Читать книгу Kon-Tiki auf dem Murmelsee - Fritz Leverenz - Страница 5
Das zweite Kapitel erzählt
Оглавлениеvon einem Wort, an dem sich Kopf und Zunge stoßen,
wie Tim und Tobi von der Schatzsuche auf Bäume geraten,
von einer Jagd beinahe in Seenot
und wie schwer es ist, eigenen Träumen zu glauben.
An einem sonnigen Apriltag, an dem es einen wirklichen Jungen nicht in der Wohnung hielt, bummelten Tim und Tobi, die Hände in den Hosentaschen vergraben, die Humboldtstraße entlang, die vom Sportplatz in den Stadtforst führte. Sie blickten suchend auf das Kopfsteinpflaster, als wollten sie die Steine zählen. “Verstehst du,” fragte Tim, “was Fräulein Kreidemeier meinte mit Dipli ... Dip..., mit – Diplizin?” “Nee.“ „In meinem Heft steht auf jeder Seite dreimal: ‚Tim muss dipli..., displizinierter sein!’” “Bei mir noch öfter. Ich glaube, diese dämliche Displizin fällt mir deshalb so schwer, weil ich das Wort gar nicht aussprechen kann.” “Dieses Wort ist sicher bloß für Erwachsene”, sagte Tobi und schoss mit dem Fuß eine leere Bierdose zu Tim. Tim schoss sie scheppernd zurück. Die Sonne blinzelte durch die ersten zarten Blätter der Eichen. Von Gras und Erde stieg den Jungen der frische Duft weiter Natur in die Nase. Sie hoben wieder die Köpfe und blickten forschend in die Gegend, musterten aufmerksam jeden Grasbüschel, denn eigentlich gingen sie hier entlang, um einen Schatz zu finden, alte Knochen oder Ähnliches. Tim hatte nämlich in der Zeitung gelesen, Arbeiter seien an einer Straße auf ein uraltes Grab gestoßen, in dem neben einem Skelett Goldmünzen, verrostete Löffel und andere interessante Dinge gelegen hätten. “So ein Schatz liegt manchmal dicht unter der Erde”, sagte Tim, “und wir wissen das gar nicht und treten täglich mit den Füßen drauf herum.” “Wollen wir gleich hier anfangen zu graben?”, fragte Tobi und suchte ratlos den Straßenrand ab. “Quatsch! Dazu brauchen wir erst einen Schatzgräberplan und einen Spaten ...” Da sie beides augenblicklich nicht bei sich hatten, verschoben sie die Schatzsuche auf ungewisse Zeit und schlenderten, nach neuen Abenteuern suchend, die Straße hinunter. Es war eine ruhige Straße, eine Allee, an deren beiden Seiten graustämmige Roteichen wuchsen. Im Herbst aber verfärbten sich ihre schwungvoll gezackten Blätter zu leuchtendem Rot, und hatten sich ausreichend Leute an der Farbenpracht erfreut, erlosch sie zu ledernem Hellbraun. Wochentags kam hier der Sportlehrer mit seinen Schülern vorüber und am Wochenende Fußballfans und Wanderer. Die Allee führte nämlich am Sportplatz vorüber, endete am Wald und gabelte sich dort in zwei Wanderwege. “Guck, ein Kletterbaum!” Tobi zeigte auf eine Eiche, die den Jungen ihre Äste zum Klettern einladend entgegenstreckte. “Das sind alles Kletterbäume”, stellte Tim fachmännisch fest. “Aber da kommen wir nicht rauf”, gab Tobi, der immer etwas vorsichtiger war, zu bedenken. “Klar! Ich komme rauf!” “Kommst du nicht.” “Ich komme ...” “Nie!” “Immer!” „Nie und nimmer!“ Um jeden Zweifel auszuschließen, es gäbe auch nur einen Baum in der Allee, den er nicht bezwänge, sagte Tim: “Ich werde auf jeden Baum in der Humboldtstraße klettern. – Gleich jetzt fange ich an.” Endlich konnte er wieder etwas Prickelndes beginnen. Die beiden Abenteurer waren ans Ende der Allee gelangt, wo sie mit hohen Birken an den Eulenforst grenzte. Tim turnte nicht, wie sonst, am Wanderpilz herum, sondern ging geradewegs auf die erste Birke los. “Mit diesem Baum werde ich beginnen”, sagte er. “Und ich?”, fragte Tobi. “Du kletterst mit.” “Nein, ich warte hier unten”, sagte Tobi und setzte sich abseits ins Gras, damit er Tim zusehen konnte. “Okay.” Es war eine ausgewachsene Birke, an die Tim sich heranwagte, deren Stamm erst einige Meter schräg und dann wieder aufrecht wuchs. An dieser Stammkurve streckte sie ihren ersten Ast aus. An dem kahlen Stamm zu klettern, forderte Tims ganze Kraft. “Halte fest! Fall’ nicht! Gut! Weiter!”, feuerte Tobi ihn an. Tim krallte seine Finger in die rissige Steinborke und setzte verbissen einen Fuß vor den anderen. Nach mühseligen Minuten hing er vor Anstrengung schnaufend am Ast. Von dort bis in den Wipfel dauerte es nur wenige Augenblicke, und schon stand er wieder neben Tobi. “So, das war Nummer eins. Ich nenne sie Räuberbirke, weil nur Räuber da raufkommen und niemand weiter.” Tobi guckte das endlose Baumspalier entlang und fragte: “Okay! Und wie willst du dir die erkletterten Bäume merken?” “Ja, wie ... Ich ritze in jeden Stamm meinen Namen.” Tim erinnerte sich an die Worte von Förster Hegebaum und sagte: “Nur ein kleines Kreuz und ganz flach.” Es dämmerte, und sie trotteten zurück. Tim zählte die Bäume auf der rechten Straßenseite und Tobi auf der linken. Als sie am Sportplatz anlangten und zusammenzählten, schwiegen sie einen Moment erschrocken von der Zahl, sie hatten einhundertachtunddreißig Bäume gezählt. Tobi sah Tim bewundernd an, so dass Tim sicher war, sein Freund traue ihm auch die restlichen einhundertsiebenunddreißig Bäume zu. Und das war ihm ebenso wichtig, wie das Klettern selbst.
