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Protektionistische Gewaltfantasien und soziale Autoimmunerkrankungen
Оглавлениеvon Steffen Roth
Macht, Gerangel und Ressourcen. Die Sprache bleibt politökonomisch, selbst wenn es uns zunehmend auch um Gesundheit, Recht oder Wissenschaft zu gehen scheint.
Nun kann man sich den Staat gut als strategischen Dreh- und Angelpunkt eines interessengeleiteten Wettbewerbs um öffentliche Mittel vorstellen. Soweit man bei diesen Mitteln aber an Geld denkt, beobachtet man eben nicht Staatspolitik, sondern Staatswirtschaft, was einmal mehr zeigt, dass es sich beim Staat nicht um die Politik handelt, sondern um eine Organisation. Dass es sich auch beim Staat nur um eine organisierte Interessengruppe unter vielen handelt, wird dann besonders deutlich, wenn er seinerseits in Konkurrenz tritt, etwa um Auslandsdirektinvestitionen. Im Kontext solcher Standortwettbewerbe entdecken Staaten regelmäßig ihre eigene Machtlosigkeit und überkompensieren den narzisstischen Schock mit autoritären und protektionistischen Gewaltfantasien. Der gefesselte Nationalstaat sieht in der entfesselten Weltwirtschaft den Grund für seine unwürdige Situation. Globalisierung wird zum Menetekel. Mit der aktuellen Corona-Krise steht die ideologische Psychohygiene wieder auf einem volksgesundheitlichen Fundament.
So enorm die Gravitationskräfte von Politik und Wirtschaft nach wie vor sein mögen, so sehr zeigt die aktuelle Krise auch, dass unsere vornehmlich politische und wirtschaftliche Beobachtungsneigung und die korrespondierende Blindheit für andere, angeblich weniger systemrelevante Funktionssysteme keine Notwendigkeit, sondern ein Problem darstellt. Damit ist nicht nur die Überbeobachtung der üblicherweise verdächtigen Funktionssysteme angesprochen, sondern auch der Hang, die Welt schwerpunktmäßig mit deren Augen zu sehen. So kommt es zu folgenschweren Verwechslungen, wie etwa im Fall der WHO, die Gesundheit als »a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity« definiert. Der politische Blick hat Gesundheit kurzerhand in Wohlergehen und somit in einen allumfassenden wohlfahrtsstaatlichen Einflussbereich verwandelt.
Indem wir uns Runde um Runde um Staat und Markt drehen, reproduzieren wir Probleme, die wir auch reflektieren könnten. Daher mein Vorschlag, in Zukunft verstärkt die nicht-politischen und nichtökonomischen Augenmuskeln zu trainieren.
Gesundheit drängt sich da auf. Zum einen, weil wir hier aktuell den Ausgangspunkt der größten Krise der letzten Jahrzehnte vermuten. Zum anderen, weil in diesem System auch ein enormes Reservoir an Problemlösekompetenzen zu finden ist. Dabei ist neben lebenswissenschaftlicher Expertise auch an unser Wissen zur Therapie und Beratung von psychischen und sozialen Systemen zu denken.
In diesem Sinne erscheint die aktuelle Krise als Bewährungsprobe nicht nur für Virologie und Epidemiologie, sondern auch und gerade für Geistes- und Sozialwissenschaften. Diese wissen um die kommunikative Konstruktion auch der Naturwissenschaften und lassen sich nicht auf die hilfswissenschaftliche Krisenreservebank schieben, sondern bringen ihr Wissen um kommunikative Pfadabhängigkeiten und »soziale Autoimmunerkrankungen« in Stellung.