Читать книгу Mein Hass war stärker: Roman - G. S. Friebel - Страница 6
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ОглавлениеManchmal halte ich es im Zimmer nicht mehr aus. Mir ist, als würde die Decke über meinem Kopf zusammenstürzen und mich begraben. Ja, so ist mir. Nachts träume ich davon, ich wäre tot. Seltsam ist das! Sie sagen, es braucht seine Zeit, ich solle nicht mehr daran denken. Die können das leicht sagen, aber ich kann es einfach nicht. Ich meine, alles einfach vergessen. Nur wenn ich eine Schlaftablette nehme, ist für Stunden alles aus meinem Gedächtnis verschwunden. Sie sagen, sie
wollen nur mein Bestes. Das weiß ich doch. Niemand braucht es mir zu sagen, ich spüre es. Mein Gott, ich bin schließlich kein Kind mehr. Mit siebzehn ist man erwachsen. In einem Jahr bin ich volljährig. Wenn ich daran denke, wird mir ganz komisch zumute. Erwachsen! Will ich das überhaupt? Früher, als ich noch ein kleines Mädchen war! Wie gut kann ich mich noch daran erinnern. Papi und ich liefen über eine Wiese. Und er hat mich dann hochgehoben und durch die Luft geworfen. So leicht und glücklich fühlte ich mich. Damals!
Quatsch, denke ich plötzlich. So ein Blödsinn, jetzt daran zu denken. Papa ist seit über zehn Jahren tot. Damals war ich sechs. Ein kleines Ding mit Sommersprossen und abstehenden Zäpfchen. Ich habe ein Bild davon. Papa und ich, wir stehen Hand in Hand da und lächeln uns an.
Mama sagte mir mal, Papa sei rein närrisch gewesen, als ich zur Welt kam. Damals hatte er die Vierzig schon überschritten, war lange im Krieg und dann in der Gefangenschaft gewesen. Vom ersten Augenblick an habe er mich leidenschaftlich geliebt. Mama behauptet jetzt, sie hätte damals schon gewusst, dass so etwas nicht gut sei. Ich schüttele mich. Wie kann sie nur so etwas behaupten! Vaterkomplex! Sie glaubt also immer noch daran, dass ich lüge. Ich balle die Hände zusammen. Wie gemein, wie schrecklich gemein sie doch sein kann.
Ach, wenn Papa doch noch leben würde! Alles wäre anders geworden, mein ganzes Leben. Ich weiß es genau. Er starb, als ich sechs Jahre alt war. Ich kann mich noch so gut daran erinnern. Jetzt habe ich auch wieder ein scheußliches Gefühl im Leib wie damals, als sie ihn zum Friedhof brachten und Erde auf ihn schütteten. Lange Jahre konnte ich dieses Bild nicht vergessen. Oft bin ich heimlich hingelaufen und habe an seinem Grab geweint. Irgendwie hat es mich immer getröstet. Es ging weiter. Sie sagten, bei mir sei eine Schraube locker.
Mama hat vor dem Jugendamt behauptet, ich sei ein schwieriges Kind gewesen. Das stimmt gar nicht. Ist man schwierig, wenn man allein sein will? Wenn man vor dem Leben Angst hat? Wenn man lieber lernt und Bücher liest? Ist man dann wirklich ein schwieriges Kind?
Es stimmt, ich hatte keine Freundinnen. Aber nur deshalb, weil ich mich nie mehr an einen Menschen fester binden wollte. Papa und ich haben uns so geliebt und es hat doch nichts genützt. Ich wollte nicht noch einmal leiden. Darum hatte ich mir meine eigene Welt aufgebaut. Und ich war glücklich darin, jawohl, sehr glücklich sogar.
Wenn andere etwas Falsches behaupten, dann lügen sie. Ich war die Beste in der Klasse. Jeder Lehrer hat sich für mich eingesetzt. Mama wollte mich nicht aufs Gymnasium lassen. Aber ich habe es doch geschafft.
Ich hätte mit achtzehn mein Abitur gemacht, mit Auszeichnung wahrscheinlich, und dann hätte ich studiert. Alles war plötzlich so einfach und problemlos, ich freute mich auf die Zukunft. Wirklich, ich war zum ersten Male wieder richtig froh. Langsam freundete ich mich auch mit Mama an. Wir verstanden uns auf einmal prächtig. Wie Freundinnen waren wir. Ach, es war wirklich schön. Zukunftspläne haben wir geschmiedet!
