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I

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Im Dezember geht die Sonne früh unter; es war schon dunkel, als der Bauleiter mit seiner Trillerpfeife das Zeichen zum Feierabend gab. Der Raupenbagger blieb stehen, und der aufgewirbelte Staub legte sich auf das zur Hälfte abgerissene Gemäuer. Die Arbeiter bahnten sich ihren Weg zwischen den Trümmern hindurch und gingen fort. Eine halbe Stunde später waren nur noch zwei von ihnen auf der Baustelle. Sie waren zurückgeblieben, um nicht bemerkt zu werden. Ohne Licht zu machen, stiegen sie zu den Fundamenten des in Abbruch befindlichen Hauses hinunter, und erst als sie die Kellergänge erreicht hatten, knipsten sie ihre Taschenlampen an. Am Morgen hatten sie in einem Nebengewölbe eine Reihe von unberührten, staubbedeckten Weinflaschen entdeckt, die dort unten vergessen worden waren, und nun schickten sie sich an, sie alleine heraufzuholen, um nicht mit dem Aufseher oder den Kollegen teilen zu müssen.

Es war jedoch nicht leicht, sich im Dunkeln in dem Labyrinth der Kellergänge zurechtzufinden: Die Kreidezeichen, die sie sich an die Wände gemacht hatten, waren im Licht der Taschenlampen kaum von Mauerrissen und Stockflecken zu unterscheiden; überdies hatten die Abrissarbeiten des Tages den ganzen hinteren Teil des Ganges durcheinandergeworfen und neue Löcher in die Gewölbe gerissen. Erst nachdem sie mehrmals im Kreis gegangen waren, fanden die beiden Arbeiter den kurzen Seitengang des Korridors wieder, der zu dem Kellerabteil mit den Flaschen führte. Die Tür war nur angelehnt und mit einem Stück zusammengedrehtem Draht verschlossen. In dem Kellerabteil lag Gerümpel von alten Möbeln, deren Bestimmung längst nicht mehr zu erkennen war, und mehrere Regale lehnten aneinander; an der Wand, hinter einem Stapel Bretter, lagen auf vier Flaschenregale verteilt, inmitten von Spinnweben und unter einer wolligen Staubschicht mindestens fünfzig schwarze, gut verschlossene Flaschen. Behutsam, um den Wein nicht zu schütteln, legten sie die ersten Flaschen in einen großen Korb, den sie im Korridor gefunden hatten, und in zwei Gängen gelang es ihnen, sie alle hinaufzuschaffen. Jetzt brauchten sie sie nur noch in das kleine Auto zu verladen, das sie sich geliehen hatten, und nach Hause zu bringen. Sie waren jedoch müde und setzten sich auf einen Haufen zerbrochener Ziegel, um eine Zigarette zu rauchen.

»Schade, dass wir nicht gleich eine aufmachen können.«

»Das ist feiner Wein. Es wäre schade drum. Man müsste einer Flasche den Hals abschlagen.«

