Читать книгу Hochzeit in der Villa: Schicksale im Haus an der Ecke #33 - G. S. Friebel - Страница 7
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ОглавлениеMartha hatte den Kontakthof des Eckhauses betreten. Ein paar Mädchen standen auf der Rampe. Sie unterhielten sich. Im Hof selbst waren nur zwei Männer. Sie wussten noch nicht, welches Mädchen das Rennen machen sollte. Zögernd standen sie herum und fühlten sich etwas unwohl in ihrer Haut. Eigentlich wären sie am liebsten wieder fortgeschlichen. Doch die Mädchen waren wie ein Magnet. Die Männer konnten sich nicht von ihnen lösen.
Die alte Hure lächelte, als sie es bemerkte, und ging näher zur Rampe. Eva und Cony winkten ihr zu.
»He, Martha, auch mal wieder im Lande?«
Martha nickte.
»Schönes Wetter heute, nicht wahr? Im Park bei euch muss es doch jetzt toll sein!«
»Ja, das kann man wohl sagen.«
»Willst du zu Ida?«, fragte Eva-Maria freundlich. »Dann musst du den Seiteneingang nehmen.«
»Nein, ich will nicht zu Ida, ich möchte zu Deike.«
»Da hast du aber Pech, Martha! Um diese Zeit ist Deike noch nicht hier.«
»Nein? Aber ich muss sie unbedingt sprechen!«
»Ist es so wichtig?«
»Sicher!«
»Warum gehst du dann nicht in ihre Wohnung?«
»Ich weiß die Adresse nicht.«
»Ida weiß sie«, sagte Cony, die nebenbei einen Freier fixierte. Das Geschäft ging schließlich vor.
»Ich möchte aber nicht, dass Ida davon etwas weiß. Jedenfalls im Augenblick noch nicht.«
Cony wandte ihre ganze Aufmerksamkeit nun der alten Frau zu.
»Ach? Und du meinst, es klappt? Ida hört doch die Flöhe husten, Warum willst du es ihr nicht sagen?«
»Ich habe Angst vor Marek«, sagte Martha ruhig.
Die beiden Startüllen blickten von der Rampe aus freundlich zu Martha herunter. »Donnerwetter, dann muss die Sache aber wirklich wichtig sein. Oder sagen wir mal, sie ist sehr heikel, und wenn Ida davon erfährt, dann macht sie mal wieder einen Wirbel, der sich gewaschen hat.«
»So ist es!«, stimmte Martha ihnen zu.
Eva-Maria fragte: »Hat dich Lotte geschickt?«
»Was haltet ihr davon, wenn ihr mir nur einfach Deikes Adresse gebt?«, fragte Martina nun zurück.
Die beiden Startüllen blickten sich an. Sie waren unsicher geworden. Doch Martha konnten sie trauen. Sie würde für Deike durchs Feuer gehen, wie so viele von ihnen es auch tun würden.
Eva-Marie hatte keine Bedenken mehr und nannte Martha die Adresse von Deike.
»Das ist ja mitten in der Stadt!«, rief Martha aus.
»Sicher! Doch wenn du eine Taxe nimmst, geht es schnell.«
Cony sagte leise: »Brauchst du Geld? Soll ich dir die Taxe bezahlen?«
Martha reckte sich.
»Nein, danke, ich kann sie selbst bezahlen!«
Martha verließ den Kontakthof.
Die beiden Mädchen sahen sich an.
»Ein wenig komisch, nicht?«
»Vielleicht hätten wir doch Hanna holen sollen. Hanna weiß immer, was falsch und richtig ist.«
»Wir haben Martha doch nur Deikes Adresse gegeben.«
Während Eva-Maria und Cony noch diskutierten, ob sie richtig gehandelt hatten, kam Ida auf die Rampe.
»War das nicht eben Martha?« Ida, die alte Köchin vom Haus an der Ecke, sah sich um und war erstaunt, Martha nicht mehr vorzufmden.
»Sie hört wirklich die Flöhe husten«, murmelte Eva-Maria Cony zu.
»Aber Ida«, sagte diese, »siehst du Martha hier vielleicht? Wir nehmen Männer mit, aber keine alten Weiber!«
Eva-Maria machte ein harmloses Gesicht. Ida blickte sie starr an. »Ich könnte es beschwören!«, zischte sie.
»Lieber nicht!«, rieten ihr die Mädchen.
