Читать книгу Der graue Kater und der kleine Frosch Ulysses - Fritz Leverenz - Страница 5

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Die Balkontür stand spaltbreit offen, und der Graue Kater roch den Frühling. Es gab für ihn zwei Jahreszeiten: die Wohnung und der Frühling. Den Frühling, der für ihn bis zum ersten Schneefall dauerte, nannte er die Schöne Jahreszeit. Er wohnte im sechsten Stockwerk. So hoch, dass er die Wohnung mit dem gelben Berberteppich, den Stuhlbeinen, Kissen, zwei weichen Sesseln, der Couch, der Fußbank, dem Kühlschrank sowie dem roten Fressnapf, als die Welt ansah und die Welt als seine Wohnung. In dieser Welt lebten Frau Barbara, Herr Friedrich, gelegentlich Besucher und vor allem – er selbst. Die Weltanschauung des Grauen Katers hatte offenbar durch seinen Aufenthalt in der Großstadt sehr gelitten. An Erlebnisse in regennassen Gräsern, in sonnenwarmem Sand konnte er sich nur noch vage erinnern. Blickte er deshalb den rasch ziehenden Schönwetterwolken so häufig nach?

Er streckte seine Nase in den frischen Luftzug, schlüpfte auf den Balkon, überwand seine Furcht vor der Tiefe, sprang auf die Brüstung und legte sich zwischen die Primelkästen. Die Sonne wärmte sein Fell und er lauschte den langatmigen, doch interessanten Worten des Windes von dessen bevorstehender Weltreise; träumte lieblich beim Gesang der Vögel, als hätte er nicht erst gestern einen Grünfinken von der Brüstung geschlagen und gefressen.

Sowie er aber den Wind in seinem Fell spürte, duckte er sich lauernd, blinzelte aus Augenschlitzen, vertraute bloß seinen geschmeidigen Muskeln, seinen scharfen Zähnen und wetzte seine Krallen an dem krummen Stück Pflaumenbaum, das Herr Friedrich für ihn aus dem Garten mitgebracht hatte. Er glaubte, aus dem Gezwitscher der Vögel erfahren zu haben, dass man ihm Mitgefühl und Sanftheit als Schwäche auslegte und ihn dafür verachtete. Deshalb äußerte er in seinen kurzen Gesprächen mit der Mehlschwalbe, Frauen seien Schwächlinge, von ihren Gefühlen beherrscht und nicht ernst zu nehmen. Glaubte er sich jedoch unbeobachtet, lag er, den Kopf auf den Pfoten, und träumte mit offenen Augen in die Ferne, erinnerte sich an ein wunderbar freies Gefühl, an seine Kindheit in der Prignitz im Mai vorigen Jahres. Seine Mutter, eine schwarz-weiß gefleckte Katze, die Clown gerufen wurde, und seine fünf Geschwister lebten dort. Doch nie würde er von seiner Sehnsucht sprechen. Nur die Mehlschwalbe, die den Frühling auf seinen Reisen begleitete, wusste von der Sanftmut hinter den Krallen und Zähnen. Erst kürzlich hatte sie den Grauen Kater seufzen und im Schlaf sprechen hören, wie er sich nach Freunden sehnte, mit ihnen Abenteuer zu erleben, über seine Einsamkeit zu reden. Sie behielt ihr Erlebnis für sich, doch sagte sie zu ihm, als er erwachte: „Um Freunde zu finden, musst du dich noch gewaltig ändern...“

Oft glitt sie dicht über ihn hinweg, und er spürte den Luftzug ihrer Flügel. Sie rief ihm Grüße zu. Auf seinem Balkon hatte sie begonnen, ihr Nest zu bauen. Nach dem Mord an dem Grünfinken aber zog sie es vor, auf dem katzenlosen Balkon nebenan zu nisten. „Dein heißer Blick macht mich nervös“, sagte sie beim Auszug. Vor jedem Anflug auf ihr neues Zuhause aber flog sie einen Umweg über seine Blumenkästen. „Aus Gewohnheit an den früheren Weg“, erzählte sie dem Wellensittich aus der zehnten Etage. „Aus Sympathie für den jungen Kater“, schwatzte der Wellensittich in die Gegend. Doch wer blickt schon in das Herz einer Mehlschwalbe?