Und dann kam Kuno! Ich stehe auf und gehe zum Fenster. Ein Würgen ist in meiner Kehle. Nein, ich muss mich nicht übergeben, wirklich nicht. Meine Augen sind voller Tränen, ich kann nichts mehr sehen. Das Herz klopft schnell.
Und Mama hatte mich die ganze Zeit belogen.
Ich presse die Hände zusammen, ich darf nicht mehr daran denken. Fräulein Breuer hat recht. Sie ist Fürsorgerin und muss es wohl genau wissen. Ich vertraue ihr ja und bin so dankbar, aber sie kann mir auch nicht die Gedanken aus dem Gehirn vertreiben. Es müsste einer da sein, der sie mit einem glühenden Eisen ausbrennt, dann erst fände ich Ruhe.
Jetzt ist wieder so ein Augenblick! Ich kann das Eingesperrtsein nicht mehr ertragen. Die vier Wände sind mein Gefängnis. Ich ersticke! Hastig reiße ich eine Jacke aus dem Schrank und laufe nach draußen. Im Haus ist es ganz still.
Frau Breuer, Fräulein Breuers Mutter, ist auch nicht da. Sie wird wohl einkaufen gegangen sein.
Einen Augenblick bleibe ich noch stehen. Ist diese Flucht nicht sinnlos? Ich laufe mal wieder vor mir selbst davon. Aber ich gehe ja nicht weit, komme immer wieder. Die Stille erdrückt mich einfach. Ich muss jetzt unter Menschen. Langsam gehe ich durch die kleine Vorortstraße. Es ist schön, einfach nur zu gehen. Die Sonne scheint warm und die zarten Birkenblätter wehen im leichten Wind. Stundenlang könnte ich so gehen. Manchmal denke ich, man müsste das alles aufschreiben. Ich meine, was man so sieht, die Natur und wie sie auf einen wirkt. Aber so viele große Männer und Frauen haben das schon getan. Was will ich armes Würmchen denn? Nur Gestammel könnte ich hervorbringen.
Ich freue mich einfach, und das ist auch schön. Am Ende der Straße ist eine winzige Anlage. Die Anlieger nennen das bisschen Rasen und die paar Bäume und Rosensträucher Park. Mitten in der Anlage ist ein Spielplatz. So ein moderner, ganz aus Holz. Und toll zum Klettern. Ich hätte auch Lust, darauf zu klettern. Aber bestimmt lachen sie mich dann alle aus. Ich bin ja schon siebzehn. Außerdem ist der Spielplatz für Kinder über vierzehn verboten. Mir bleibt also nichts anderes übrig, als mich auf eine Bank zu setzen und zuzuschauen.
Rings um mich herum tollen Kinder, und junge Mütter sitzen auf den Bänken. Sie unterhalten sich, stricken, schimpfen ihre Kinder aus, wenn sie Unsinn machen oder zu waghalsig sind. Ich schließe die Augen. Die Sonne liegt auf meinem Gesicht. Mir ist, als würde einer ganz zart darüber hinwegstreichen. Schön ist das! Warum sehnt man sich eigentlich so sehr nach Zärtlichkeit? Ich kann das nicht verstehen. Aber dann denke ich, es ist nicht die Zärtlichkeit, sondern man muss das Gefühl haben, da ist einer, der hat dich lieb, der denkt an dich. Ihm ist es nicht gleichgültig, was mit dir geschieht. Er lacht und weint mit dir. Aber um zu wissen, dass es so ist, muss man es in Zärtlichkeit ausdrücken.
Jemand hat sich auf meine Bank gesetzt. Vorsichtig öffne ich die Augen. Es ist eine junge Mutter mit ihrem Baby. Es liegt im Kinderwagen. Die Decke hat sie fortgenommen. Es strampelt mit den Beinchen in der Luft herum.
Eine eisige Faust greift nach meinem Herzen!
„Tim!“
„Er heißt Markus“, sagt die junge Frau und sieht mich lächelnd an.
Da erst merke ich, dass ich laut gesprochen habe. Tim, habe ich gesagt. Den Namen meines Kindes! Mein kleiner Junge! Alles schwimmt vor meinen Augen. Ich starre das fremde Baby an. Tim!, schreit mein Herz auf. Tim würde jetzt auch schon die Beinchen hoch strecken, und so spitzbübisch lächeln.
„Er ist hübsch“, sage ich mühsam beherrscht.