Brummend ging Ida in ihre Küche zurück.
Ida war sozusagen das Original des Eckhauses. Früher war sie eine verkommene Hure gewesen. Deike hatte sie gerettet, und seither führte.sie das Regiment im Haus an der Ecke. Idas Herz war so weich wie ein Mäusebauch. Nur konnte sie das natürlich nicht zeigen. Liebe mit Hiebe, das war die Devise von Ida. Wenn sie besonders weichherzig wurde, konnte es sein, dass man eine Bratpfanne auf den Kopf bekam.
Mit den Jahren hatte sich Ida zu einer ausgezeichneten Köchin entwickelt. Sie liebte die Mädchen heiß und innig und ließ nichts auf sie kommen.
Leider zankte sie sich fast stets mit einem Lieferanten. Doch die Männer konnten gar nicht mehr ohne diese Streitereien leben. Zank war das Lebenselixier.
Ida glaubte immer alles besser regeln zu müssen, um ihrer geliebten Deike den Weg zu ebnen. Nur schoss sie manches Mal übers Ziel hinaus. Sie hatte weder Angst vor dem Teufel noch vor den Zuhältern, schon gar nicht vor Marek, dem Königsluden. Dieser war darüber sehr betrübt. Schließlich zitterten alle im Viertel vor ihm. Sein Ruf könnte deshalb Schaden erleiden. Dies sagte er Ida auch hin und wieder. Leider kümmerte es sie gar nicht. Im Gegenteil, Marek musste höllisch aufpassen, nicht ganz unterzugehen.
Als die Dirnen wieder allein auf der Rampe standen, sagte Cony zu Eva-Maria: »Eigentlich möchte ich doch gerne wissen, warum Martha zu Deike wollte.«
»Ich nicht. Das bringt nur Wirbel. Ich bin froh, dass wir wieder in aller Ruhe anschaffen können, dass kein Raubtier im Eckhaus lebt, dass Nadja mit ihrer Wildkatze fort ist und dass Fritzchen, mein liebes Hündchen, wieder seine Ruhe hat.«
Das liebe Hündchen war ein Bobtail und der Liebling aller im Haus an der Ecke. Er hatte ganz besonders Ida ins Herz geschlossen, liebte aber jeden, er ihm etwas Fressbares anzubieten hatte.
Martha hatte das Viertel inzwischen durch die Öffnung in der grauen Mauer verlassen. Dahinter begann die normale Stadt. Hier standen auch gleich die ersten Taxen.
Martha stieg in eine Taxe ein. Der Fahrer drehte sich um.
»Kannste auch zahlen?«, fragte er unverschämt.
Martha schob ihren einfachen Strohhut zurecht und nannte dem Fahrer Deikes Adresse. Er grinste Martha an.
»Deike! Aber sicher kann ich dich hinbringen. Wenn es sein muss sogar umsonst.«
»Das brauchst du nicht! Ich habe Geld genug bei mir«, sagte Martha würdevoll.
»Für Deike tun wir doch alles! Bei ihr machen wir immer einen guten Schnitt. Sie ist ein gutes Mädchen«, erklärte der Fahrer.
»Das weiß ich«, sagte Martha ruhig.
Der Taxifahrer war richtig aufgekratzt. Er mochte Deike ganz besonders gern, tat sie doch jedem einen Gefallen, wenn sie darum gebeten wurde. Sie war die Seele des Viertels geworden.
Martha zahlte und stieg in der vornehmen Straße aus. Sie besah sich das Haus, in dem Deike, die Bordellmutter vom Haus an der Ecke, lebte, bewundernd an.
Es war ganz in Marmor gehalten und sah wirklich sehr vornehm aus. Martha wusste von der Eigentumswohnung der Bordellmutter. Doch dass sie so vornehm wohnte, hatte sie bis zu diesem Augenblick nicht glauben können. Fast schüchtern betrat Martha die Eingangshalle, fand den Lift und fuhr in den zweiten Stock. Auf einem goldenen Schild stand Deikes Name. Martha klingelte und stand wenig später Imka gegenüber. Imka war Deikes Haushälterin. Sie war eine Holländerin, die einst gegen ihren Willen ins Haus an der Ecke verschleppt worden war. Es war Deike gewesen, die das Mädchen befreit hatte. Aus Dankbarkeit blieb Imka jetzt bei Deike und führte ihr den Haushalt. Imka liebte Deike ebenso wie Ida. Deswegen waren die zwei auch Rivalinnen. Martha lächelte verlegen.