„Ich grüße dich von Sikesö“, zwitscherte sie schon von Weitem. Da zuckte der Graue Kater zusammen, und sein Räuberherz bebte vor Sehnsucht nach der Schönen Jahreszeit, nach Freunden, nach Klettern auf Bäumen und Dächern und nach Mäusejagden. „Ich grüße von Sikesö den großherzigen, edelmütigen Grauen Kater“, rief sie diesmal mit spöttischem Unterton. „Zwar erkenne ich nichts an dir, das dich sympathischer macht als jede gewöhnliche Stadtkatze, es sei denn, man nennt deinen Hängebauch nett. Dann allerdings gehörst du zu den edelmütigsten Katzen. Doch Sikesö besteht auf ihre Grüße an dich. Ich habe ihr von dir erzählt – und nichts verschwiegen. Doch ist sie so gutmütig, dich zu bewundern und – zu bedauern.“

Der Graue Kater schluckte ihre kleinen Bosheiten, denn sein Herz schlug rascher bei jedem Blick, den die Mehlschwalbe ihm zuwarf. Er wurde nicht müde zu hören, wie sie von Sikesö erzählte, schon der Klang dieses Namens ließ ihn von jemandem träumen, an den er sich schmiegen, mit dem er durch die Natur streifen konnte. Wüsste er nur...

Lange verbarg er seine Neugier. Eines Tages jedoch fragte er sie barsch: „Sag’, wer ist diese – Sch- Schikeschö, dass sie mir Grüße bestellt?“ Er sprach den Namen mit leichtem Sigmatismus, den er sich in seiner Kindheit durch häufiges Fauchen zugezogen hatte. Und die Mehlschwalbe lachte über seine verunglückten Zischlaute. Sie empfand ihr Lachen zwar als taktlos, da ihr aber dem Grauen Kater gegenüber außer treffenden Worten kaum eine andere Waffe blieb, quälten sie ihre Bedenken nicht lange.

„Du kennst Sikesö nicht?“ fragte sie. „Deine Bewunderin, deine wohl einzige Freundin“, dabei senkte sie lächelnd die Stimme, als der Graue Kater ihr enttäuscht in die Augen sah, „die kleine Schildkröte vom Nachbarbalkon?“

„Aha“, sagte der Graue Kater schnurrend, „Sch- Schikeschö, doch, ja, ja“, und er schloss die Augen, um seine Unwissenheit zu verbergen. Ihn ärgerte, dass diese kindische Mehlschwalbe so selbstverständlich mit Namen umging, die er nicht einmal kannte. Er hörte das kleine Mädchen von neben an, diesen Namen häufig rufen. Schildkröten aber hatte er noch nie gesehen. Einen Moment lang fühlte er sich an eine dünne rothaarige Katze aus dem Heuhaufen über dem Prignitzer Kaninchenstall erinnert, die stets aufdringlich und kratzbürstig mit ihm hatte raufen wollen. Herr Friedrich hatte ihn dort bei einem Besuch seines Bruders, Herrn Jörg, im Heu entdeckt und mit nach Berlin genommen.

Im Einklang mit der lieblichen Stimme der Mehlschwalbe, hielt der Graue Kater Sikesö ebenso für die Schöne Jahreszeit, wie die Sonne und den launischen Wind.

Sikesö hieß mit früherem Namen „Susi“. Das konnten Mehlschwalbe und Grauer Kater nicht wissen. Vor Jahren in ihrer Kleinkindsprache hatte das Mädchen Romina die Schildkröte Sikesö ausgesprochen, und ab sofort hieß Susi Sikesö. Romina wohnte in der Wohnung nebenan, und ihre Großeltern besaßen den Garten neben Frau Barbaras und Herrn Friedrichs Garten.