»Wer weiß, vielleicht ist da noch mehr.«

»Ein solcher Glücksfall kommt nur selten vor.«

»Wollen wir nachsehen, ob noch mehr da ist?«

»Von mir aus. Rauchen wir die Zigarette zu Ende und gehen dann noch mal runter.«

Sie stiegen noch einmal in die Kellergewölbe hinab und durchsuchten sie nach allen Richtungen, vergeblich. Ab und zu stießen sie wohl auf Haufen von Flaschen, aber die waren leer. Außerdem war es gefährlich, so in den Grundmauern des in Abriss befindlichen Hauses herumzulaufen: Jeden Augenblick konnte ein Deckengewölbe einstürzen, man konnte in ein Loch treten und sich einen Knöchel verstauchen, umso mehr, als das Licht der Taschenlampen schwächer zu werden begann. Fast tasteten sie sich nur noch voran, und dabei verletzte sich einer der beiden die Hand an einem großen Haken, der aus der Wand vorstand. Er fluchte und blieb stehen, um die blutende Hand mit einem Taschentuch zu umwickeln. Sie hatten vor einer Trennwand haltgemacht, in der sich ein Fenster befand, das auf ein anderes Kellerabteil gehen musste. Während der eine mit seiner Hand beschäftigt war, sah der andere sich um: Er versuchte, durch das Fenster in der Wand zu spähen, aber die Scheiben waren so schmutzig und verstaubt, als ob sie geschmirgelt wären. Er suchte nach der Tür zu dem Kellerabteil mit dem Fenster, die ging aber auf einen parallelen Korridor, der nur schwer zugänglich war. Also rieb er eine der Fensterscheiben mit dem Ärmel seiner Jacke ab, aber das nützte nichts; er spuckte in sein Taschentuch und rieb noch einmal. Als er den Strahl seiner Taschenlampe auf die kleine, durchsichtig gewordene Stelle richtete, sah er deutlich auf der anderen Seite des Fensters ein leeres Zimmerchen: In dessen Mitte stand ein schwarz gekleideter Mann, den der Schein der Taschenlampe offenbar überrascht hatte und der dem Fenster ein ernstes Gesicht zuwandte. Nur einen Augenblick lang blieb er still stehen, dann nahm er einen Stein vom Boden auf und stürzte mit erhobener Hand auf die Scheibe zu, um sie einzuschlagen. Gleichzeitig stieß er einen Schrei aus, der wie ein Ruf klang, laut und gurgelnd wie von einem großen, am eigenen Blut erstickten Tier. Der Arbeiter ließ die Taschenlampe fallen und lief davon, stieß gegen seinen zurückgebliebenen Kollegen und zerrte ihn keuchend, ohne ein Wort zu sagen, an einem Arm mit sich in die Flucht.

*

Das »Haus des Malers« stand schon seit Jahrzehnten leer. Klein und schäbig stand es in einer unbewohnten Gegend am Fuß des Hügels auf der anderen Seite des Flusses. Ein junger, ausländischer Maler aus wohlhabender, adliger Familie hatte es Anfang des Jahrhunderts bauen lassen und war dann plötzlich von einem Tag auf den anderen verschwunden, keiner wusste wohin. Mittlerweile war nicht einmal mehr so recht klar, wem dieses Haus eigentlich gehörte, das im Übrigen niemanden interessierte und wahrscheinlich einsturzgefährdet war. Die Fensterläden waren vernagelt, aber die Tür war seit Jahren nur angelehnt, vermutlich seit dem Tag, an dem jemand das Schloss aufgebrochen hatte, bei dem vergeblichen Versuch, hier etwas zu stehlen.

Die beiden Kinder lebten in einem der riesigen Hochhäuser aus Stahlbeton, die vor Kurzem am äußersten Stadtrand, an der Grenze zu den Feldern erbaut worden waren. Schon seit vielen Jahren, praktisch seit sie hierhergezogen waren, hatten sie ihre nachmittäglichen Spaziergänge fast bis an die Schwelle des »Haus des Malers« ausgedehnt. Jetzt wollten sie hineingehen, auch wenn die Eltern ihnen das verboten hatten: Es würde eine herrliche Festung sein.