Imka machte erst einmal große Augen. Natürlich kannte sie Martha und ihre ganze Geschichte.
»Hallo, Martha! Komm rein! Du brauchst doch nicht im Treppenhaus stehenzubleiben! Nett, dass du mal zu mir kommst. Komm, ich brühe uns frischen Kaffee auf.«
Martha ging hinter Imka in die modern eingerichtete Diele. Zögernd fragte sie: »Ist Deike da?«
»Aber ja!« Imka drehte sich zu Martha um. Sie hatte Martha mit in die Küche nehmen wollen. Doch jetzt ließ sie es bleiben und fragte rundheraus: »Du bist also gar nicht zu mir gekommen? Du hast eine Botschaft für Deike?
Die einfache Frau biss sich auf die Lippen. Die vornehme Umgebung hatte sie total eingeschüchtert. Fast hätte sie wieder vergessen, weswegen sie hergekommen war.
»Keine Botschaft«, sagte Martha hastig.
»Was dann?«, fragte Imka.
»Das ist nicht so einfach zu erklären. Ich kann es nur Deike sagen.«
»Steckt Ida dahinter?« Imka bekam finstere Augen.
»Nein, nein, ehrlich nicht! Eva-Maria hat mir die Adresse gegeben. Ich habe Ida gar nicht gesehen.«
»Um so besser. Komm, ich schau mal nach, ob Deike schon wach ist. Dann kannst du mit Deike den Kaffee nehmen.«
Auch Deike war erstaunt, als sie hörte, dass Martha sie besuchen kam. »Natürlich komme ich sofort!«, rief sie Imka zu.
Wenig später saßen die beiden ungleichen Frauen am Panoramafenster und ließen sich den Kaffee munden. Deike. eine hochelegante und sehr kluge Frau, war früher ein großer Dirnenstar gewesen. Sie war wegen einer Krebserkrankung operiert worden. Nun mochte sie sich nicht mehr den Männern zeigen. Selbst mit Marek hatte sie die größten Schwierigkeiten. Deike führte seit Jahren das Haus an der Ecke. Es war ihr Leben geworden. Nach dem schlimmen Tief vor gut sechs Jahren war sie zu einer außerordentlichen Persönlichkeit herangereift. Selbst die Beamten von der Polizei hatten Respekt vor ihr. Immer gab sie kluge und besonnene Ratschläge.
»Hat Lotte wieder Dummheiten gemacht? Schickt sie dich? Soll ich vielleicht ihren Sohn schonend auf irgend etwas vorbereiten?«, fragte Deike jetzt lachend Martha.
»Nein, nein! Lotte weißt doch gar nicht, dass ich hier bin. Ich muss auch gleich wieder zurück. Alfred hält solange Wache. Er schweigt bestimmt. Auf ihn kann ich mich verlassen. Lotte will es ja gar nicht, deswegen bin ich auch heimlich gekommen. Es geht einfach nicht mehr, Deike!« Plötzlich hatte Martha Tränen in den Augen. »Ich kann es nicht mehr länger ansehen! Wirklich nicht, Deike!«
»Um Himmels willen, so sprich doch! Wenn Lotte mir auch hin und wieder das Leben schwermacht, sie will ja noch immer, dass ich ihren Sohn heirate, so habe ich sie doch von Herzen lieb und möchte ihr helfen. So sprich doch endlich, Martha!«
Imka stand neben Martha und sah sie aufmunternd an.
»Ich hoffe nur, dass sie mir nicht böse sein wird und mich fortschickt«, sagte Martha leise. »Denn das könnte ich nicht ertragen. Ein Leben auf der Straße, das packe ich nicht mehr!«
»Dich wird niemand fortschicken! Lotte schon gar nicht!«
»Wir schaffen es einfach nicht mehr«, begann Martha. »Es geht über unsere Kräfte. Alfred ist fix und fertig, Agnes packt es auch bald nicht mehr, von Lotte ganz zu schweigen. Sie ist ja wie ein altes Schlachtschiff und will einfach nicht einsehen, dass sich was ändern muss.
»Ja, was denn?«, fragte Deike besorgt »Die Pflege!«
Deike. machte ein überraschtes Gesicht.