Der Graue Kater fand es in der Wohnung behaglich. Er liebte die weichen Ruheplätze auf Kissen und Couch. Zufrieden dachte er an den täglich einmal gefüllten Fressnapf und an eines seiner drei Lieblingsmöbel außer Kleiderschrank und Couch, den Kühlschrank, an dessen Kanten er sich gern schmiegte, war Frau Barbara in der Nähe. Doch seit die Mehlschwalbe ihn von Sikesö grüßte, schlich er ruhelos grübelnd durch die Wohnung. Er versuchte, dahinter zu kommen, w a s ihm fehlte. Brachte Frau Barbara Blumensträuße oder Herr Friedrich Zweige oder Wiesenkräuter für die Vase, begrüßte er sie schnuppernd, setzte sich davor und sog mit weiten Nasenflügeln ihren Duft ein. Mitunter, wenn die Nachbarin klingelte, stand die Wohnungstür für Augenblicke offen, und der Graue Kater schlich neugierig ins Treppenhaus, irrte in den elf Etagen umher wie in einem Labyrinth, bis er sich vor lauten Hunde- oder Menschenstimmen hinter den Türen ängstigte und erschöpft und verwirrt den heimatlichen Fußabtreter wiederfand.

An einem der ersten warmen sonnigen Nachmittage lugte er durch die wieder einmal offenstehende Wohnungstür ins Treppenhaus, setzte sich auf den Fußabtreter, lugte nach oben, zum siebenten, achten, neunten, nach unten, zum fünften, vierten, dritten Stockwerk. Wie viel er doch von der Welt nicht kannte. Sollte er sich ein wenig umsehen oder sich wie zu Silvester, wenn das große Katzenschießen begann, fürchten und rasch in den Kleiderschrank zwischen Herrn Friedrichs Unterwäsche fliehen, als plötzlich die Tür hinter ihm zukrachte. Wie gejagt huschte er die Treppen hoch bis dorthin, wo sie in blendender Helle endeten. Zusätzlich durch ein breites Dachfenster schien die Sonne auf den Fußboden, und inmitten dieses Sonnenplätzchens saß ein Mädchen. Vor ihm stand ein Näpfchen mit Salatblättern.

„Nun komm’ und friss ein wenig Salat, bevor er welkt!“ rief das Mädchen.

„Ich wandere lieber durch das warme Licht“, sagte ein ziemlich plattes Wesen, das sich auf kurzen Beinen schurrend, doch wie der Graue Kater fand, elegant das Linoleum entlang schob. Er schlich näher, um das unbekannte hübsche Wesen aus der Nähe zu betrachten.

„Sieh doch“, rief das Mädchen überrascht, „du erhältst Besuch. Eine Katze.“

„Kater“, berichtigte sie der Graue Kater, „von einem Kater. – Du wanderst?“ sprach er das platte Wesen an. „Kommst du auch voran? Ich wollte sagen, du bewegst dich recht gemächlich.“

„Nur nichts überstürzen, mein Graues Katerchen. Immerhin bin ich eine Schildkröte und habe eben siebzehn Minuten zurückgelegt.“

„Du kennst mich?“ fragte der Graue Kater verwundert. „Und wer bist du?“

„Ich kenne dich schon recht gut. – Ich heiße Sikesö.“

„Du...?“ Der Graue Kater setzte sich erstaunt. „Du – wohnst hier? Ich glaubte...“

„Ja, ich wohne neben dir. Auf dem Balkon. Meine frühere Heimat ist mit meiner jetzigen so gut wie verwandt“, sagte Sikesö. „Früher wohnte ich auf dem Balkan. Doch beengt mich das O im Namen meiner neuen Heimat sehr. Nun erwarte ich die warmen Tage im Garten am Wässerchen, von dem das Mädchen mir so oft erzählt. Ich laufe mir fast die Füße wund vor Ungeduld. Zuerst aber soll ich mit ans Meer. Dorthin, woher wir alle kommen. Vielleicht treffe ich dort meine Verwandten, die das Salzwasser mögen... – Die Mehlschwalbe erzählt mir von dir und – mitunter höre ich dich schnurren...“

„Danke für deine Grüße“, unterbrach sie der Graue Kater, „auch ich warte auf die Schöne Jahreszeit.“

„Wie poetisch du deine Worte wählst“, fuhr Sikesö fort, „ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue, dich endlich persönlich kennenzulernen.“

„Nochmals danke“, sagte der Graue Kater, und putzte mit der Pfote sein Gesicht, um seine Verlegenheit zu verbergen. Eine Zeit lang spazierten sie noch um das Mädchen herum und Sikesö erzählte aus ihrem Leben.

