zu einem Flugwettbewerb ins Zillertal ein. Aus Deutschland folgten der Hamburger und der Harzer Drachensportverein der Einladung mit vier Drachenfliegern. Bei drei Flugdisziplinen und einem Rennrodeln galt es zu punkten.
Das hieß, von dem Rennrodeln erfuhren wir erst nach der Ankunft im Zillertal.
Diese Disziplin lag uns Flachländler überhaupt nicht.
Um für etwas Ausgleich zu sorgen, durfte sich jeder Flieger, auch die Österreicher, eine Rodlerin einladen, die für zusätzliche Punkte sorgen sollte.
Die fliegerischen Disziplinen bestanden aus Ziellanden, Zielabwurf und Zeitfliegen.
Ziellanden hieß, in der Mitte des Zielkreises zu landen.
Beim Zielabwurf musste ein Gegenstand so dicht, wie es nur ging, aus dem Fluge, in die Mitte des Zielkreises abgeworfen werden.
Mit einem Messgerät wurde die Höhe des Fluggerätes gemessen, je tiefer desto genauer konnte man zielen. Aber, je tiefer geflogen wurde, desto mehr Minuspunkte wurden vergeben. Beim Zeitfliegen gab es für die bis zur Landung verbrachte Zeit in der Luft Pluspunkte. Fürs Rennrodeln galt, je schneller die Ziellinie erreicht und überquert wurde, desto mehr Punkte konnten verbucht werden.
Auf das Fliegen freute ich mich riesig, das Rodeln lag mir im Magen.
Ich hatte total vergessen, mir eine Rodlerin an Land zu ziehen. Die infrage kommenden, sportlich erscheinenden Damen waren alle vergeben.
Im Edeka-Laden in Fügen arbeitete Gabi, in der Wurst- und Fleischabteilung. Sie war klein, ausgesprochen zierlich und sah gut aus.
„Hallo Gabi, weißt du, ich brauche noch für morgen Abend eine Rodelpartnerin“, warb ich um Gabi. „Würdest du für mich rodeln?“
„Aber klar doch Norbert, ich freu mich darauf.“
Wäre es ein Schönheitswettbewerb gewesen, hätte es für Gabi die ersten Punkte gegeben, wie wollte sie beim Rodeln punkten? Egal, dachte ich mir, dabei sein ist alles.
Der Wettergott meinte es gut mit den Drachenfliegern. Werner aus Goslar, die
Startnummer Zehn legte einen Fehlstart hin, der glimpflich verlief. Werner war lauffaul!
Bei nicht ausreichendem Gegenwind reichten seine wenigen gemächlichen Laufschritte nicht, um den Drachen zum sicheren Fliegen zu überreden.
Er blieb mit dem Steuerbügel am Hang hängen. Der Steuerbügel zerbrach. Das rechte Seitenrohr knickte mit einem lauten Krachen auf fast 90 Grad um. Werner erlitt ein paar Prellungen, sein linkes Auge verfärbte sich zusehends. Der Biss in die Lippe blutete heftig. Die Startnummer Zehn aus Deutschland fiel für den weiteren Wettbewerb aus.
Werner wurde auch Scarface, Narbengesicht, genannt. Die Narben stammten nicht vom Drachenfliegen. Werner war noch einer von der Sorte Männer, die ihre Rivalitätskämpfe mit den Fäusten auszutragen pflegten. Ausgerechnet ich zog die Startnummer Dreizehn und schaute Gabi hilflos an.
„Dreizehn bringt Glück, Norbert, du wirst sehen“, tröstete sie mich.
Startplatz war die Höhenstraße im Zillertal in 1600 Meter Höhe.
„Nächster Pilot zum Zielabwurffliegen, Norbert Krüger, Deutschland, Startnummer Dreizehn“, tönte es aus dem Lautsprecher.
Mein Aufruf, also, ab an den Start und los. Der Start verlief problemlos. Ich lief, was das Zeug hielt. Die total ruhige Luft versprach turbulenzfreies Fliegen, einen Flug wie auf
„Wattebäuschchen“.