»Ist es mit Jörg schlimmer geworden?«, fragte sie.
»Schlimmer? Ich vermute, es geht dem Ende zu. Wir haben es schon die ganze Zeit gewusst, doch Lotte wollte einfach nicht, dass wir dich damit behelligen.«
Deike war aufgestanden und ging im Zimmer hin und her. Jörg Sauer war an Aids erkrankt. Agnes auch. Agnes war seinerzeit von Martha aufgegriffen und zu Lotte gebracht worden. Jetzt half sie dort in der Villa. Der Unterschied zwischen den beiden Aidspatienten war, dass die Krankheit bei Agnes noch nicht ausgebrochen war. Sie war bisher nur positiv. Jörg war von Bärbel zu Lotte in die Villa gebracht worden. Sie hatte Jörgs Bruder als spendablen Freier und in dessen Wohnung durch Zufall den Kranken kennengelernt. Jörg wollte lieber in Frieden irgendwo sterben, nur nicht in einem Krankenhaus. Er hatte schon zu viel gelitten.
Seinerzeit hatte totales Chaos geherrscht. Marek war fast ausgerastet und hatte alles mögliche anstellen wollen. Die Mädchen aus dem Haus an der Ecke hatten sich aber vorbildlich verhalten. Selbst die Dirnen im Viertel hatten mitgemacht, und man hatte die Villa total umgestellt. Nicht mal Wegener, der Kommissar der Sitte, hatte etwas ausrichten können.
Die Dirnen und die Luden hatten alle gesammelt. Sie hatten sich gesagt, jeder von uns kann ja schon die Krankheit in sich haben. So bekommen wir eine eigene Bleibe und werden nicht abgeschoben. Noch nie war so viel Solidarität im Viertel gewesen wie zu dieser Zeit. Jörgs Schicksal hatte etwas ausgelöst, das man mit Geld einfach nicht kaufen konnte.
»Wie geht das denn jetzt vor sich?«, erkundigte sich Deike eingehend.
»Doc kommt jeden Tag zweimal. Manchmal auch in der Nacht. Ja, es ist wohl das Ende. Jörg leidet sehr, trägt es aber tapfer. Einer von uns muss immer bei ihm sein, am Tage und auch in der Nacht. Aber wir müssen ja auch den Haushalt machen. Und so kriegen wir das langsam nicht mehr geregelt. Wir sind bald am Ende. Ich habe schon einige Nächte nicht mehr geschlafen, Deike. Ich bin sehr müde, aber Lotte hat noch viel weniger Schlaf bekommen. Du kennst sie ja! Sie will eisern erscheinen.«
»Ich mache mir wirklich Vorwürfe!«
»Das brauchst du nicht, Deike! Deswegen bin ich nicht zu dir gekommen. Ich dachte nur, wir müssen eine Lösung finden, bevor das alte Mädchen total abbaut.«
»Aber warum habt ihr denn noch keine Hilfe eingestellt? Ihr habt doch genug Geld«, sagte Imka.
»Ja, daran denke ich ja auch die ganze Zeit. Lotte will es aber nicht.«
»Es ist wirklich ganz toll von dir, Martha, dass du zu mir gekommen bist!«
Martha errötete über dieses Lob und blickte beschämt zu Boden.
»Ach, das ist doch selbstverständlich. Deike. Weißt du, ich würde ja noch eine gewisse Zeit durchhalten, wenn ich wüsste, in ein oder in zwei Wochen ist alles vorbei. Der Doc kann es auch nicht sagen. Jörg rappelt sich immer wieder auf. Ich meine, er hat noch ein sehr starkes Herz.«
»Kann ich denn nicht helfen?«, bot sich Imka sofort an.
Deike sagte: »Lieb von dir, aber das geht auch nicht. Wir müssen erfahrene Leute einstellen und sie gut bezahlen. Das hilft uns weiter. Wir müssen ja damit rechnen, dass wir weitere Fälle bekommen. In letzter Zeit hört man so einiges im Viertel.«
Martha war aufgestanden.
»Ich muss jetzt gehen, sonst merkt Lotte, dass ich fort bin.«
»Warte, ich ziehe mich nur um, dann nehme ich dich mit. Das geht dann schneller.«
»Du willst zu uns rausfahren?«, fragte Martha ängstlich.