Sie war eine weit gereiste Person. Lange Jahre lebte sie erst in den Sümpfen Bulgariens, wo sie aus dem Ei gekrochen war, danach in etlichen zoologischen Handlungen. „Ich bin dreimal so alt wie dieses Haus“, sagte sie.

„Wie hast du das geschafft bei deiner Langsamkeit?“ fragte der Graue Kater erstaunt.

„Was ich suche, finde ich in der Bewegung“, sagte Sikesö, „ich verliere es nie aus den Augen.“ Sie verriet dem Grauen Kater, wie sehr sie seine Gewandtheit und seinen Mut bewunderte, und dass ihm nie vor der Höhe des Hauses schwindelte, wie ihr die Vögel erzählten. Sie selbst war, was man ihr nicht ansah, ungeduldig, neugierig und erstaunlich lebhaft. Eigenschaften, die in ihrer Familie als unerzogen und disziplinlos galten. Ihr Vater sagte: „Du bist überkandidelt. Jagst du weiter so in der Gegend herum, wirst du irgendwann einmal auf den Rücken fallen und mit den Beinen strampelnd verhungern oder von einer Katze gefressen werden.“ Später, als er von Schwalben hörte, sie grüße einen Kater, drohte er, sie zu enterben. Er las gern, sammelte leidenschaftlich alte Bücher und besaß einige kostbare Stücke aus dem letzten Sultanat. Er wollte es nicht wahrhaben, dass Sikesö sich nicht wie die ganze Familie für alte Bücher begeisterte, sondern selbst erleben wollte. Ihre dreiundsiebzig Geschwister dagegen sprachen stolz von ihr, da sie zu widersprechen wagte und ihren eigenen Weg ging. Eines Tages griff sie ein Tierfänger und verkaufte sie an eine Zoohandlung. „Ich habe geahnt“, sagte der Vater, „dass es so kommen würde.“

Als das Mädchen Sikesö in einen Tragekorb stellte, verabschiedete sich der Graue Kater, fand aber nicht allein nach Haus. Auf den Fußabtretern verschiedener Nachbarn harrte er aus, bis ihn Romina fand, die mit Sikesö die Stufen herunterkam, ihn auf den Arm nahm und bei Herrn Friedrich abgab.

„Mein kleenes Katzenköppel!“ rief Herr Friedrich erleichtert, hielt ihn wie ein Kind hoch und drückte ihn an sich. „Wo hast du dich herumgetrieben? Hatte ich wieder einmal die Tür offengelassen?“

Seine meiste Zeit verbrachte der Graue Kater entweder schlafend auf Herrn Friedrichs Schreibtisch unter der Leselampe zwischen Manuskriptseiten, auf der Couch zwischen Kissen oder der Mehlschwalbe harrend auf dem Balkon zwischen den Primelkästen. Schrieb Herr Friedrich, setzte er sich neben ihn aufs Fensterbrett zwischen Grünlilien und rotem Hibiskus und blickte fragend durch die Scheibe hinunter und versuchte, sich die belebte Straße zu erklären.

Seit er zufällig Sikesö begegnet war, dachte er ernsthaft über sich und sein behagliches Leben nach. Und dabei erinnerte er sich dunkel der Ausschweifungen und Raufereien seines Prignitzer Onkels Pelle und dessen liederliches und freies Leben. „Sikesö“, dachte er, „kleine Sikesö, könnte ich dich wiedersehen. Wie schön du von dem Wässerchen, vom Meer, vom Garten und von meinen poetischen Worten gesprochen hast...“ Immer häufiger schien ihm als sehe er Bäume und fühle den Wind, und er seufzte oder knackte ungeduldig mit den Kinnladen und Gelenken und hieb mit den Pfoten in die Luft. Abends zuweilen krallte er sich auf dem Rücken liegend unter der Couch entlang, bis Frau Barbara einen Pantoffel nach ihm warf.


Der graue Kater und der kleine Frosch Ulysses

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