Auch das noch!
Mein Zielabwurf hatte sich in der „Schürze“, eine Art Matte, in der man beim Fliegen bäuchlings mit dem Gesicht nach unten liegt, verhakt.
Während ich versuchte, Herr der Lage zu werden und mich krampfhaft bemühte, den Zielabwurf zu ergreifen, näherte ich mich dem Zielkreis.
Höhe hatte ich noch keine verloren. Eine schlechte Voraussetzung für einen guten Zielabwurf, da das Zielen aus großer Höhe außerordentlich schwierig werden würde.
Na endlich, da hatte ich das Ding, zack und weg. Es war mir aus der Hand gefallen! So ein Mist, klar doch, Startnummer Dreizehn bringt Glück, dachte ich noch enttäuscht. Nachdem der letzte Pilot gelandet war, wurden die Ergebnisse bekannt gegeben.
Ich dachte, ich hätte was mit den Ohren.
„Die Startnummer Dreizehn, Norbert Krüger, Deutschland, hat die Höchstpunktzahl mit 100 Punkten erreicht“, verkündete der Ansager.
Nur das deutsche Lager jubelte über meinen Erfolg!
Der zweite Wettbewerbstag brachte mich in den weiteren Disziplinen auf die Plätze eins bis drei.
Gabi hatte recht, die Dreizehn war zumindest für den Flugwettbewerb eine Glückszahl und würde mich auf das Siegertreppchen bringen, wenn da nicht noch das Rennrodeln wäre.
Am dritten Wettbewerbstag war für den späten Nachmittag das Rodeln vorgesehen, bei Scheinwerferlicht mit echten Rennschlitten, auf einer richtigen Rennrodelbahn.
„Das wird doch nie was für uns, Xaver“, beschwerte ich mich beim 1. Vorsitzenden der
Zillertaler Jochgeier, „ich habe noch nie auf so einem Ding gesessen; das hat mit Schlitten fahren doch nichts mehr zu tun; wie steuert man so ein Ding überhaupt?“ fragte ich noch mit einem leicht wütenden Unterton und fühlte mich von den Zillertalern vorgeführt.
„Da sitzt du nicht, Norbert, da liegst du drauf, schau her“, zeigt Bertl, ein Österreicher, mir die richtige Liegeposition.
„Gesteuert wird er durch Verwinden, du musst ihn vorne, entweder links oder rechts, hochziehen, willst du Bremsen, ziehst du beide Seiten gleichzeitig kräftig hoch, eine Hand kannst du zur Steuerung hinter dir auf die Bahn drücken, das passt schon, wirst sehen“, beendete er seine Kurzeinweisung.
Ich hatte mir die Hände und das Gesicht mit einer Körperlotion eingerieben, da ich die Gesichtscreme nicht finden konnte. Körperlotion ist für das Gesicht nicht gerade das Richtige. Meine Augen tränten unerlässlich.
Dass es mit dem Skioverall ziemlich glatt auf dem Schlitten war, hatte ich beim Probeliegen festgestellt. Der Anblick der vereisten Rennbahn im Scheinwerferlicht war Furcht einflößend.
„Start Nummer Sieben, Uwe Wassertal, Deutschland, bitte an den Start“, tönte es aus dem Lautsprecher.
Uwes Rodelpartnerin hätte Gewichtheberin sein können.
Sie sollte nach Uwes Durchlauf starten, dann würden beide Zeiten addiert werden. Wo bleibt Gabi, dachte ich, als sie die Treppe zum Startvorplatz hochkam.
„Hallo, Norbert, du weißt, wie der Schlitten funktioniert?“ lächelte sie mich an.
„In etwa“, antwortete ich, „ein, zwei Tage Training wären fairer und besser gewesen!“ In Erwartung auf den Start kroch ein beklemmendes Gefühl in mir hoch.