„Wirklich?“, erwiderte die junge Frau. „Es ist unser erstes, wissen Sie. Mein Mann und ich sind ganz stolz darauf. Und er ist schon so klug. Sie glauben gar nicht was er nicht alles kann.“
Jede Mutter lobt ihr Kind.
„Wie alt ist er denn?“, frage ich leise.
„Sieben Monate alt.“
Wie Tim, denke ich. Mein Gott, mir ist, als bekäme ich keine Luft mehr. Ich habe Schmerzen in der Brust. Wie damals, als der Arzt mir sagte, das ist nur die Milch. Aber sie würden etwas dagegen tun. Ich brauche keine Angst zu haben. Mein Magen krampft sich zusammen. Habe ich gestöhnt?
Nein.
Tim, Tim, Tim! Immer wieder schreit mein Herz den Namen. Ich will fortlaufen, aber ich bin wie festgenagelt. Ich muss immerzu das fremde Baby anstarren.
Sieben Monate, so lange ist das schon her? Wirklich? Ich habe es fast vergessen. Aber ich werde nie vergessen, wie ich meinen Sohn im Arm halten durfte. Dieses winzige hilflose Etwas. Mit den Fingerchen, so zart wie Blütenstängel. Dem Rosenmündchen. Seinen winzigen Löckchen. Und ganz kleine Fingernägel hat er auch gehabt. Ein vollkommen kleiner Mensch ist er gewesen. Und ich hatte immer lachen müssen, wenn ich ihm das Fläschchen gab, dann pustete er durch die Nase und stöhnte lustvoll auf. Ich hatte ihn im Arm gehalten, sein kleines klopfendes Herz an dem meinen. Nie war ich so glücklich gewesen wie in der kurzen Zeitspanne, da wir eins gewesen waren. Ich und Tim.
Anfangs hatte ich immer Angst gehabt, ich würde das kleine Menschlein zerbrechen. Und dann hatte ich einfach nicht glauben wollen, dass ich wirklich so etwas zustande bringen konnte. War es nicht wie ein großes Wunder gewesen?
„Ist Ihnen nicht gut?“
Ich öffne die Augen. Die fremde Frau sieht mich erschrocken an.
„Sie sind auf einmal so weiß geworden. Kommen Sie doch in den Schatten. Die Sonne ist jetzt nicht gut. Man kann schnell schwindelig davon werden.“
„Danke“, sagte ich mit versagender Stimme. „Es geht schon wieder.“
„Na, ich weiß nicht.“
Ich blicke wieder auf das Baby. Es brabbelt vor sich hin. Ich kann es nicht verstehen. Die Mutter lächelt zärtlich auf ihr Kind herab. Ein übergroßes Verlangen ist in mir. Die Arme tun mir weh. Mich überfällt die Sehnsucht nach Tim.
„Ddddarf ich Ihr Baby mal auf den Arm nehmen?“ Nun ist es heraus.
Sie sieht mich für einen kurzen Augenblick zögernd an. Aber dann lächelt sie schon wieder. Sie kann nicht viel älter sein als ich, denke ich.
„Aber gern“, sagt sie, erhebt sich, nimmt das strampelnde Bündel aus dem Wagen und reicht es mir.
Meine Arme strecken sich aus, ich nehme ihn, halte ihn fest. Mein Herz will überquellen. Es ist so wunderbar. Ich vergesse alles um mich herum. Ich sehe nur das Kind, und ich bilde mir ein, es sei Tim, mein kleiner Sohn. Wir lächeln uns an. Seine Augen sind so blau wie die von Tim. Und Löckchen hat er auch, ganz viele. Seine Händchen fuchteln durch die Luft, er will nach meinem Haar greifen. Das konnte Tim noch nicht.
„Sie haben wohl Kinder sehr gern, nicht wahr?“
„O ja“, sage ich inbrünstig. „Ich liebe sie. Sie sind das Schönste auf der Welt.“
„Ja, das haben Sie wunderbar gesagt. Aber Sie sind ja noch so jung. Eines Tages werden Sie selbst Kinder haben.“
Ich blicke die Frau an, und dann wird mir wieder bewusst, dass ich mich selbst betrüge. Es ist nicht Tim, nein, er heißt Markus! Wenn es Tim wäre ...
Meine Arme umschlingen das Baby, ich fühle wieder das Entsetzen in mir hochsteigen. Die gurgelnde Angst, der Hass.