Die Tür ging nicht leicht auf, weil die Angeln verrostet und das Holz von Feuchtigkeit gequollen war. Indem sie sich mit allen Kräften dagegenstemmten, gelang es den Kindern jedoch, einen der Türflügel aufzudrücken, und sie traten in das ein, was einmal der Flur gewesen sein musste. Man sah fast nichts; die Fenster waren alle mit Brettern vernagelt, und nur durch den Türspalt drang ein wenig Licht vom Sonnenuntergang. In weiser Voraussicht hatten die Kinder eine Kerze mitgenommen; die zündeten sie nun an und drangen durch Staub und Stucktrümmer, die von der Decke gefallen waren, ins Innere vor. Aber im Hausflur und in den von ihm her zugänglichen Zimmern gab es nichts Interessantes zu sehen. Einzig ein kleines Zimmer mit Deckengewölbe weckte ihre Neugier; seine Wände waren mit einer schweren Relieftapete ausgekleidet, worauf rote, grüne, schwarze und goldene chinesische Drachen dargestellt waren. Die Feuchtigkeit hatte die Tapete von der Wand gelöst. Sie rissen ein Stück davon mit einem ganzen Drachen darauf ab und steckten es in die Tasche. Leicht enttäuscht liefen sie im Erdgeschoss und im ersten Stock der kleinen Villa auf und ab. Nicht einmal eine alte Truhe oder ein paar Bretter waren da, um die Festung einzurichten. Dann stiegen sie durch eine kleine, im Korridor gelegene Tür in den Keller hinunter. Vom Versteckspielen waren sie es gewöhnt, die Kellerräume des alten Viertels, wo sie früher gewohnt hatten, zu erkunden, und sie hatten überhaupt keine Angst. Der Maler hatte Wert auf einen schönen Keller gelegt: Da gab es Räume mit hohen Deckengewölben, und an den Wänden hingen noch die Flaschenregale, nunmehr vom Holzwurm zerfressen und voller Staub. Zu ihrer Überraschung und Freude entdeckten die Kinder auf dem Lehmboden eine Zeichnung, die ihnen vorkam wie die Form zum Himmel-und-Hölle-Spiel: ein großes Rechteck, unterteilt in sechs kleinere Rechtecke und abgeschlossen von einem Halbkreis. Eines der beiden Kinder begann, auf einem Bein von einem Rechteck zum nächsten zu hüpfen, ohne auf die Trennlinie zu treten. Da tauchte aus dem Hintergrund des Raumes, wohin das Kerzenlicht nicht drang, ein kleiner, dicker, schwarz gekleideter Herr auf. Sein Aussehen hatte nichts Furchterregendes, aber sein plötzliches Erscheinen entsetzte die Kinder dermaßen, dass sie die Treppe hinaufstürzten, dann über die dunklen Felder, auf das Licht ihrer Wohnungen zu.

*

Als sie erschienen, hatten sie keine deutlich erkennbaren Umrisse; Wolfszähne tauchten auf und am Körper behaarte Stellen wie bei Kaninchen. Aber da sie die Dunkelheit liebten, sich in Kellerwinkeln verkrochen, im Dunkel der Speicher und unter dem Staub und den Spinnweben der Schuppen, konnte das auch nur eine Täuschung sein, und vielleicht waren Gestalt und Gesicht wie beim Menschen. Es waren keine Toten, die des Nachts an die Türen klopften. Wie die blinden Geschöpfe der Höhlen scheuten sie jeden Lichtstrahl, und sei es auch nur den einer schwachen, rußigen Lampe, und sie scheuten die Menschen. Hunde und Katzen bemerkten ihr Näherkommen nicht, und sie setzten alle Sorgfalt daran, leise zu gehen, machten enorme Umwege, um die Nähe bewohnter Räume zu meiden.

Man erzählte sich von ihnen, sie seien Tote, die den Tod überlebt hatten und sich von menschlichem Blut ernährten, um ihr bleiches, nächtliches Dasein als leibhaftige Gespenster zu fristen. Aber das stimmte nicht. Vielleicht hatten sie Gesicht und Gestalt des Menschen, aber sie waren nie Menschen gewesen. Von menschlichem Blut hatten sie sich immer ernährt, um zu leben, da Leben und nicht Tod ihr Dasein genannt werden musste, und der Mensch galt ihnen gleich viel wie Schlachtvieh. Seit Jahrtausenden jedoch wagten sie nicht mehr, die Nähe der Menschen zu suchen, und mussten sich allein vom gestockten Blut der Toten ernähren.

Früher einmal hatten sie über die Erde geherrscht. Nun aber, zu Aasfressern heruntergekommen, bevölkerten sie furchtsam und scheu verlassene Räume, Gebirgshöhlen, Keller und Ruinen; nur in einem abgelegenen Tal der Karpaten lebte einer von ihnen, der größte von ihnen, einsam und ungestört in einer großen, befestigten Burg. Die Vorsehung Unseres Herrn hatte es so eingerichtet, dass sich durch die Jahrhunderte hindurch einige wenige Menschen darin ablösten, diese Gebirgsresidenz gegen jede Zudringlichkeit und gegen jegliche profane Neugier zu schützen. Auf der äußeren ihrer Befestigungsmauern waren die Banner der Bogomilen, der Ritter des Deutschen Ordens, der Livländischen Ritter vom Schwert aufgezogen worden, bis hin zu den Tagen, in denen der Schutz der Burg in die Hände von anderen Menschen übergegangen war, die, obgleich sie keine Fahnen im Wind flattern ließen, dennoch dem, der dort weilte, Stille und Geheimhaltung zu garantieren wussten.