»Zufällig, Martha, ganz zufällig, verstehst du? Mir wird unterwegs schon ein Grund einfallen. Du brauchst wirklich keine Angst zu haben.«
»Aber wenn sie mich in deinem Wagen sieht, wird sie nicht mehr an einen Zufall glauben«, sagte Martha.
»Natürlich, darum wirst du auch kurz vorher aussteigen. Schau, Martha! Lotte und Ida sind ja clever, wir aber auch.«
Martha grinste.
»Ida habe ich auch nichts gesagt. Die wäre nämlich sofort gekommen. Und Lotte und Ida in einem Haus, ach nee, weißt du, da ist das Leben nicht mehr so lustig.«
»Wem sagst du das«, gab Deike lachend zurück.
Es verging keine Viertelstunde, da war Deike startbereit. Sie hatte darüber nachgedacht, ob sie Marek verständigen sollte. Doch dann sagte sie sich, er wird alles auf den Kopf stellen, wenn er hört, dass seine Mutter solche Probleme hat. Nein, ich muss erst sehen, ob ich es allein regeln kann. Er kann ja noch immer als Notnagel dienen.
Die alte Jugendstilvilla von Lotte lag in herrlichem Sonnenschein. Deike fühlte immer ein Ziehen in der Brust, wenn sie das Haus vor sich sah, dahinter den Park mit den uralten Bäumen. Hier war die Welt noch in Ordnung. Das glaubten zumindest die Anwohner in diesem eleganten Viertel. Woher sollten sie auch wissen, dass hier schon der Tod eingekehrt war?
Martha stieg an der Ecke aus und sagte: »Ich warte ein bisschen. Wenn du auftauchst, ist Lotte so überrascht, dass sie gar nicht merkt, dass ich nicht zugegen bin. Sag aber schon mal Alfred Bescheid, er soll das Tor angelehnt lassen.«
»Mach ich!«
Lotte hatte seinerzeit Alfred kennengelernt. Er war ein Rentner, der in einem Heim vor sich hin kümmerte. Dann taten sich die zwei alten Leute zusammen, und jetzt lebte er hier und versorgte den Park und das kleine Gewächshaus.
Er nickte nur, als Deike ihm wegen Martha Bescheid gab.
»Fein, dass du gleich gekommen bist, Deike! Lotte ist störrisch wie ein Maulesel. Ich fürchte, du wirst auch nicht viel bei ihr ausrichten können.«
»Das werden wir erst mal sehen«, sagte die Bordellmutter. »Ich habe schon ganz andere Situationen gemeistert.«
Lotte erfuhr von Agnes, dass Deike plötzlich aufgetaucht sei. Sie sprang auf und tat jetzt etwas, was sie in ihrem ganzen Leben noch nicht getan hatte. Sie verlangte von Agnes Gesichtspuder.
Agnes blickte die alte Dame verwundert an und sagte: »Du kannst Deike nicht täuschen!«
»Sie soll mich nicht so hinfällig sehen! Deike hat eigene Sorgen.«
»Du kannst es bekommen, aber es nützt nichts.«
»Lass man, Kindchen! Ich bin ein wenig älter als du und habe schon so manchen überzeugt.«
Agnes lachte und holte dann das Makeup.
Da Deike warten musste, ging sie sogleich zu Jörg. Sie konnte sich vorstellen, dass Lotte ihr das nicht erlauben würde. Sie betrat das Zimmer des Schwerkranken. Als sie ihn dann vor sich liegen sah, war sie doch sehr geschockt. Jörg war über und über mit Wunden bedeckt. Nur sein Gesicht war noch sauber. In seinen Augen lag ein gequälter Blick.
Deike war so bestürzt, dass sie ein paar Sekunden wie erstarrt an der Tür stehenblieb.
»Hallo«, sagte der Schwerkranke leise. »Bist du gekommen, um mich zu holen?«
Deike hatte einen Kloß in der Kehle. So direkt mit dieser Krankheit konfrontiert zu werden, war doch ein schlimmer Schlag. Ja, sie fühlte es jetzt ganz deutlich, der Tod war zu Gast in diesem Haus. Deike hatte selbst keine Angst vor dem Sterben. Das hatte man ihr vor sechs Jahren ausgetrieben. Ihr hatte man auch schon gesagt, sie würde es nicht mehr lange machen. Sie hatte das Urteil der Ärzte angenommen. Sie hatte sich damit auseinandergesetzt und merkwürdigerweise eines Tages begriffen, sterben war gar nicht so schwer. Als sie es angenommen hatte, fühlte sie plötzlich, dass sie frei geworden war, restlos frei. Jetzt fing sie erst an zu leben. Ohne Furcht im Herzen wurde sie stark.
