Читать книгу Das Licht hinter den Sternen - Fuchstraum - Страница 7
ОглавлениеHerzvogel
Es war einmal ein Mann, der fiel in die Liebe wie in einen tiefen Abgrund. Eben noch hatte er festen Boden unter den Füßen gespürt und plötzlich war da nichts mehr, was ihn hielt. Unaufhaltsam stürzte er diesem Gefühl entgegen, unfähig, seinen Fall zu bremsen. Er fiel lange und er fiel tief – und dann schlug er auf und sein Inneres zerbrach in tausend Scherben. Die Liebe aber war so weit entfernt, dass er ihre Wärme nicht einmal mehr erahnen konnte.
Und während er dastand und seine Seele nichts mehr war als ein innerer Abgrund voller Splitter, die er nicht mehr zusammenzusetzen vermochte, da spürte er ein Flattern in sich. Und auf einmal tat sich seine Brust auf und ein kleiner Vogel flog daraus hervor, kaum größer als ein Sperling. Der Vogel war grau und seltsam blass, doch der Mann sah ihn nur kurz, ehe er davonflog und in die Wolken entschwand.
Der Mann aber blieb zurück mit einem Loch in der Brust, voller Splitter und Nichts, doch er starb nicht. Trotz der Leere in sich lebte er - und er ging nach Hause und schlief. Als er erwachte, war das Loch noch immer da, aber kein Schmerz – nur die Leere. Der Mann setzte sich an den Tisch, um zu essen, aber alle Speisen waren Staub in seinem Mund. Er ging aus dem Haus und versuchte zu arbeiten, doch seine Hände hatten ihr Gefühl verloren. Er ging in den Tempel, um zu beten, aber seine Ohren waren taub geworden für die Stimmen der Götter.
Also wanderte er ziellos durch die Straßen, bis es Abend wurde. Wind kam auf und wehte kalt in ihn hinein. Und als es in seinem Inneren immer kälter und kälter wurde, machte er sich auf den Weg zurück nach Hause.
Lang war dieser Weg und dunkel, denn er war weit gelaufen. Schatten lagen in den Gassen und Häuserecken wie dicke schwarze Katzen, trunken von Mondmilch.
Der leere Mann schritt dahin und auch die Welt schien sich leer gemacht zu haben. Doch dann gewahrte er auf seinem Weg eine Gestalt. Je näher er kam, desto größer wurde sie, bis sie schließlich hoch vor ihm aufragte. Es war ein großer Mann, fast ein Riese, mit wildem Bart und funkelnden Kohleaugen. Er war ganz in Schwarz gekleidet und an seinen riesigen Händen trug er glänzend silberne Ringe.
Früher hätte der leere Mann Angst gehabt, doch jetzt schaute er sein Gegenüber nur sehnsüchtig an, denn dieser war nicht leer – das sah er deutlich. Er war voller Kraft und Schatten und wilder Wut, sodass es ihn umschwebte wie ein schwerer Geruch. Und dann hörte der leere Mann das Rauschen von Schwingen, als sich etwas in dem großen Mann regte.
Voller Sehnsucht sprach er den Riesen an: »Was ist es, was dort in dir rauscht?«
Der Riese lachte schallend, als hätte er etwas Lustiges gehört. »Das sind die Schwingen meines Herzvogels.«
Der leere Mann fühlte sich jetzt noch leerer und sein Kopf lastete schwer auf seinen Schultern. »Wie machst du, dass er nicht wegfliegt?«
Der Riese hörte auf zu lachen und wurde ernst, ja fast andächtig. »In mir ist ein Rabe. Er liebt die Schatten und den Tod und das glänzende Silber. Also habe ich ihm daraus ein Nest gebaut. Da, sieh selbst.«
Und der Riese schob sein Hemd zur Seite und zeigte dem leeren Mann sein Inneres. Da saß ein Rabe auf einem silbernen Schädel und um ihn herum flossen Schatten. Der Rabe war groß und zerzaust und sein Blick war so wild wie der des Riesen, denn sie waren eins.
Der leere Mann dankte dem Riesen und ging weiter. In einer Gasse hielt er an, um nach Schatten und Gebein zu suchen und damit die Leere zu füllen, doch der Schatten entglitt seinen tauben Fingern, und alles, was er finden konnte, war ein abgenagtes Hühnerbein. Traurig setzte er seinen Weg nach Hause fort.
Als er eine Weile gegangen war, kam er an eine Brücke. Da stand eine Frau und schaute nach unten ins Wasser. Sie war wunderschön und sah so glücklich aus, dass der Mann beschloss, auch sie nach ihrem Herzvogel zu fragen. Doch die Frau war so vertieft in ihr Spiegelbild im Mondscheinwasser, dass sie ihn erst bemerkte, als er sie an der Schulter berührte. Sie sah ihn nur kurz an, dann schaute sie wieder auf ihr Spiegelbild.
»Was begehrst du?«, fragte sie abwesend flüsternd.