Was flog da durch die Luft? Schon die erste Kurve hatte Uwe nicht geschafft. Er schoss über den Rand und fiel in die darunter liegenden Strohballen. Das kann ja heiter werden, dachte ich laut mit Blick auf Gabi.
„Er war zu schnell, wenn du dran bist, Norbert, lass es langsam angehen, hörst du?“
Da, wieder schoss einer über den Rand, diesmal ein Österreicher. Während ich mir die Tränen aus den von der Lotion gereizten Augen wischte, sah ich, wie eine Person auf dem Rennrodel sitzend und mit beiden Füßen auf der Bahn, die Kurve im Schneckentempo nahm.
„Wer ist das denn, das mache ich auch, so kommt man wenigsten durch die Kurve“, rief ich und klang nicht gerade begeistert.
„Das ist Silvia, du weißt doch, die Frau von Helmut Wilder“, folgerte Huber.
Dann wurde mein Start aufgerufen.
„Startnummer Dreizehn, Norbert Krüger Deutschland, bitte an den Start.“
So ein beschissenes Gefühl hatte ich noch nicht mal beim Drachenfliegen gehabt. Ein Gang zur Schlachtbank konnte nicht schlimmer sein.
In gebückter Haltung schob ich mit kräftigen, schneller werdenden Laufschritten den Rennschlitten vor mich her. Mit einem kühnen Schwung platzierte ich mein Gesäß in die vordere Mitte des Schlittens, legte mich sofort rücklings hin und drückte, wie empfohlen, die rechte behandschuhte Hand zur Steuerungsunterstützung auf das Eis der Bahn.
Verdammt noch mal, dachte ich, ist der Skianzug glatt!
Ständig musste ich meine Liegeposition korrigieren, um nicht vom Schlitten zu rutschen. Sehen konnte ich nichts, der Fahrtwind hatte meine Augen in Wasserfälle verwandelt.
Mein Kopf flog von links nach rechts, über mir sah ich schemenhaft Lichter vorbei flitzen. Wann kommt die Kurve, die verdammte Kurve, dachte ich, krampfhaft meine Liegeposition korrigierend.
Ein Ritt in die Hölle, das geht nicht gut, ich hätte nicht mitmachen sollen, bereute ich meine Fahrt, als es heller wurde und viele Stimmen „Halt, Halt, zieh hoch, Halt“, riefen, ja schrien!
Dann gab es einen lauten Knall, ich hatte das Gefühl die Schallmauer durchbrochen zu haben, als dieser Höllenritt urplötzlich zu Ende war und ich mit dem Kopf nach vorne in einen Strohhaufen schoss.
Lebe ich oder bin ich tot?
„Langsam, Norbert, geht es die gut? Tut dir was weh? Kannst du aufstehen?“
Besorgte Fragen brachten mich in die Realität zurück.
Ich antwortete: „Mir geht es gut“, dann zögerlich nachgeschoben, „glaube ich.“
Das war wirklich ein Höllenritt, den ich da hingelegt hatte. Von der Fahrt hatte ich in Ermangelung meiner Sehfähigkeit nicht viel mitbekommen, zudem überlagerte der Gedanke vom Schlitten zu fallen alle anderen. Eine Fahrt ohne Raum und Zeit.
Dort, wo Halt geschrien wurde, befand sich die Ziellinie, da hätte ich bremsen müssen. Ungebremst war ich über die Ziellinie geschossen, nach rechts abgekommen, durch ein geschlossenes, vergammeltes Scheunentor gerast und dann zwischen den Rädern eines Pferdefuhrwerks durch kopfüber in einen Strohhaufen gelandet!
Wie viele Leben hat eigentlich ein Mensch?
Kaum zu fassen, ich hatte für diesen Wettbewerb die Bestzeit gerodelt.
Gabi, meine Rodelpartnerin, das zarte Geschöpf, errodelte den zweiten Platz.
Jetzt erst erfuhr ich, dass Gabi Zillertaler Rodelmeisterin und Tiroler Vizemeisterin war!