„Bitte nehmen Sie es zurück“, sagte ich gebrochen. „Nehmen Sie Ihr Baby wieder.“
Sie umfasst es liebevoll, drückt das kleine Gesichtchen an ihre Wange. Nun ist sie es, die für einen Augenblick die Gegenwart vergisst.
Jetzt ist mir wirklich schlecht. Ich möchte mich übergeben. Der ganze Hass steigt in mir hoch. So ein Blödsinn, da laufe ich fort! Wovor eigentlich? Komme hierher, glaube mich hier sicher, und werde mit dem Alltag konfrontiert. Daran haben die Neunmalklugen nicht gedacht, denke ich bitter. Jeden Tag, überall muss ich sie sehen, werde erinnert.
Komme ich denn nie mehr davon los? Bin ich für mein Leben gezeichnet? Ich will doch nicht mehr! Ich bin am Ende, ich habe keine Kraft mehr. Ausgelaugt und müde zerschlagen. Man hat mir meine heile Welt in Trümmer gelegt. Und ich stehe davor, soll sie aufsammeln und noch einmal von vorn beginnen. Schöne Worte, ja, die kann jeder machen. Ich will ja auch daran glauben, darauf hoffen, dass sich Wunden schließen, vernarben, eines Tages nicht mehr vorhanden sind. Aber wann ist Eines Tages? Ich weiß es nicht. Es kann ein Jahr, es kann auch hundert Jahre dauern.
Die junge Frau legt ihr Bübchen in den Wagen zurück. Es kräht vor sich hin, ist fröhlich. Warum sollte er auch nicht! Er erfährt nichts als Liebe, kennt noch nicht die Falschheit, weiß noch nichts von Schmerz und Grausamkeit.
Plötzlich fällt ein Schatten über mich. Ich hebe den Kopf, blinzele mit den Augen.
„Elfie. hier bist du also! Ich habe dich schon überall gesucht. Warum hast du keine Nachricht hinterlassen? Du hast doch gewusst, dass ich komme. Wir haben uns Sorgen gemacht.“
„Walter“, sage ich erschrocken. Ich bin wieder da, in der alten Welt.
„Ich muss jetzt gehen“, sagt die fremde Frau. „Vielleicht sehen wir uns wieder? Ich bin oft hier.“
Ich blicke ihr nach. Walter setzt sich neben mich, legt seinen Arm um meine Schulter.
„Elfie, dumme kleine Elfie, warum tust du es? Es hat doch keinen Zweck.“ Er hat meine Gedanken richtig erkannt. Walter versteht mich. Er allein versteht mich vollkommen. Walter ist einundzwanzig Jahre alt, er ist klüger als alle Professoren zusammen.
Ich umklammere die Hand, die sich mir entgegenstreckt.
„Walter“, sage ich brüchig, und jetzt laufen mir die Tränen über das Gesicht. „Es kam ganz plötzlich. Walter. Ganz plötzlich konnte ich nicht mehr. Ich ...“
„Sprich nicht, es quält dich doch nur, Elfie!“
„Ja“, stimme ich ihm zu. „Ja, es quält mich. Du verstehst mich. Aber Walter, ich kann doch nicht dagegen an.“
Er nimmt meinen Kopf und legt ihn an seine Schulter. Ihm ist es gleich, ob man uns beobachtet, sich über ihn lustig macht. Ich fühle mich geborgen, werde langsam ruhiger.
,,Wenn du da bist, ist alles gut, Walter!“, seufze ich leise.
„Ach Elfie“, sagt er zärtlich und streicht mir über das Haar. ,,Elfie. kleine Maus. Du darfst dir nicht selbst weh tun, hörst du! Wir haben doch über alles gesprochen. Viele Male, immer wieder. Du hast es mir doch versprochen.“
„Ja, Walter“, flüstere ich. „Aber weißt du, im Zimmer, da hatte ich plötzlich Angst, wirkliche Angst. Ich saß am Tisch und lernte, und auf einmal musste ich raus ins Freie, fort. Verstehst du?“
„Natürlich kann ich dich verstehen, Elfie.“
„Ich bin dann fortgelaufen“, wiederhole ich mich, „bis hierher. Ich habe hier auf der Bank gesessen und an nichts gedacht. Das tat gut. Und dann kam die Frau, und dann...“
Er hält mich ganz fest.
„Komm, gehen wir heim. Fräulein Breuer macht sich große Sorgen. Das willst du doch nicht.“
„Nein“, sage ich bestürzt, „das will ich wirklich nicht. Es war kindisch von mir.“
„Du läufst also nicht wieder so kopflos davon?“
Ich sehe Walter an. Seine grauen Augen blicken nicht fort wie die der meisten Erwachsenen. Die können das nicht vertragen, wenn man ihnen gerade in die Augen sieht.