»Sag mir, wohnt auch in dir ein Herzvogel?«
Die Frau nickte leicht. »Bitte sag mir, wie du ihn in dir hältst!«
Die Frau brauchte eine Weile, um sich erneut von ihrem Spiegelbild zu lösen. »In mir wohnt ein Paradiesvogel. Ich habe mein Inneres mit Spiegeln geschmückt und mit glänzenden Steinen.«
Und sie löste die Bänder ihres Kleides und entblößte Elfenbeinhaut und eine wohlgeformte Brust. Dann zeigte sie ihm ihr Inneres und er sah einen schillernden Vogel, der auf einem Haufen von Edelsteinen saß und sich in Spiegelscherben betrachtete. Und als der Paradiesvogel seinen Kopf abwesend hin und her drehte und sich in seiner eigenen Schönheit verlor, da sah der leere Mann, dass die beiden eins waren.
Er dankte ihr und ging weiter seines Weges. Seine Augen suchten die Schatten und Gassen ab, aber er konnte keine Spiegelscherben finden, ja nicht einmal Glasmurmeln, die spielende Kinder verloren hatten.
Er wanderte weiter und weiter und die Leere in seinem Inneren zog ihn zu Boden, doch da sah er sein Haus in der Ferne. Als er es fast erreicht hatte, erblickte er in einem anderen Hauseingang einen alten fahlen Mann sitzen, der schlief.
Die Kleider des Mannes waren zerrissen und waren starr von Schmutz. In seiner Hand war eine Flasche, in der ein langsamer Tod lauerte. Doch auf seinen faltig schmutzigen Zügen las der leere Mann Ruhe und Frieden.
Zögerlich, aber unfähig davon abzulassen, fasste er den Alten bei den Schultern und schüttelte ihn sacht. Der Fremde schlug die Augen auf und blickte ihn aus vergilbtem Weiß an.
»Was störst du meinen Schlaf?«, fragte er.
»Sag«, flüsterte der leere Mann, »hast du einen Herzvogel?«
Der Alte lächelte zahnlos und zwinkerte gelb. »Natürlich. Jeder Mensch hat einen Herzvogel, wenn auch nur wenige verstehen, ihn zu halten. Aber sie täten gut daran, denn nur wer einen Herzvogel hat, kann wahrhaft lieben. In mir wohnt ein Geier, der wälzt sich in Aas und Gestank, aber das ist nun einmal seine Natur.«
Und er öffnete seinen alten Mantel und zeigte dem leeren Mann sein Inneres. Da saß ein fahler Geier mit einem einzigen Auge und funkelte den Zuschauer an. Ihn umfing der Geruch von Kadavern und von seinem Schnabel troff zähes Gift, doch er war glücklich, so wie auch der alte Mann glücklich war, denn sie waren eins.
»Wenn jeder Mensch einen Herzvogel hat, warum habe ich dann keinen?«, fragte der leere Mann kläglich.
Der Alte lächelte wieder. »Du musst ihm ein Nest in dir bauen.«
»Aber ich habe nichts«, sagte der leere Mann. »Ich habe kein Silber und keinen Schatten, keine Spiegel und keine Edelsteine, keinen Tod und kein Gift.«
Voller Güte blickte der Alte ihn an. »Fülle dich mit dem, was deine Seele nährt. Nicht mit der Nahrung anderer Seelen.«
Da wollte der leere Mann verzweifeln und er stürzte wie in wilder Flucht in sein Haus, warf die Tür hinter sich zu, setzte sich an den Tisch und starrte in die Nacht.
Wie sollte er sich selbst füllen, wenn es in ihm nur Scherben und Leere gab? Schließlich wurde sein Kopf vor Kummer so schwer, dass er auf den Tisch sank. Und plötzlich war da etwas, wie eine sanfte beruhigende Berührung an seiner Stirn. Er stemmte sich in die Höhe und sah ein aufgeschlagenes Buch auf dem Tisch liegen. Behutsam, fast ehrfürchtig strich er über die Seiten und es war, als berührten sie auch ihn.
Da griff er zu, riss eine Seite aus dem Buch und stopfte sie in sein Inneres, und auf einmal war er nicht mehr vollkommen leer.
Da keimte in ihm ein neues Wissen auf und er riss Seite um Seite aus dem Buch. Dann nahm er ein anderes zur Hand und zerriss auch dieses und dann ein neues, bis er all seine Geschichten Seite um Seite in sich trug.
Dann ging er zum Fenster, griff in die Nacht und füllte sich mit Mondschein und zuletzt nahm er kleine grüne Zweige, die der Wind auf sein Fensterbrett geweht hatte, und bettete auch sie in sein Inneres.
Die Scherben in ihm waren nun bedeckt von Geschichten, Mondlicht und Waldgrün und es war ein wunderschönes Nest geworden – sein eigenes Seelennest.
Auf einmal hörte der leere Mann ein Flattern. Er sah einen kleinen grauen Schatten, und dann war er nicht mehr leer. Der Abgrund konnte ihn nicht mehr schrecken. Und weil er jetzt wieder weinen konnte, weinte er, aber er weinte vor Freude.
Nachdem er sich ausgeweint hatte, stand er auf, um die Liebe zu suchen, denn er wusste, dass er niemals wieder fallen würde. Denn auch in ihm wohnte nun wieder ein Herzvogel und sie waren endlich eins.