Читать книгу Kon-Tiki auf dem Murmelsee - Fritz Leverenz - Страница 4

Das erste Kapitel erzählt

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von der Idee eines Wellensittichs,

vom Foto eines Bärtigen,

davon, dass ein Müllschlucker außer Gerüche, noch andere

schlimme Nachrichten verbreitet,

und dass eine wichtige Beratung verschoben wird.


Die erdfarbene schneelose Zeit, die noch immer Winter genannt wurde, ging vorüber. Mit kräftigen Flügelschlägen flogen drei Schwäne das Krumme Fließ entlang zum Murmelsee. Es war ein regnerischer Tag und die Leute blickten misstrauisch aus ihren warmen Hochhausfelsennestern in die graugrüne Landschaft. Auch Tim Brausewetter war an diesem Nachmittag zu Hause. Er lag ausgestreckt in seinem Zimmer auf dem Fußboden und las in einem Buch. An spannenden Stellen stupste er mit der flachen Hand seine Stupsnase in die Höhe, oder wühlte aufgeregt in seinem dunklen Haar, das sich in zerzausten Girlanden um seinen Kopf ringelte. Was ist mit dem Jungen bloß los?, dachte Großmutter, die aus der Küche herüber sah. Liegend kannte sie Tim nur abends im Bett. Er wird doch nicht krank sein? Vielleicht war das Aprilwetter zu kühl. Ich weiß nicht, was ich dem Bengel bei diesem Wetter anziehen soll. Morgens Schneeflocken, mittags Frühlingssonne, nachmittags Herbstregen. “Möchtest du warmen Tee trinken?”, fragte sie Tim. “Hmm, ja, nur nicht zu krümelig.” “Wie bitte? Krümelig? Der Pfefferminztee?” Großmutter blickte besorgt. Es wird doch nichts Ernstes sein. Sie kannte ihren Enkel. Wenn der sich erkältete, dann richtig. Fieber. Husten. Tagelang im Bett. Doch seit einigen Wochen hatte Tim ein Fieber gepackt, das sie noch nicht kannte, eine Unrast, die ihn nicht einmal im Schlaf zur Ruhe kommen ließ. Es kribbelte Tim in Kopf, Händen und Füßen, sobald er aus der Schule kam. Selbst jetzt, während er las, schwebten seine Gedanken außerhalb des Buches wie ein Netz, in dem sich Abenteuerideen verfangen sollten. Tim hätte es nicht sagen können. Er suchte unbestimmte, überraschende, verblüffende Einfälle. Er sah die Welt voll der unglaublichsten Wunder und buntschillernder Dinge. Er wollte das Leben so sehen, dass ihm am Morgen beim ersten Augenaufschlag das Herz rascher klopfte, die Füße wie von selbst aus dem Bett sprangen und sein Gesicht jede aufkommende Schlechtwetterwolke verscheuchte. Er brauchte eine Idee, die Tobi begeisterte. Sollte er weiße Mäuse mitnehmen zu Tobis Meerschweinchen? Nein, das hatten sie schon probiert. Das gab kein bisschen Aufregung. Mäuse und Meerschweinchen vertrugen sich blendend. Eine Katze? Nee, das brachte Ärger. Sollten sie Knallplätzchen knallen lassen vor der Tür des dürren Herrn Zauselnies? Auch Quatsch! Knallplätzchen zischten bloß, davon erschrak sich Herr Zauselnies in zehn Jahren nicht. Tims Blicke glitten durchs Zimmer und blieben am hellblauen Wellensittich Jacki hängen. Jacki müsste ein Raubvogel sein. Er kramte Papier und Bleistift aus seinem Basteltisch und zeichnete eine erregende Jagdszene: Ein Riesenwellensittich stürzt sich mit harkenähnlichen Krallen auf ein Tier, das einen Fuchs darstellte. “Sieh, mal, Oma!” Tim lief mit dem Zeichenblatt wedelnd auf den Flur und schlug die Zimmertür hinter sich zu. Frau Neumann guckte erstaunt über den Rand ihrer Brille. “Der Vogel Greif? Wie kommst du darauf?” Vertieft in seinen fehlgedeuteten Raubvogel, ging Tim zurück in sein Zimmer. Da hörte er es rascheln. Neugierig warf er sich hin und blickte auf dem Boden umher. Jacki tippelte vor der Tür hin und her, vergeblich bemüht, mit einem Papierschnipsel durch den dielenfreien Spalt zu gelangen. Tim lag auf dem Bauch und sah dem Vögelchen interessiert zu. Er stupste sich einige Male gegen die Nase und schnitt ein Gesicht, als stünde er kurz vor einer wichtigen Entdeckung. “Ich hab’s!”, rief er plötzlich, “ich habe es!” und sprang auf. ”Ich rufe nur rasch Tobi an.” Seine Augen glänzten, als er ans Telefon ging. Großmutter atmete auf, als sie ihren Enkel munter wie immer sah. “Bitte, wenn es so dringend ist.” Tobi, Tobias Krumbiegel, war Tims bester Freund und saß in der Schule eine Bank vor ihm.