Warum musste sie in diesen Minuten daran denken? Wollte sie vielleicht ergründen, ob der Aidspatient auch schon soweit war? Wollte sie es ihm erleichtern? Mit ihm reden?
Jörg hatte ihr eine Frage gestellt.
Deike räusperte sich, und der Kloß in ihrer Kehle verschwand.
»Warum soll ich dich holen kommen? Möchtest du fort? Das ist mir neu. Das hat man mir nicht gesagt.«
Der junge Mann wandte seinen Kopf zur Wand. Hatte er nicht schon zu lange die Gastfreundschaft der Frauen hier in Anspruch genommen? Sollte er nicht Größe zeigen und selber fortgehen? Er wollte ihnen sein Sterben nicht zumuten. In seinem Herzen war ein Feuer, das brannte und schmerzte. Er hätte ja alles getan, wirklich alles, nur um zu zeigen, wie dankbar er ihnen war. Aber wohin sollte er gehen? Er musste bleiben. Niemand würde ihn nehmen. Niemand. Höchstens ein Krankenhaus. Dort würde er aber nicht in Frieden sterben können. Sie würden noch alles mögliche mit ihm anstellen, um sein Leben zu erhalten. Das war ihre Pflicht.
Heiße Tränen rannen über Jörgs Gesicht.
Deike sah es und musste sich für einen Augenblick überwinden. Doch dann hatte sie es geschafft. Sie ging zu Jörgs Bett, nahm seine Hand und streichelte sie leicht.
Jörg starrte Deike mit aufgerissenen Augen an.
»Hast du denn keine Angst?«, keuchte er verzweifelt. »Lass mich los! Bitte, ich flehe dich an!«
Deikes Herz blutete. Hautnah wurde sie an alles erinnert. An ihre eigene Erkrankung. Als man sie ablehnte, als alle Angst hatten vor Krebs.
O Gott, dachte sie verzweifelt, werde ich diesen Schatten denn nie los? Kann ich mich nicht davon befreien?
»Man hat dir also nichts von mir erzählt?«
Fragend sah er sie an.
Deike erzählte ihm nun über sich und ihre Verzweiflung damals.
»Ich kann dich so gut verstehen. Hab keine Angst, Jörg! Du wirst hierbleiben, und wenn ich mich gegen die ganze Welt stellen muss. Du bleibst!«
»Oh, Deike, ich bin dir so dankbar!«
»Lass das! Es ist nicht nötig.«
Unten hörten sie Lotte laut nach Deike rufen.
»Ich komme wieder!«, versprach sie Jörg.
Deike ging nach unten. Aufgewühlt stand sie Lotte gegenüber. »Warum hast du mir nicht Bescheid gegeben?«, fragte sie streng.
Mareks Mutter hatte sich eine so tolle Begrüßungsrede ausgedacht. Jetzt konnte sie diese natürlich nicht mehr gebrauchen. Deike war immer so direkt.
Der Bordellmutter entging es natürlich nicht, dass Lotte auf ihre fahlen Wangen Puder aufgelegt hatte. Sie musste sogar ein wenig darüber lächeln.
»Du warst bei Jörg?«, fragte Lotte.
Vor einigen Sekunden hatte Deike noch nicht gewusst, wie sie bei Lotte vorgehen sollte. Doch jetzt fühlte sie Stärke in sich.
»Ja, ich war bei ihm. Er braucht Hilfe und Pflege. Du hast gegen die Abmachung verstoßen, Lotte! Wozu haben die Mädchen denn das Geld gesammelt. Es müssen jetzt sofort zwei Krankenschwestern her, eine für die Nacht, und eine für den Tag. Das kann doch von dem Geld bezahlt werden. Wie kannst du nur so geizig sein!«
Lotte Geiz nachzusagen, war wirklich sehr schlimm. Sie ging sofort in die Falle und prustete wild los. Deike hatte sie mit einem Streich da, wohin sie sie haben wollte. Jetzt hatte die alte Dame ein schlechtes Gewissen.
Aus den Augenwinkeln sah Deike Martha auf sich zukommen. Sie trug ein Tablett mit Kaffee und Kuchen.