Seitdem sie in nunmehr weit zurückliegenden Jahrtausenden von den Menschen besiegt und unterworfen worden waren, hatten die Vampire in ihrem leidvollen Exil stets auf diese einsame Burg geschaut, wie auf das unzerstörbare Siegel ihres Herrschaftsvertrags, der sie der Erde verbunden hatte, wie auf das Unterpfand, das selbst ihren blindesten Glauben an Wiederauferstehung nicht sinnlos werden ließ. Stumm wie nächtliche Schatten, blind und taub in ihrem Exil, das sie vom unausgesetzten Wandel der Jahreszeiten fernhielt, hatten sie durch die Jahrhunderte hindurch ihre Gewissheit nicht verloren. Eines Tages würden wieder sie über die Erde herrschen. Da sie nur noch wenige und über den ganzen Erdball verstreut waren, kannten sie einander nicht mehr. Aber ein jeder von ihnen setzte sein Dasein fort, als ob jedes Erwachen der Moment der Zusammenkunft und der wiedergewonnenen Herrschaft sein könnte. In unerschütterlichem Glanz strahlte die Glorie Unseres Herrn. Jede Nacht erforschten die Vampire den Himmel, um daran das Zeichen zu entdecken, jede Nacht zogen die Sterne schweigend ihre Bahn. Und dann, nach Jahrtausenden des Exils erschien am Horizont ein flammendes Schwert, das die himmlischen Gefilde rot färbte. Da kamen sämtliche Vampire aus allen Teilen der Welt an einem einzigen Ort zusammen. Doch die Andachtburg, die ferne und unbezwungene Residenz des größten der Vampire, konnte das nicht sein. Die Stunde war verkündet, aber noch nicht da. Aus allen Teilen der Welt kamen die Vampire zum Turm der Gattelusi geflogen, der hoch oben auf einem Steilfelsen der einsamen Insel Samothrake gelegen war.

Eines Abends kurz vor Weihnachten sahen die Schäfer des Dorfes Paleópolis, die mit ihren Herden noch auf den Anhöhen gegenüber von den Türmen der Gattelusi verweilten, wie plötzlich in den Fenstern des größten der Türme Licht anging. Als erste Antwort auf das am Himmel verkündete Ende ihres Exils hatten die Vampire sich dem Licht aussetzen wollen, wenn auch nur einem nächtlichen Licht. Es sah aus, als würde im Turm der Gattelusi ein frohes Fest gefeiert.

Die Schäfer bekreuzigten sich, flüsterten wiederholte Anrufungen des heiligen Demetrius und des heiligen Georg, kehrten den gefährlichen Ruinen den Rücken und trieben ihre Herden hastig ins Dorf hinab.

Alles war im Geheimen vorbereitet worden. Aus allen Ländern waren die Vampire gekommen: aus den Schluchten Kurdistans, wo sie in den Kellerverliesen des Heiligtums von Scheich Adi Zuflucht gefunden hatten, unter den kleinen weißen Pyramiden mit der goldenen Kugel darauf, aus den verlassenen, in die Meteoritenfelsen Thessaliens gehauenen Klöstern; aus den einsamen, heiteren Tälern der Herzegowina, wo ihre steinernen Häuser beieinanderstehen, geschmückt mit Darstellungen von Tänzen und Turnieren, von Regen und Sonne gebleicht; aus den Höhlen der Moränenhügel des Piemont und aus Domazan im Süden Frankreichs, wo sie auf den Grabstelen dargestellt sind, mit erhobenen Händen, Pfeil und Bogen neben sich.

