Читать книгу Lockdown: Das Anhalten der Welt - Fritz B. Simon - Страница 7
ОглавлениеRichtung Freiheit. Die Regierung muss die Einschränkung der Grundrechte mit jedem Tag, der vergeht, besser begründen.
Die Zeit, 22. April 2020
3.400.000.000.000 Euro: Das ist die Corona-Quittung, für die wir alle zahlen werden
FOCUS Online, 22. April 2020
EU billigt 500-Milliarden-Hilfspaket – Merkel sagt Nein zu Corona-Bonds
FAZ, 23. April 2020
A Coronavirus Death in Early February Was ›Probably the Tip of an Iceberg‹
New York Times, 23. April 2020
Who’s Behind the ›Reopen‹ Protests?
New York Times, 23. April 2020
1Das Anhalten der Welt – oder: Was kommt danach?
von Heiko Kleve
23. April 2020
Wir leben in einer »Wendezeit«,1 in einer Zeit, die zugleich Krise und Neuanfang ist. Derzeit steht die Welt noch still. Der Lockdown löst sich nur sehr langsam. Der Weg in die »neue Normalität« wird bisher schleichend beschritten. Das ist eine gute Zeit, um fundamentale Fragen zu stellen, Fragen, die die Zeit nach dem »Anhalten der Welt«2 in den Blick bringen.
Bei Carl-Auer stellen wir solche Fragen in fundamentaler, grundsätzlicher und paradigmatischer Weise. Dafür sind wir bekannt und beliebt. Wir schauen systemisch auf die Systeme unserer global vernetzten Gesellschaft. Denn mit uns wollen viele wissen und schon jetzt darüber spekulieren, wie sich die beiden Systeme in Zukunft miteinander ins Verhältnis setzen, die unser privates und berufliches Leben in nahezu allen Bereichen bestimmen, und zwar die Wirtschaft und die Politik.
Wir wissen, dass das Medium der Wirtschaft, Geld, nicht alles ist – dass aber alles nichts ist, wenn wir kein Geld haben, um unsere Existenz zu sichern. Aufgrund des Lockdowns, der zahlreiche Wirtschaftsbereiche stillstellt, der für viele Menschen extrem existenzgefährdend ist, ihre ökonomischen Einkommensquellen versiegen lässt, springt die Politik mit milliardenschweren Hilfsprogrammen ein. Der politische Staat, der mit seiner Macht kollektiv bindende Entscheidungen treffen kann und aus gesundheitlichen Gründen den Lockdown verordnet hat, ist zugleich der Retter aus der Not.
Wir fragen, ob diese »neue Normalität« ein grundsätzlich anderes Verhältnis von Wirtschaft und staatlicher Politik entstehen lässt. Gehen wir also auf eine neue Form von Sozialismus zu, in der der Staat die gesamte Gesellschaft finanziert, plant und mit seinen verbindlichen Vorgaben strukturiert? Oder werden wir eine neue Form des Radikalliberalismus erleben, in dem der bald bettelarme Staat, dessen Kassen wieder leer und gebeutelt sind, sich aus den gesellschaftlichen Sphären zurückzieht, und zwar drastischer und nachhaltiger als je zuvor?
Um diese Themen zu diskutieren, kommen zunächst zwei Protagonisten zu Wort, die ihre gegensätzlichen Positionen aufeinanderprallen lassen: Prof. Dr. Fritz B. Simon, Systemwissenschaftler mit allumfassenden Interessen, sowie Prof. Dr. Dr. Steffen Roth, Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler, der in gleicher Weise allseits interessiert und international bekannt ist, z. B. für seine systemtheoretische Expertise. Während Fritz Simon im »Anhalten der Welt« die Chance sieht, das Ende des Marktfundamentalismus einzuläuten, offenbart sich für Steffen Roth die Situation anders; für ihn war der Staat bereits in den letzten Jahrzehnten das dominante Gesellschaftssystem.
Meine Rolle wird sein, diesen Disput zu moderieren, die Positionen zuzuspitzen, um damit die Diskussion zu fokussieren. Als Sozialwissenschaftler mit der Intention, Systemtheorie und Liberalismus zu vereinen, freue ich mich, dass der Verlag meine Idee aufgegriffen hat, die benannten Fragen mit renommierten Akteuren kontrovers zu diskutieren.
Eine andere Rotation
von Fritz B. Simon
Die Welt steht nicht still, aber im Moment scheint sie die Drehrichtung zu ändern – nicht zurück, sondern irgendwie anders (Ende der Metapher). Dass es nicht gut ist, wenn Tausende von Menschen sterben, die Freiheitsrechte des Einzelnen beschränkt werden und die Wirtschaft in ein künstliches Koma versetzt wird, kann kaum bezweifelt werden. Doch wie meist gibt es Gutes im Schlechten.