Auch Agnes kam jetzt herein, und zum Schluss Alfred.
»Du wirst endlich aufhören, auf dem Geldsack zu sitzen, sonst sage ich es Ida! Weißt du auch, was sie dann tun wird?«
»Ida? Was kann sie denn schon ausrichten?«, fragte Lotte.
»Sie ist eine Seele von Mensch, und wenn sie sieht, dass du dich hier zu Tode schindest, übrigens habe ich nichts dagegen, wenn das deine Art ist, aus dem Leben zu scheiden. Doch ich habe etwas dagegen, dass du auch Agnes, Martha und Alfred zugrunde richtest! Sie möchten noch ein wenig von ihrem Leben haben.«
Lotte war sprachlos.
»Ida wird sofort von ihrem Geld Pflegekräfte einstellen, wenn sie davon Wind bekommt.«
»Ich habe angenommen, wir schaffen es auch alleine«, sagte Lotte kleinlaut.
»Jörg leidet doch auch darunter«, sagte Deike leise.
»Jörg?«, fragte Lotte verwundert.
»Er weint! Er kann es einfach nicht mehr mit ansehen, wie ihr euch seinetwegen ruiniert.«
»Hat er das gesagt?«, wollte Lotte wissen.
»So etwas braucht er nicht zu sagen. Außerdem ist jetzt Mitleid wie Gift für ihn. Sein Körper zerfällt. Er braucht Hilfe, also wird er sie bekommen.«
»Schön, dann sollen sie kommen und ihm helfen. Aber ich werde trotzdem weitermachen!“ Lotte war schon wieder obenauf.
Deike nickte. »Das sollt ihr auch. Ich habe doch nicht gesagt, dass ihr nicht mehr helfen sollt. Aber nicht ununterbrochen! Euer Körper braucht auch Ruhe und Erholung. Der beste Arzt und die beste Krankenschwester bleiben nur gut, weil sie zwischen Dienst und Erholung eine Trennung machen.«
»Woher kriegen wir denn jetzt die Leute?«
»Du kannst eine Anzeige aufgeben. Biete gute Bezahlung, und wir haben dieses Problem gelöst.«
Lotte legte den Kopf schief.
»Warum bist du eigentlich heute hergekommen? Das ist doch sonst nicht deine Art. Liegt was an?«
Deike fühlte sich ertappt. Schon wollte sie eine Ausrede gebrauchen, da sagte Agnes hastig: »Aber Lotte, jetzt ist Deike wirklich verblüfft!«
»Weil ich sie frage? Ich habe nämlich so einen Verdacht.« Lotte blickte Agnes, Martha und Alfred durchdringend an. Die taten aber so, als könnten sie kein Wässerchen trüben.
»Dein Sohn hat doch bald Geburtstag. Deike hat mir eben noch gesagt, hoffentlich hat Lotte eine Idee für ein Geschenk.«
Mareks Mutter kniff die Augen zusammen. Es stimmte wirklich. Es war zwar noch einen Monat Zeit, aber immerhin, Marek wurde fünfzig. Das musste man gigantisch feiern.
Lotte blickte Deike an.
»Und?«, fragte sie.
»Hast du eine Idee?«, fragte Deike scheinheilig und machte Agnes heimlich ein Zeichen der Dankbarkeit.
Lotte merkte es nicht.
»Was soll denn gemacht werden?«
»Ich dachte, wir feiern hier. Platz ist ja genug. Aber ich sehe, du kannst schon gar nicht mehr klar denken. Zuerst müssen wir das Problem Jörg lösen. In ein paar Tagen sprechen wir dann über den Geburtstag. Ich muss in die Stadt zurück.«
Lotte brachte Deike zum Tor.
»Irgendwie habe ich das dumme Gefühl, bei dir stimmt etwas nicht«
Deike blickte Lotte unschuldsvoll an.
»Ach ja?«
»Willst du das Fest nicht verschönern und zugleich deine Verlobung mit Marek bekanntgeben?«
»Aber wir sind doch schon verlobt«, sagte Deike lachend.
Lotte lachte auch. »Ja, richtig! Das habe ich ganz vergessen. Also dann den Hochzeitstermin!«
Deike hatte es plötzlich sehr eilig fortzukommen.
Lotte stand am Tor und grinste fröhlich vor sich hin. »Ich kriege es noch heraus! Einer hat mich verraten!«