„Ich kann nicht immer im Zimmer bleiben, ich ersticke, Walter. Ich kann mich nicht einfach begraben, begreif das doch endlich.“
„Aber solange du noch nicht darüber hinweg bist, Elfie, musst du es tun.“
Ich stehe auf.
Walter sagt: „Du weißt doch, ich meine es nur gut mit dir. Warum antwortest du nicht, Elfie?“
Ich gehe langsam zur Straße zurück. Es tut mir weh, dass Walter betrübt ist. Er gibt sich so viel Mühe mit mir. Enttäusche ich ihn nicht immerzu?
„Walter“, sage ich und drehe mich zu ihm herum. „Warum gehst du nicht einfach? In bin verkorkst. Das siehst du doch. Niemand weiß, ob ich je wieder normal werde. Überlass mich meinem Schicksal, ich könnte das verstehen, Walter. Geh zu einem anderen Mädchen, mit dem du glücklich sein kannst. Vergiss einfach alles.“
Er zieht mich an sich. „Du Dummchen, glaubst du tatsächlich, ich könnte dich und was war so einfach vergessen? Nein, du kannst mich nicht fortschicken. Außerdem glaube ich daran, dass du bald alles überwunden hast. Gib nur nicht auf.“
Walter kann also auch nicht vergessen, denke ich und gehe weiter. Na, ich habe getan, was ich konnte. An mir liegt es nicht. Aber es macht wahnsinnig glücklich zu wissen, dass er bei mir bleibt, mir nicht böse ist. Ach, wenn ich ihm doch nur sagen könnte, wie sehr ich ihn brauche. Wie wichtig er für mich ist. Ich kann das nicht so in Worte kleiden. Obschon ich Walter liebe, habe ich immer noch Scheu, so etwas auszusprechen. Schon zu sagen ,ich liebe dich', fällt mir sehr schwer. Ich möchte es so gerne, alles drängt mich dazu, aber wenn ich es tun soll, dann ...
Wir haben das Haus erreicht. Walter öffnet das kleine Tor. Fräulein Breuer kommt aus dem Haus gelaufen.
„Ich habe sie gefunden. Sie war nur im Park“, sagt Walter fröhlich.
Fräulein Breuer legt den Arm um mich. „Elfie, und ich habe mir solche Sorgen gemacht. Schreib doch einen kleinen Zettel, wenn du das nächste Mal fortgehst.“
„Ja“, sage ich zerknirscht. „Ich werde es nicht wieder tun.“
„Aber doch nicht so!“, lächelt Fräulein Breuer. „Du bist erwachsen. Außerdem bist du mir keine Rechenschaft schuldig. Du brauchst nur zu schreiben, dass du bald wiederkommst. Dann bin ich beruhigt.“
Ich blicke in das gütige Gesicht. Plötzlich geht mir ein Licht auf. „Sie haben angenommen, ich hätte mir etwas angetan?“
„So ungefähr. In letzter Zeit warst du wieder so unruhig, Elfie. Nicht wahr, du machst doch keine Dummheiten?“
Wir gehen um das Haus herum und setzen uns auf die Terrasse. Alle sind so um mich besorgt. Die Tränen kommen und ich muss sie unterdrücken. Womit habe ich das eigentlich verdient? Vor einem Jahr hatte ich noch niemanden.
„Ich habe einen Brief für dich bekommen“, sagt die Fürsorgerin.
„Ja?“, frage ich schwach.
„Von deiner Mutter. Ein Scheck liegt auch dabei. Es ist nicht viel, aber doch genug, dass du davon studieren kannst.“
„Von wem ist das Geld?“, will ich wissen.
„Von deinem Vater. Bei deiner Geburt hat er zu deinen Gunsten eine Lebensversicherung abgeschlossen. Wahrscheinlich wusste er, dass er nicht mehr lange leben würde. Er war ja lungenkrank. Deine Mutter hat das Geld auf der Bank gelassen. Nun schickt sie es dir. Du kannst damit machen, was du willst.“
Ich nehme den Brief und lese ihn durch. Er ist nicht an mich gerichtet, sondern an die Fürsorgerin. Knapp und kurz. Ich solle das Geld nehmen, sie aber vorläufig in Ruhe lassen. Meine Hände zittern. Ich sehe meine Beschützerin an.