Und von noch weiter her, die Schranken der Zeit durchbrechend, wie es ihnen zu Gebote stand, tauchte eine Schar von Vampiren in die geschlossene, alltägliche Erdatmosphäre ein, eilte zur Zusammenkunft. Es waren die allerältesten Vampire: diejenigen, die in Ägypten gelebt hatten, als die beiden Welten noch nicht unter der weiß-roten Krone vereinigt waren und noch das Blut von Menschenopfern floss, auf dass sie sich davon nährten; die aus Babylonien und Assyrien, die sich noch der schön geschichteten Pyramiden aus Menschenköpfen entsinnen konnten, die phönizischen Vampire, die unter dem Schutz von Melqart und Baal gestanden waren, und diejenigen, für die sich im fernen Arabien die Opfersteine nicht nur rot, sondern auch schwarz gefärbt hatten. Alle kamen sie. Sie hatten ihre engen Schlupfwinkel verlassen, die Verstecke, in denen zu leben sie gezwungen waren, seit die gotteslästerlichen Verbrecher ihre Bleiben geplündert hatten. Und auch die kamen, die weniger in nächtliche Kontemplation versunken waren, die stets tätigen Vampire, diejenigen, von denen ein sagenhafter Faden sich wie eine Blutspur durch die Geschichte zieht.

Vampire, denen gegenüber Simon Magus, Faust und Ahasver nichts als erbärmliche einsame Schatten waren, zu ewiger Dauer und ewigem Umherirren verurteilt, ohne sich nähren zu können. Vampire, die sich selbst mutig als »die Reinen« bezeichnet und im Kampf gegen Samaèl selbst byzantinische Kaiser und römische Päpste herausgefordert hatten, auf dass eines Tages das verderbliche Sama vernichtet werde und allein das El Unseres Herrn bleibe. Die ritterlichen, strengen Vampire, die eigentlichen Verteidiger der nackten, schwarzen Erde, die Verbündeten von Hasan-i Sabbah, die Verfolgten, aber Unbesiegten, die Ewig-Wiederkehrenden.

Nur Dracula fehlte auf der Versammlung. Der uralte Fürst der Vampire verließ die Andachtburg nicht mehr.

Der ehrwürdige Juan de Carvalho y Melho, Marquis de Pombal, Dekan der portugiesischen Vampire, wurde einstimmig berufen, der Versammlung vorzusitzen. Vor Zeiten hatte er einen anderen Namen getragen; aber es war nicht mehr gestattet, diesen Namen auszusprechen, ebenso wenig wie das gemeine armenische Schimpfwort Polik, womit seine Verfolger ihn belegten: Man durfte nicht an alten Wunden rühren und auch nicht an die Zeiten der Schmach erinnern.

Zunächst forderte der Marquis de Pombal alle Anwesenden auf, in Ehrfurcht des Grafen Dracula zu gedenken, des höchsten Verwahrers und Garanten der vampirischen Würde. Sodann verlas er eine kurze Botschaft des Grafen Dracula an die Versammlung:

»Brüder! Es ist mir schmerzlich, in einer so ernsten und entscheidenden Stunde für unser Volk nicht unter euch sein zu können. Ich will es jedoch nicht unterlassen, euch zu versichern, dass ich selbst Stunde für Stunde das neue Schicksal der Vampire miterlebe. Jeder eurer bevorstehenden Siege, jede Niederlage werden auch mein Sieg, meine Niederlage sein; denn nicht so sehr zur Befriedigung meines persönlichen Ehrgeizes, als vielmehr, um der Wirklichkeit des Lebens die Ehre zu erweisen sowie dem Schicksal, dem ich mich nicht entziehen will, wage ich zu behaupten: Wo immer ich bin, dort sind die Vampire.