Wir sind ja Zeugen und Betroffene eines radikalen Prozesses. Der Staat zeigt seine Muskeln, indem er Grenzen setzt: für die Freiheit des Einzelnen, der Unternehmen, des öffentlichen Lebens, der Religionsausübung usw. Mit anderen Worten: Es wird regiert.
Die Sorge, dass staatliche Vorgaben und Kontrollen, die einmal eingeführt sind, nicht mehr zurückgedreht werden, ist berechtigt – wenn auch in den etablierten Demokratien weniger als in autoritär regierten Ländern des ehemaligen Ostblocks.
Wir leben in der (westlichen) Welt in einer funktionell differenzierten Gesellschaft. Die Radikalität der Änderung der Drehrichtung dieser Welt besteht meines Erachtens darin, dass die Beziehung der Funktionssysteme gerade verändert wurde. Seit der von Ronald Reagan und Margaret Thatcher beförderten »Revolution« war de facto das Wirtschaftssystem allen anderen Funktionssystemen, d. h. auch dem politischen System, übergeordnet. Dabei wurde »Wirtschaft« synonym zu »Markt« verstanden. Die zunehmende Deregulierung der Märkte führte in weiten Bereichen des öffentlichen Lebens zur Verabschiedung des Staates aus der Verantwortung für überlebensnotwendige Infrastrukturen. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass in der gegenwärtigen Krise gerade in den Ländern, in denen das Gesundheitssystem am radikalsten privatisiert oder »kaputtgespart« wurde, die meisten Corona-Todesfälle zu beklagen sind.
Die Chance, die in der gegenwärtigen Krise liegt, besteht meines Erachtens darin, dass die Politik (d. h. nicht unbedingt: der Staat) wieder in die Verantwortung geht, wenn es um die Frage geht, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Denn der ungeregelte Markt und seine Mechanismen geben auch eine Antwort auf diese Frage: die zwangsläufige Spaltung der Gesellschaft.
Fluktuation
von Steffen Roth
Stillstand sieht anders aus. Im Lockdown treibt es uns aus den Löchern. Indem wir die einen Masken aufsetzen, lassen wir die anderen fallen. Grünen macht das Virus jetzt blauen Himmel und Lust auf mehr. Postwachstumsflagellanten erfreut, dass man im Käfig nicht mehr der Gejagte ist. Liberale lesen wieder Foucault. Und bis hin zum UN-Generalsekretär lässt man keinen Zweifel daran, dass sich »die Wirtschaft« im Gegenzug für staatliche Krisenhilfe politischen Zielen unterordnen muss. Erst reinschubsen, dann erpressen. Politik beansprucht einmal mehr den Vorrang vor allen anderen Funktionssystemen.
Das kann feiern wer will, einen grundlegenden Richtungswechsel kann ich darin nicht erkennen. Zum einen ist diese Hybris allen Funktionssystemen gemein. Zum anderen betreiben wir seit einiger Zeit Big-Data-Forschung zum Bedeutungswandel der Funktionssysteme zwischen 1800 und 2000.3 So können wir den Rückgang der Religion, einen Zuwachs der Wissenschaft und den sanften Aufstieg des Informationszeitalters nachvollziehen. Was unsere Daten nicht hergeben: eine dominante Stellung des Wirtschaftssystems. Vielmehr zeigt sich das letzte Jahrhundert als politisches Jahrhundert, und das quer durch alle untersuchten Sprachräume. »Mehr Politik« wäre demnach kein »new normal«. Mehr Politik wäre einfach nur mehr vom Selben.
Ob mit oder ohne Krise wäre eine andere Gesellschaft somit eine, die neben Politik und dem Indexpatient Wirtschaft andere Funktionssysteme nicht nur kennt, sondern in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Das Spiel »Andere Gesellschaft« geht demnach nicht ohne Politikblindheit. Nur so wird der Biedermeier zum Brandstifter.
Bis die notwendige Unbeobachtung der Politik gelingt, ist man mit einem multifunktionalen Liberalismus gut beraten. Anders als der aktuell geschmähte Neoliberalismus würde sich diese Spielart des Liberalismus nicht nur auf Wirtschaft, Recht und Politik konzentrieren, sondern sich dem wechselseitigen Interventionsschutz aller Funktionssysteme verschreiben, und somit die reflexive Bescheidenheit, die sowohl dem Liberalismus als auch der Systemtheorie zu eigen ist, konsequent auf die Beobachtung aller Funktionssysteme ausweiten.