Tim ruft Tobias an

Hatte Tim eine neue Idee, erfuhr Tobi sie zuerst. “Tobi? Du. Ich habe einen tollen Plan. Ja. Gleich morgen früh. Hole mich zehn Minuten früher ab als sonst. Unten an den Briefkästen, tschüs!”

Den Rest des Abends beschäftigten Tim noch eine Reihe wichtiger Besorgungen: Ein Blick ans Schlüsselbrett, eine alte Zeitung, die er zu Heftgröße gefaltet in seine Gesäßtasche steckte und langes Kramen in seinem Basteltisch. Am nächsten Morgen klingelte Tobi wie verabredet. Tim begrüßte ihn stürmisch durch den Türlautsprecher, griff seine Schultasche und rannte die Treppen der acht Stockwerke mehr fliegend als laufend hinunter, um einiges schneller als der Fahrstuhl. Unten landete er außer Atem und mit gewichtiger Miene, als wüsste er ein Geheimnis und könne es nur schwer verbergen. Tobi blinzelte ihn an und fragte: „Na, was haste?“ Er ahnte Gewaltiges. Tim reichte ihm mit unbewegtem Gesicht einen schweren Schlüssel und sagte: “Komm’ mit in den Keller!” Tobi folgte ihm. Vor einer grauen Stahltür hielt Tim. “Schließ’ bitte auf!”, forderte er. Tobi schloss die Tür auf. Dumpfer Gestank drang ihnen entgegen. “Pfui, Teufel! Das ist der Müllraum”, rief Tobi und rümpfte enttäuscht die Nase. “Dafür bin ich zehn Minuten eher gekommen?” “Bitte, schließe mich jetzt hier ein“, sagte Tim unbewegt, „und geh‘ zur Schule. In zwei Minuten komme ich hinterher.” “Einschließen? – Aha, du hast einen zweiten Schlüssel.” “Nein, Ehrenwort, du kannst den Schlüssel ja außen stecken lassen.” Tobi glaubte nicht an Zauberei. “Willst du durch den Müllschlucker klettern?” “Bin ich ein Stinktier? – Außerdem, passe ich da nicht durch.” Tobi war sprachlos. Tim konnte sich doch nicht in Nebel verwandeln und wie ein Flaschengeist durchs Schlüsselloch kriechen. Mit gerunzelter Stirn schloss er Tim in den stinkenden Raum und klinkte probeweise. Ein wenig tat sein Freund ihm leid. “Soll ich wieder aufschließen?”, fragte er. “Nein!”, kam es von drinnen, “geh‘ endlich! Sonst kommen wir zu spät zur Schule.” Zögernd stieg Tobi einige Stufen hoch, blieb nachdenklich stehen und kehrte rasch um. “Ich weiß, wie du rauskommst. Du wartest, bis jemand in den Keller geht, und dann rufst du um Hilfe.” “Die Leute sind arbeiten, oder geht dein Vater so früh am Morgen in den Keller?” „Stimmt“, dachte Tobi, „so leicht kommt Tim bis zum Unterrichtsanfang nicht frei“. Im Müllraum raschelte es. “Kramst du in den Abfällen nach einem Schatz? Oder ... du wartest auf die Müllautos.” “Quatsch! – Reite endlich los!” “Na, schön. Wenn ich aus der Schule komme, schließe ich wieder auf”, tröstete Tobi seinen Freund und ging. Es wurde Zeit. Sollte Tim schmoren und den Unterricht versäumen.