Für einen Vampir wie mich, dem allzu leidenschaftliche und entschiedene Stellungnahmen von Natur aus fremd sind, da sie stets intime und peinliche Geständnisse beinhalten, ist es schwierig, die rechten Worte zu finden, um euch zum Handeln anzuspornen. Dennoch, ich will mich der Aufgabe, die das Schicksal mir auferlegt, nicht entziehen und zögere daher nicht, euch nach all den tragischen Erfahrungen der Vergangenheit noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, dass die vampirischen Prinzipien von Freiheit und Toleranz sich viel zu lange schon von einem schamlosen Fanatismus haben unterjochen lassen, obwohl es unser Recht und unsere Pflicht wären, uns dagegen zur Wehr zu setzen. Nun werden vampirische Tugend und Adel lernen, den Harnisch zu tragen und gemäß dem Prinzip zu handeln, dass Freiheit nicht das Privileg derjenigen sein darf, die sie zu zerstören trachten.«

Die Vampire nahmen die Botschaft des Grafen Dracula mit Schweigen auf. Jahrtausende waren vergangen seit dem Tag, an dem die Menschen die Vorherrschaft übernommen hatten. Die Vampire scheuten stets vor dem Gedanken an den Tag ihrer Erschaffung zurück: zu geheimnisvoll und heilig war jene Stunde, die in den Händen des Herrn lag. Aber die großen Daten der Vampirgeschichte hafteten wie leuchtende Embleme und Zeichen in ihrem Gedächtnis. Hehres Glück bedeutete es, sich an die Jahrhunderte der großen Vampirherrschaft zu erinnern und auch an die Urvegetation, die Riesenfarne und Araukarien, unter denen die ersten Vampire gewandelt waren. In naivem Staunen vor ihrem eigenen Geschick – zuerst bloße Klümpchen Schleim in den Ozeanen, sodann Herren über eine reich mit Pflanzen und Tieren gesegnete Welt – hatten die Vampire der am weitesten zurückliegenden Generationen die Erschaffung der Menschen mit angesehen und hatten in ihnen diejenige Tierart erkannt, deren Blut am meisten vom Geschmack der Erde bewahrte. Es schien – und war tatsächlich so –, dass die gute Erde, aus der jegliche Kraft entsprang, ins menschliche Blut eingegangen war, ohne dabei etwas von ihrem Geschmack und ihrer belebenden Kraft einzubüßen, oder doch kaum etwas. Im Vergleich zum menschlichen Blut war das der anderen Tiere ein minderer Saft, eine recht dürftige Quelle der Regeneration. Aber der Widersacher, der grausame Widersacher seit jeher, Samaèl, hatte den Menschen gestattet, mittels unaussprechlicher Gräuel die Herrschaft zu übernehmen.

Schwerlich wird man in der Geschichte etwas Mitleiderregenderes, etwas Schrecklicheres finden als die ersten Verfolgungen der Vampire durch die Menschen. Gemeinheit, Gier und Ausschweifung, Fanatismus, gepaart mit Anmaßung und Niedertracht, machten den Charakter der Verfolger aus. Ohne den Anteil von Herrschsucht und Korruption schmälern zu wollen, war doch vor allem der Fanatismus anzuklagen und das, was ihm eigen ist: die kalte, überlegte Gräueltat, Grausamkeit, die sich im Exzess der selbst erfundenen Qualen gefällt, willkürlich gesteigerte Wut. Und unter Fanatismus ist der Geist der Intoleranz und der Verfolgung zu verstehen, von Rache und Hass, weil eine Rasse sich für die auserwählte hält.

Nachdenklich erwog die Versammlung das neue Schicksal, als ein Vampir das Schweigen brach. Francisco Torrado y Asensio, Herzog von Avila, erhob sich von seinem Sessel. Er zitterte und sagte: »Vampire! Brüder! Eines Tages – in der Zeit des Leidens – haben wir auf Hasan-i Sabbah vertraut. Alamut, der Adlerhorst – in unserer Sprache verdiente er wohl den Namen Wolfshöhle! Über dem Chorasan wehte die Vampirflagge, Muselmanen und Christen starben, sobald einer von uns es wollte. Wozu haben uns die Assassinen genutzt? Was hat es uns genutzt, auf die Menschen zu vertrauen, um die Erde wiederzuerobern? Nichts. Weniger als nichts. Das ist nicht unser Schicksal. Brüder! Lassen wir uns nicht täuschen von einem Zeichen am Himmel. Die Verzweiflung schwebt über uns mit den schwarzen Flügeln der Ewigkeit.«