Einige Tage ging es so fort mit dem Klettern. Tim kam aus der Schule, erledigte in Rekordzeiten seine Hausaufgaben, lernte dann und wann ein Gedicht beim Geschirrabwaschen und traf sich mit Tobi in der Humboldtstraße. Zweiundvierzig Eichen war er in wenigen Tagen ins Geäst geklettert. Seine Hände und Beine waren zerschrammt, eine Hose zerschlissen. Auf vier oder fünf Bäume war Tobi seinem Freund gefolgt. Doch nach dem ersten Riss in seiner Hose und dem endlosen Abendvortrag seiner Mutter über Hosenpreise und über die Rücksichtslosigkeit gewisser Jungen, wurde ihm Tims Dickköpfigkeit zu anstrengend. So saß er meistens unter den Bäumen, sammelte die braunen Eicheln des Vorjahres, setzte ihnen ihre verlorenen Hüte auf, oder warnte Tim vor trockenen Ästen und Zweigen. Gewiss hätte Tim noch jeden Wipfel der Humboldtstraße erstiegen, gäbe es nicht so viele andere wunderbare Erlebnisse, die ihn begeisterten, wie Fußballspielen, Raketen basteln, aus Wasser, Salz, Pfeffer und Puddingpulver ein Hexengift erfinden, Fahrradputzen, und wären die Großeltern an den Wochenenden nicht wie alljährlich mit ihm in ihren Garten am Rande Berlins gefahren. Ein Trost nur, dass Tobi häufig mit ihm fuhr.
Der Garten war kein gewöhnlicher Obst- und Gemüsegarten. Er stand umrandet von hohen Birken, Kiefern, Douglastannen und Serbischen Fichten. Haselnusssträucher trennten den vorderen, robusten Fußball-rasen, vom hinteren Garten, in dem ein prächtiger Apfelbaum stand. Zwei uralte Landsberger Apfelbäume hatte Großvater ausgegraben. Einen ebenso alten Birnbaum der Sorte “Gute Luise” aber hatte er stark entholzt, ihm die Äste gestutzt und für Tim als Kletterbaum stehen gelassen. Wie wunderte er sich zwei Jahre später, als frisches Grün an den Stümpfen des Baumes Blüten trug und im Herbst so viele Birnen, wie noch in keinem seiner Jugendjahre. Da Tim und Tobi immer mit dem Kopf voller Baupläne durch den Garten streiften, fanden sie für jedes Material, das der Großvater besaß oder fortwerfen wollte, Verwendung. Rostige Nägel, Bindfäden jeder Art und Länge, selbst trockene Zweige sammelten sie und nutzten sie für ihre Bauwerke. Die beiden Landsberger verwandelten sich flugs in ein Piratenschiff, welches mit seiner schwarzen Flagge und den beiden berühmten Seeräubern “Tim Eisenhand” und “Tobias Enterbeil” sämtliche Seeleute der Weltmeere des hinteren Gartens in Angst und Schrecken versetzte. Vor allem, und das lag an der ewigen Flaute in diesen Gartengewässern, kam Tim und Tobi auf ihren Baumschiffen eine neue bewegtere Idee. Ein Gartenwochenende später ging es los. Es war der sechzehnte April. Sie heuerten ab vom Piratenschiff, überließen den Rest der Mannschaft und das Schiff ihrem Schicksal und zogen als Jäger in die gestutzte Gute Luise. In die äußersten Äste ihrer Spitze zimmerten sie sich aus alten Brettern, Ästen und Zweigen einen Hochstand. Dort saßen sie und blickten stundenlang in die umliegenden Wälder aus Zaunhecke, jungen Kiefern und Brombeergestrüpp, und turnten Eichhörnchen durch die Bäume, tschilpten Spatzen in der Nähe, schossen sie Rehe und Hirsche, und als des Nachbars schwarzweiße Katze durch den Garten schlich, auch einen Luchs. Tobi war dafür gewesen, die Katze für einen Leoparden zu halten, doch Tim wollte bei heimischem Wild bleiben, wie er sagte. In Jagdpausen, dann, wenn sich kein Wild zeigte, schauten beide sehnsuchtsvoll hinunter aufs