Sie legt den Arm um mich. „Sei nicht traurig Elfie. Die Menschen sind nun mal so. Du kannst sie auch nicht ändern.“
„Aber sie ist doch meine Mutter. Ich bin unschuldig, vollkommen unschuldig. Warum glaubt sie mir nicht?“
,,Weißt du, ich habe das Gefühl, dass deine Mutter sehr wohl weiß, wer schuldig ist, es sich aber nicht eingestehen will. Das Leben ist nun mal so und sie muss damit fertig werden, sie kann einfach gar nicht anders handeln.“
„Sie hat mich verraten“, sage ich mit düsterer Stimme. „Mich, ihr eigen Fleisch und Blut. Das werde ich ihr nie vergessen “
Frau Breuer kommt und sagt: „Das Abendbrot ist fertig. Walter, Sie essen doch mit uns?“
„Wenn ich darf?“, sagt er und lächelt mich an.
„Aber natürlich. Kommen Sie!“
Wir sitzen um den runden Tisch. Die drei unterhalten sich. Ich muss immerzu an das Geld denken. Papa, denke ich und mein Herz wird schwer. Wie hart muss ihn das Sterben angekommen sein. Wir haben uns geliebt und er musste mich verlassen. Die ganze Zeit hat er es gewusst. Aber ich war bis zuletzt jeden Augenblick glücklich. Vielleicht war es falsch, vielleicht hätte er mich nicht so stark an sich binden dürfen. Dann wäre der Verlust für mich nicht so schrecklich gewesen.
Ach, ich habe schon Kopfschmerzen vom vielen Denken.
„Komm, wir gehen noch ein wenig in den Garten“, schlägt Walter mir vor.
Ich stehe sofort auf. Die beiden sehen uns nach. Walter spricht von seinem Studium. Er möchte Lehrer werden. Die Geduld dazu hat er bestimmt.
„Du solltest mal eine kleine Reise machen, Elfie. Fräulein Breuer ist auch der Ansicht. Dann kommst du auf andere Gedanken. Ganz weg von hier. Was hältst du davon?“
„Nichts“, sage ich. „Heute Nachmittag habe ich eingesehen, dass man vor sich selbst nicht fortlaufen kann.“
Nach zwei Stunden verabschiedet er sich. Ich bin allein.
Frau Breuer hat sich schon zurückgezogen und Fräulein Breuer sitzt am Schreibtisch. Sie hat viel zu tun. Der Bezirk ist sehr groß. Manchmal denke ich daran, auch Fürsorgerin zu werden. Aber ich bin mir noch nicht klar darüber.
Leise gehe ich die Treppe hinauf. Und dann bin ich wieder oben in meinem Zimmer. Die Bücher liegen auf dem Tisch, so wie ich sie verlassen habe. Ich bereite mich auf das Abitur vor. In einem Vierteljahr gehe ich wieder zur Schule. Ich habe ja so viel versäumt, und damit ich nicht hängenbleibe, büffele ich jetzt den ganzen Tag. Aber soviel Spaß wie früher macht es mir nicht mehr. Ich muss mich regelrecht dazu zwingen.
Ich setze mich auf die Fensterbank und blicke in den nachtdunklen Garten. Jetzt sieht die Welt so friedlich aus. Es ist nur Schein, denke ich bitter. Unter den Dächern dieser Stadt gärt es, brodelt es, sie sind sich nicht immer gut. Hass lebt in den Häusern, Gemeinheit.
Ich. schließe die Augen. Wie kann ich nur diese Gedanken loswerden, wie mich von dem Alpdruck befreien?
So kann ich nicht weiterleben. Es geht einfach nicht. Die Begegnung im Park hat es mir gezeigt. Es muss was geschehen.
Wie ein gefangenes Tier laufe ich im Zimmer hin und her. Da fällt mein Blick auf mein Tagebuch. Als ich zehn Jahre alt war, habe ich es mir gekauft. Damals habe ich regelmäßig hineingeschrieben, und dann lange nicht mehr. Ja, als es anfing. Ich nehme es zur Hand und blättere darin herum. Damals war es für mich ein Tröster. Und plötzlich denke ich, vielleicht sollte ich alles darin niederschreiben, vielleicht brauche ich es dann nicht mehr mit mir herumzutragen? Ich könnte darin meine Gedanken einschließen und so vergessen.