Bestürzt schwieg die Versammlung. Aber nach kurzer Rücksprache mit seinen Nachbarn erhob sich ein alter, bäuerischer Vampir aus der Bukowina. Er drückte sich aus in dem alten Dialekt, der einst allen Vampiren gemeinsam gewesen war und heute nur auf dem Lande noch überlebte. »Meine Herren Vampire«, begann er, »ich bin ein armer Vampir vom Lande und wurde vor vielen Jahren in dem Dorf der Bukowina geboren, in dem ich noch heute lebe. Wir auf dem Land, wenn wir über den Ausgang eines Unternehmens Zweifel haben – was weiß ich, die Abfüllung von Blut in Flaschen an einem bestimmten Tag oder einen gefährlichen nächtlichen Ausflug –, so wenden wir uns an Unseren Herrn, wir beten zu ihm, und er enthüllt uns Seinen Willen. Warum machen wir es nicht auch jetzt so? Unsere Sache ist gut. Ein Zeichen ist am Himmel erschienen. Unser Herr wird sich nicht verschließen.«

Angesichts dieses Vorschlags war der Marquis de Pombal unschlüssig.

Zwei weise Vampire, wahrhaftige Leuchten der Theologie, wurden zum Sitz des Präsidenten gerufen, der seinen Platz dem älteren der beiden überließ. Es war dies der alte Vampir Domingo Josè Gonçalves de Magalhaes, der schon in Antiochien gegen die Byzantiner gekämpft hatte – damals hieß er noch Chrysocheir –, und er galt als der größte Theologe unter den Vampiren. Als der Marquis de Pombal ihm seinen Platz überließ, wandte sich der Greis an ihn statt an die Versammlung und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr. Der Marquis nickte ehrerbietig, dann wandte er sich an die Anwesenden:

»Der verehrte Vampir möchte nicht mit lauter Stimme für die Öffentlichkeit sprechen. Ich werde sein Sprachrohr sein«, erklärte er. Dann fuhr er fort: »Unser berühmter, ehrwürdiger Bruder meint, der Vorschlag des Vampirs aus der Bukowina sei sinnvoll. Unseren Herrn um Rat zu bitten, erscheint ihm recht und billig. Er schlägt daher vor, dass auf der Stelle eine Delegation zum Paradies aufbricht und noch heute Nacht zurückkehrt, so dass sie uns sogleich vom Ergebnis der Mission Bericht erstatten kann. Die Zeit drängt.«

Darauf ergriff der jüngere Theologe das Wort, ein Schüler von Gonçalves de Magalhaes:

»Wenn die Versammlung einverstanden ist«, sagte er, »so schlage ich vor, die Delegierten sofort zu wählen und ihr Beglaubigungsschreiben aufzusetzen. Denn in der Tat muss klar sein, dass die Delegation in feierlicher Weise die Gesamtheit der Vampire repräsentiert.«

Die Versammlung bekräftigte die Worte des Vampirs durch Applaus. »Aber«, unterbrach der Marquis de Pombal, »wer unterzeichnet das Beglaubigungsschreiben, wenn es in feierlicher Weise den Willen sämtlicher Vampire zum Ausdruck bringen soll?«

Das folgende Schweigen wurde von einer harten, rauen und schleppenden Stimme unterbrochen. Gonçalves de Magalhaes hatte schließlich doch seine Stimme erhoben:

»Wer kann mit seiner Unterschrift alle Vampire vertreten? Wer von allen Vampiren ist der einflussreichste im Paradies? Wer, wenn nicht Graf Dracula?«

Damit war der einzuschlagende Weg klar. Und ebenso klar war die Wahl der Gesandten. Nomini meo adscribatur victoria. Der Marquis de Pombal und der Herzog von Avila, die einzigen unter den Versammelten, die dem Orden vom Goldenen Vlies angehörten. Niemand außer ihnen wäre würdig gewesen, seinen Fuß in die Andachtburg zu setzen und danach vor Unseren Herrn zu treten.

Die letzte Nacht

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