Tim lauschte den verklingenden Schritten, bis die Haustür ins Schloss fiel. Er hatte die Zeitung aus seiner Hosentasche sorgsam entfaltet. Wie er sie jetzt mit der Hand glatt strich, fiel sein Blick auf das Foto einer Gruppe Männer in Arbeitskleidung. “Getränkefirma Müller & Meyer” stand unter dem Foto zu lesen. Tim kniete auf der Zeitung und las wie gewöhnlich die Namen. Er las sie zweimal, dreimal und noch einmal und schluckte an einem Kloß. Der dritte Mann von links hieß – Brausewetter. Sollte dieser vollbärtige Mann, der seine Kollegen um Kopfeslänge überragte, sein Vater sein? Tim zitterten die Hände. Stimmte es, sah er seinen Vater jetzt zum ersten Mal. “Mein Vater”, flüsterte er. „Vater“. Wie ungewohnt das Wort klang. Er drückte seine Nase beinahe ans Foto, um dem bärtigen Brausewetter in die Augen zu sehen. Doch das Foto war unscharf, und der Mann verbarg seine Augen hinter einem Grauschleier. Tim wollte das Foto gut aufbewahren. Vielleicht kam er irgendwann einmal zur Getränkefabrik. Nur Tobi wollte er das Foto zeigen. Tim schreckte aus seinem Nachdenken. O, je, die Schule. Wie lange saß er schon hier unten? Tobi würde sich bereits freuen. Er blickte auf die Stahltür. Hoffentlich ging es hier auch so glatt, wie zur Probe an seiner Zimmertür. Er nahm die ausgebreitete Zeitung und schob sie durch den Spalt unter der Tür, bis nur noch ein schmaler Rand hervor sah. In der Stille hörte er sich selbst atmen. Da, mit einem Mal ein Höllenlärm im Müllschacht. Scheppernd und polternd, wie Gespenster mit schweren Ketten, stürzte es aus der Höhe und zerschellte klirrend im Stahlcontainer. Tim presste sich erschrocken an die Tür. Jetzt hörte er Männerstimmen. Sie schallten dumpf, als steckten die Männer kopfüber im Schacht. Tim verstand jedes Wort. Nahe der Öffnung die knarrende Stimme gehörte Herrn Zauselnies. Der also warf Flaschen in den Müll, dieser Knausel. Jetzt rückte die zweite Stimme näher, und Tim erkannte die Stimme von Herrn Piepenbusch. Dieser ungemütliche Dicke. Da haben sich die beiden Richtigen getroffen, dachte er. Sie wohnten einander gegenüber in der dritten Etage. Erneut rauschte eine Ladung in den Container. Diesmal eine leisere. “Wissen Sie ... unerhört ... bodenlose Frechheit ... Zum dritten Mal in dieser Woche keine Zeitung. ... aus dem Briefkasten ... Ventile aus den Fahrradreifen ... “ Herr Piepenbusch stöhnte entrüstet. “Wer weiß”, knarrte die zweite Stimme, “ wie viele Briefe schon entwendet worden sind ... nichts ... der heutigen Jugend heilig ... dieser Tim Brausewetter ... dieser andere Lümmel ... dieser ...” “Tobias”, ergänzte Herr Piepenbusch. “ ... sagte ich ... gestern zu meiner Frau ... Hildchen, sagte ich, wenn das nicht dieser Tim Brausewetter ... stiftet noch unseren Hans-Martin an ...”

Oben schlug dumpf die Klappe zu, und Tim hörte nur noch unverständliches Gemurmel. Sprachlos und zornig lehnte er an der Tür. So eine Gemeinheit. Na, denen würde er es noch zeigen. Er guckte auf seine Taschenuhr. “Ach, du liebe Zeit ...” Nun käme er wohl doch verspätet. Hastig fummelte er aus seiner Hosentasche eine Drahtrolle, bog ein Stück davon gerade und stocherte damit im Schlüsselloch den Schlüssel in die richtige Lage. “Sachte! Sachte! Fall‘ bloß nicht neben die Zeitung!”, redete er dem Schlüssel leise zu. “Bitte, Bitte! Sonst muss ich hier im Gestank schmoren, bis Tobi mir großmütig die Tür aufschließt, und die ganze Klasse wird mich auslachen.“ Tim ächzte vor Anstrengung und drückte schließlich den Schlüssel mit leichtem Stoß aus dem Schloss, der mit leisem Klirren in den Kellergang fiel. Tim hielt den Atem an. Die Postfrau, die eben Zeitungen in die Briefkästen steckte, hielt inne. Vorsichtig zog Tim die Zeitung unter der Tür zu sich und atmete erleichtert auf: Fein säuberlich lag der Schlüssel darauf. Rasch steckte er die Zeitung wieder ein und schloss erleichtert die Tür auf.

Indessen hatte Tobi siegesgewiss im Klassenraum von einem zum anderen schlendernd geheimnisvoll verkündet, er ahne, was Tim beträfe, heute noch Unangenehmes. Zumindest würde Tim einige Unterrichtsstunden schwänzen, wenn er sich heute überhaupt noch sehen ließe. “P! Tim schwänzt nie”, rief Katja entrüstet, und blickte Tobi verächtlich an. Sie konnte es nicht leiden, dass Tobi so von ihrem Freund sprach. Jetzt kam er ihr zwar nicht mehr so nahe. Schade! Seit sie in der ersten Klasse oft mit Tim Hand in Hand nach Hause gegangen war, nahm sie ihn, wo sie konnte, in Schutz. Tobi setzte sich rechthaberisch auf seinen Stuhl und sagte: “Na, ihr werdet ja sehen!” Noch war Tims Stuhl hinter ihm leer.