Es wäre ja nur ein Versuch. Ich stöhne auf. Aufschreiben? Es wird eine Qual für mich sein. Bin ich feige? Meine Schultern straffen sich unwillkürlich.
„Ja, ich werde es tun“, sage ich laut.
Mit einer Hand fege ich die Bücher vom Tisch. Ich muss Platz haben. Die kleine Lampe bescheint das Buch und sonst nichts. Es ist wie eine Insel im weiten Meer.
Langsam beginne ich zu schreiben. Zuerst setze ich das Datum. 13. März. Ich habe es nicht vergessen. Vor anderthalb Jahren begann die ganze Tragödie. Damals...
Ich sitze in meinem kleinen Zimmer über den Schularbeiten, noch nicht ganz sechzehn Jahre alt. Genau fünfzehn dreiviertel. Draußen scheint die Sonne und im Hof spielen die Nachbarskinder. In meiner Freizeit lese ich das Buch ,Vom Winde verweht'. Jemand hat mir gesagt, es sei noch nichts für mich. Aber ich bin frühreif. Mit den Jungmädchenbüchern kann ich nichts mehr anfangen. Ich hole mir die Bücher aus der Bücherei in der Stadt. Mama hat nichts dagegen. Sie arbeitet den ganzen Tag in der Fabrik und ist froh, wenn sie ihre Ruhe hat.
Wenn ich aus der Schule komme, koche ich mir mein Essen und spüle. Nach den Schularbeiten räume ich auch die Wohnung auf. Sie ist ja nicht groß. Zweieinhalb Zimmer und Küche mit Bad. Alles sehr winzig. Aber ich bin glücklich.
An diesem Nachmittag also habe ich ziemlich viel Schularbeiten auf. Morgen soll eine englische Gemeinschaftsarbeit geschrieben werden. Ich bin so vertieft, dass ich Zeit und Stunde darüber vergesse. Auf einmal geht die Tür auf und Mama kommt herein. Ich blicke sie sprachlos an.
Sie ist richtig aufgekratzt. Das bin ich bei ihr gar nicht gewöhnt. Sonst kommt sie immer erschossen nach Hause.
„Es ist schon sechs, Liebling!“
Liebling hat sie noch nie zu mir gesagt. Verblüfft sehe ich auf.
„Bist du fertig? Ich habe Besuch mitgebracht, Elfie. Er sitzt im Wohnzimmer. Wenn du Zeit hast, kannst du ja gleich rüberkommen.“
Mutter geht wieder und ich lasse mich auf meinen Stuhl fallen. Besuch, denke ich. Aber wir kennen doch außer den Nachbarn niemanden hier in der Stadt. Und Verwandte haben wir auch nicht. Bestimmt eine Arbeitskollegin, denke ich noch und packe meine Sachen zusammen. Ich kann ja nach dem Essen weiterarbeiten.
Mutter spricht ununterbrochen. Und sie läuft zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her. Ob sie schon das Abendessen macht? Ich gehe in die Küche. In der Pfanne brutzeln Koteletts, und sie hat auch Wein mitgebracht und mehrere Salate. Ist bei uns der Wohlstand ausgebrochen? Ich bin verwirrt.
Mutter lacht im Wohnzimmer, dann höre ich eine Männerstimme. Nun werde ich aber neugierig. Ich gehe hinein. Auf dem Sofa sitzt ein Mann. Er muss um die vierzig sein. Er hat dunkles Haar, so glatt am Kopf angeklatscht, und kleine Augen. Als er mich in der Tür erblickt, sieht er mich ununterbrochen an. Ich bekomme eine Gänsehaut.
Mama springt auf. „Ach Kuno, das ist also Elfie, meine Tochter. Sie geht zur Oberschule und ist sehr klug.“
Ich bin immer noch wie erstarrt.
„Elfie, willst du Herrn Jost nicht guten Tag sagen?“
Mechanisch gehe ich auf ihn zu und gebe ihm die Hand. Er hat eine schwammige Hand. Er lacht mich an und sagt: „Wir werden uns wohl verstehen, oder?“
Ich sehe Mama an. Sie nestelt an ihrer Jacke herum und ist auf einmal verlegen. Dann ruft sie: „Ich muss nach dem Essen sehen“, und rennt aus dem Wohnzimmer.
Kuno, wie der Mann sich nennt, blickt mich immer noch an.
„Emmi hat mir gar nicht gesagt, dass sie eine so prachtvolle Tochter hat“, sagt er und steht auf.
Ich gehe einen Schritt zurück.