Meer, und wären gern wieder aufs Schiff umgestiegen. Doch es lag so unbeweglich und still. Könnte es doch ein klein wenig schaukeln, nur ein bisschen schwanken, dachte Tim. Es braucht ja nicht wirklich fahren, nur ein wenig schwanken. Wie auf echtem, nassem Wasser. “Ein richtiges Schiff auf dem Meer müssten wir haben”, seufzte er. “Ein richtiges Schiff?!”, sagte Tobi. “O, ja. Aber das erlaubt mein Vater nie.” “Na, es kann ja ein kleines Schiff sein”, meinte Tim. Ein Boot. Ganz für uns allein.” “Ein Boot ist zu teuer”, sagte Tobi. “Und aufs Meer dürfen wir in hundert Jahren nicht.” “Aufs Meer brauchen wir ja nicht, aber auf richtiges Wasser. Und - es kann ja ein kleines Boot sein, weißt du.” Tim blickte auf das verlassene Piratenschiff, und seine Augen begannen zu glänzen, als er sagte: “Weißt du ..., zehn Baumstämme nebeneinander.” “Ein Floß?!”, flüsterte Tobi, “ja, das wär’ schön.” “Mit einem Floß auf dem Murmelsee – mit Micha, Mücke und Struppi”, träumte Tim laut. “Eh, Alter”, sagte Tobi staunend, “die beste Idee, die ich kenne.” Tim wollte das Bild dieser Idee sogleich vor sich sehen. Rasch stieg er vom Hochstand, holte aus dem Gartenhäuschen Papier und Bleistift und begann seine Vorstellungen aufzuzeichnen. Tobi war ihm neugierig gefolgt und bestaunte die Skizze, die ein Floß darstellte. Sie begannen nun, die Jungen ihrer Klasse als Mannschaft auf das Floß zu verteilen und schrieben ihre Namen auf das Blatt. Auf der Rückseite notierten sie notwendige Materialien für den Bau und die Fahrt des Floßes. Als sie sich über Länge und Breite des Floßes geeinigt hatten, blickten sie stolz auf die Zeichnung. Dann stiegen sie eilig wieder auf ihr Apfelbaumschiff, welches geduldig vor den Pfirsichbäumchen ankerte. Tobi, vorn, wirbelte das Steuerrad aus zwei gekreuzten Tomatenstangen, als wäre es ein Propeller und könnte mit dem Schiff fortfliegen in seine Träume. Tim, hinter ihm aufgerichtet auf einem Gartenstuhl, kommandierte: “An die Segel, Matrosen! Beeilt euch! Wir sind die Erforscher auf dem Krummen Fließ. Steuermann, Backbord! Es gibt Sturm! Gleich fahren wir aufs Meer. Sch – sch – sch, die Wellen schlagen über unser Schiff. Festhalten! Haltet euch fest!” Tim schwankte mit dem Stuhl hin und her und blickte furchtlos vor sich in die Schaumkronen heranstürzender Brecher aus zartrosa Pfirsichblüten. Sie brachten ihn in arge Gefahr. Er verlor den Halt auf seiner Kommandobrücke und musste auf den Gartenweg springen. Der Sand unter seinen Füßen ernüchterte ihn. Da stand er, blickte verträumt auf Tobi, der noch immer wild sein Steuerrad kurbelte, blickte auf das wie festgerammte unbewegliche Schiff, und für Augenblicke bremste die Wirklichkeit des Tages seinen Traum. Tobi rief: “Halt! Matrosen! Mann über Bord! Rettungsboote aufs Wasser! Rettungs-leinen! Rettungsringe! Tim Eisenhand, halte dich! Wir kommen.” Als er aber Tim nachdenklich sah, hörte er auf zu kurbeln und sagte leiser: “Los, Männer, legt euch in die Riemen! Haifische in Sicht.” Wenn Tim sich erst riesig freute, zeichnete, bastelte und dann so vor sich hinstarrte, wurde es Tobi unbehaglich. Er ahnte die empfindliche Stelle ihres Plans. “Ti-im.” “Ja.” “Glaubst du ..., dürfen wir das Floß bauen?” Tim würde “ja” sagen. Er sagte immer “ja”, aber Tim schwieg. Tobi blickte verunsichert. Beiden Jungen war zumute, als hätte es bei schönstem Sonnenschein begonnen, Eisstücke zu hageln.