Es klingelte zur Stunde. Die Tür ging auf und alle starrten, wer da wohl eintreten werde. Fräulein Kreidemeier trat in den Raum. Tobi schnitt Katja eine Grimasse. Die warf ihren Kopf zurück und machte: “P!” Die Lehrerin nahm das Klassenbuch und fragte, noch hatte sie den leeren Platz nicht entdeckt: “Wer fehlt?” Tobi hob die Hand. Da klopfte es und Tim trat ein. Tobi hob sich halb vom Stuhl und sperrte Mund und Augen auf. “Weshalb kommst du verspätet?” fragte Fräulein Kreidemeier. “Ja”, antwortete Tim zögernd, “ich bin in den Keller gegangen, wollte alte Zeitungen bündeln ... Da habe ich meinen Vater getroffen – und ... mich verspätet.” “Deinen Vater? Im Keller?” Tim nickte, zog die Zeitung aus seiner Hosentasche, entfaltete sie und zeigte der Lehrerin das Foto. “Hier, der Dritte - mit dem Bart.” Fräulein Kreidemeier sah Tim gütig an und strich ihm übers Haar. “Ist gut. Setz’ dich, bitte!” Noch halb in der Kniebeuge starrte Tobi auf Tim, als sei ein Geist erschienen. Der drückte ihm den Kellerschlüssel in den Rücken und zischte: “Du wolltest mich doch befreien.”

In der Pause fragte Tobi Tim: “Eh, Alter, wie bist du so schnell aus dem Müllraum gekommen? Hat dein Vater dich rausgelassen?” Tim zeigte ihm das Zeitungsfoto. “Hier, das ist mein Vater.” Tobi las die Bildunterschrift: “ ... Brausewetter ...” “Mensch, Tim! Du hast einen Vater.” “Klar. Das wusste ich schon vorher.” “Besuchst du ihn?” “Ich weiß ja nicht, wo er wohnt.” “Du musst ihn suchen. Vielleicht sucht dein Vater dich auch und weiß nicht, wo du wohnst. - Und – wer hat dir die Tür aufgeschlossen?” Tim verzog nur ein wenig die Lippen, als er sagte: “Das bleibt mein großes Geheimnis.” “Ich kann es mir denken.” “Wenn du es rätst, schenke ich dir mein Fernglas.” Dieses Angebot wog stärker als ein Schwur. Tobi schwieg beeindruckt. Dann bettelte er leise: “Tim, sag’s mir, ich quassel’s auch nicht weiter.” “In zehn Jahren vielleicht”, sagte Tim. Sollte Tobi in seiner Neugier schmoren. “Zauberer verraten ihre Tricks auch nicht, sonst würde sie nämlich niemand mehr bewundern. – Ich habe eine andere Idee.” Und er erzählte seinem Freund, von dem Gespräch, das er sich durch den Müllschlucker hatte anhören müssen. Tobi war empört. “Das ist gemein von diesen Heinis, uns so laut zu verdächtigen.” “Seit der großen Schneeballschlacht, weißt du, bei der Peter Knispel ein blaues Auge bekam, kann mich Zauselnies nicht mehr leiden”, sagte Tim. “Das werden wir deinem Großvater erzählen, damit er mit den beiden mal richtig schimpft.” “Nein, der regt nur unnötig sein krankes Herz auf, und außerdem gibt es Streit im Haus, und Herr Piepenbusch und Herr Zauselnies knallen tagelang mit den Türen. Die Beleidigung werden wir ihnen zurückzahlen. – Pause. – “Donnern und Knallen! – Tobi, ich glaube, ich habe eine Idee.” Tobi überlegte noch und sagte dann: “Eigentlich haben sie dich gar nicht angesprochen. Du hast nur gelauscht.” “Hmm.” Tim sah seinen Freund unsicher an und antwortete dann heftig: “Nee, Tobi! Piepenbusch hat’s dem Zauselnies gepetzt. Und der quatscht den Verdacht jetzt von der ersten bis zur elften Etage hoch, Piepenbusch erzählt es seiner Frau, dann hört es Pflaume, und schon weiß es die halbe Schule. Das genügt. – Weißte, wir müssen denen was Neues zu quatschen geben. Ich weiß auch schon, was.” Hinter ihnen tauchte Hans-Martin auf, und sie verabredeten, die Beratung ihres Schlachtplanes zu verschieben. Die Kellergeschichte war bald vergessen, und die Tage schleppten sich wieder gleichförmig dahin wie das träge Wasser vom Krummen Fließ.

Kon-Tiki auf dem Murmelsee

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