Читать книгу Der graue Kater und der kleine Frosch Ulysses - Fritz Leverenz - Страница 6
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ОглавлениеVon den Sehnsüchten und Träumen des Grauen Katers wüssten wir keine Silbe, wäre nicht an einem dieser Frühlingstage für Herrn Friedrich ein Anlass eingetroffen, um darüber zu schreiben. Dieser Anlass hieß Ulysses und war seiner Herkunft nach, ein Wasserfrosch.
Abgehetzt und hungrig mit Staubflocken an den Füßen hockte der Kleine Frosch Ulysses auf dem blanken Boden eines Konservenglases. Um ihn herum war es dunkel, die Luft roch säuerlich und bereitete ihm heftiges Sodbrennen. Tags zuvor beherbergte das Glas noch Spreewälder Senfgurken. Der Kleine Frosch Ulysses fühlte sich durchgeschaukelt und kläglich. Da nahm Frau Barbara das Glas aus ihrer Einkaufstasche und stellte es neben dem Schreibtisch aufs Fensterbrett. Nun ruhte der Kleine Frosch Ulysses aus von den staubigen Weiten der Steinfliesen, bestaunte die sieben lieblichen Abendsonnen, die sich an seiner Glaswand spiegelten, und träumte von ebenso vielen dicken Fliegen zum Nachtmahl. Und dachte er an ein solches Häppchen, stieß er gurkensauer auf.
In seiner Kindheit, während er als Kaulquappe im Teufelssee schwimmen lernte, hatte man den Kleinen Frosch Ulysses und sechs seiner Geschwister mit einem Köcher gefangen, von Familie und Verwandten getrennt und in einem frisch geleerten Pflaumenmusglas in einen Kindergarten verschleppt. Kaum waren sie zu winzigen Fröschen herangewachsen, setzte man sie in ein trockengelegtes Aquarium zwischen Sand und Steine und nannte es Terrarium. Anfangs verwöhnten sie die Köchin und der Hausmeister täglich mit Fliegen, grünen Blättern und frischem Wasser, und Kinder standen einträchtig mit ihren Erzieherinnen um den Glaskasten herum und hörten elf Tage lang „Abenteuer aus dem Leben des grünen Wasserfrosches“. Den Insassen des Glaskastens standen Tränen der Rührung in den Augen, als sie von ihrer Heimat erzählen hörten. Am achten Tag aber durften die Kinder in neuen Buddelkästen spielen. Ihr Interesse an den kleinen Fröschen ließ nach – und zwar gründlich. Mit ihrem pädagogischen Wert sanken auch Anzahl und Gehalt ihrer Mahlzeiten. Bald erhielten sie bloß noch wöchentlich zwei oder drei Fliegen und schließlich, auf dem Höhepunkt ihrer Vernachlässigung, gelegentlich Weißbrotkrümel, die der Hausmeister sich vom Mund wischte, führte ihn der Zufall brötchenkauend am Terrarium vorüber. Häufiger prasselten Bausteine oder Bilderbücher auf die Froschgeschwister, die aber, wie zu vermuten ist, zu ihrer gesunden Ernährung nicht wesentlich beitrugen. Bald hockten die jungen Frösche in trockenem Sand, ihre Schwimmhäute knarrten wie brüchiges Pergament, und sie erinnerten sich kaum noch an das Schwimmen. Auch sangen sie vor Hunger schon lange nicht mehr und hatten den Weitsprung aufgegeben. Wer die jungen Frösche kennt, weiß, was das für sie bedeutete. Sie entstammten einer sangesfreudigen, geselligen und berühmten Sportlerfamilie. Ihr Vater hatte es zum neunfachen Landesmeister im Brustschwimmen gebracht, ihr Urgroßvater hielt noch immer den Rekord im Weitsprung, und ihre Mutter begeisterte als Operettensängerin die Herzen ungezählter Damen mittleren Alters. Um die ungeschminkte Wahrheit zu sagen: Die Lebensumstände der sieben Wasserfrösche verschlechterten sich derart, dass ihnen nichts anderes als ausreichend Zeit und Durchhaltekräfte fehlten, um Darwins Anpassungslehre zu bestätigen und sich zu Wüstenechsen oder Hornfröschen umzubilden.
Ist die Bedeutung des Zufalls bei der Entstehung der Arten schon hinreichend gewürdigt worden? Als eine der Kindergärtnerinnen arbeitete nämlich zufällig Frau Barbara. Sie verpatzte den jugendlichen Fröschen den Aufstieg im Stammbaum der Tiere. Da ihr das schmachtende Dasein als eine den Fröschen nicht angemessene Lebensweise erschien, entschloss sie sich, sie an den Teufelssee zurückzutragen. Als ihre Finger im Terrarium herum grapschten, glaubte der Kleine Frosch Ulysses, jetzt käme der Storch, sprang auf den Fußboden und entkam. Bei Nacht hüpfte er ratlos suchend auf den Terrazzofliesen umher und tagsüber saß er erschöpft unter einem Kleiderschrank. Zwei dunkle Tage verbrachte er in Gesellschaft zweier Spinnen und einer Küchenschabe, die seit der Flucht vor dem Kammerjäger als Einzige ihrer weitverzweigten Verwandtschaft in den langen Flur entkommen war und auf die Rückkehr in ihre Heimat, zu meinen Fleischtöpfen, hoffte.
Heute fand ihn Frau Barbara, als sie mit dem Besen heruntergefallene Bausteine zusammenkehrte. Sie ließ sich von der Köchin ein leeres Glas geben und setzte ihn hinein. Die Schabe verschwand mit leisem Aufschrei in einer Fliesenritze, die Spinnen eilten hinter ein Schrankbein. Zum See aber wollte Frau Barbara nicht noch einmal, so nahm sie den Kleinen Frosch Ulysses mit nach Hause. Gelegentlich würde sie ihn in den Goldfischteich von Rominas Großeltern setzen.