„Brauchst keine Angst zu haben, ich beiße nicht“, lacht er auf.
Ich mag ihn nicht. Komisch ist das mit mir. Entweder mag ich Menschen sofort oder nie. Manchmal habe ich dieses Pech auch mit Lehrern in der Schule. Dann ist die Stunde für mich eine reine Qual. Kuno mag ich schon mal überhaupt nicht. Er hat so etwas Schleimiges an sich. Wie ein Schmarotzer kommt er mir vor. Wie sehr ich mit meiner Vermutung ins Schwarze getroffen habe, merke ich erst viel später.
Mutter kommt mit der Flasche Wein wieder ins Zimmer und reicht sie Kuno. „Du bist ein Mann, mach sie doch mal auf.“
Der Mann ziert sich, nimmt dann die Flasche und lacht wieder. Komischer Kauz, denke ich noch. Dann gehe ich in die Küche und hole Geschirr und Besteck. Wenig später sitzen wir um den Tisch und essen. Kuno schlingt das Essen in sich hinein. Und was noch schlimmer ist, er schmatzt. Mich ekelt es richtig. Mutter sieht mich irgendwie entschuldigend an.
„Kuno ist im Straßenbau beschäftigt“, sagt sie rasch. „Da muss er viel arbeiten und hat immer großen Hunger. Nicht Kuno?“
„Klar“, sagt er und wischt sich mit dem Handrücken über den Mund. „Man darf nicht vom Fleisch fallen, sonst ist man eine schwache Nulpe.“
Dann trinken wir Wein. Ich mag keinen Alkohol. Aber die beiden reden so lange auf mich ein, bis ich auch etwas trinke. Ich sitze schweigend da und blicke sie an. Als ich denke, jetzt war ich lange genug im Wohnzimmer, stehe ich auf.
„Ich muss noch für die Schule lernen“, sage ich und gehe zur Tür.
„Aber“, sagt Kuno, springt auf und versperrt mir den Weg. „Doch nicht so rasch.“
Mutter hat zwei rote Flecken im Gesicht. Auch sie steht auf und kommt zu mir.
„Elfie“. beginnt sie langsam. „Wir haben dir etwas zu sagen. Hast du noch einen Augenblick Zeit?“
Kuno legt seinen Arm um meine Schulter und führt mich an meinen Platz zurück. Ich schüttele mich innerlich.
„Ja“, beginnt Mutter langsam. „Du bist doch schon ein großes Mädchen, Elfie. Nun, was soll ich lange herumreden. Kuno und ich, wir wollen heiraten.“
Ich werde weiß. „Mama“, sage ich leise.
„Nicht wahr, das ist eine Überraschung, und die muss doch gefeiert werden“, sagt Kuno und gießt mir nach.
Ich bin noch wie erstarrt, kann es einfach nicht glauben. Mutter sieht mich nicht an. Mir ist übel. Ich kann nicht mehr bleiben. Schnell springe ich auf und laufe in mein Zimmer. Tür zu und abgeschlossen. Mutter und Kuno bollern an der Tür, aber ich mache nicht auf.
Meine Gedanken drehen sich ständig im Kreis. An Schularbeiten ist nicht mehr zu denken. Nein, denke ich immerzu, das darf nicht sein. Wie lange Kuno bleibt, ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls ist es schon sehr spät, als meine Mutter an meine Tür kommt.
„Elfie, ich weiß, dass du noch wach bist. Mach auf, ich bin allein. Ich muss mit dir reden.“
Ich öffne die Tür und Mutter kommt herein.
„Sag mal, dein Benehmen heute war ja unmöglich. Hast du gar nicht an mich gedacht? So unhöflich zu sein, wirklich. Ich schäme mich für dich.“
„Mama“, ich bin furchtbar erregt. „Du willst ihn doch nicht wirklich heiraten?“
„Natürlich“, sagt sie ärgerlich. „Was denkst du denn?“
„Aber man kann doch nicht sofort heiraten“, rufe ich gequält.
„Wieso? Wir kennen uns ja schon über vier Monate. Und außerdem geht das nur uns etwas an.“
„Mama“, sage ich leise. „Mama, das ist doch kein Mann für dich. Ich mag ihn nicht. Wirklich nicht, er ist so, so, ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Mama, heirate ihn nicht. Ich flehe dich an. Waren wir denn nicht glücklich?“
Nun wird sie sehr böse.
„Glücklich“, ruft sie. „Ich bin seit über neun Jahren Witwe. Ich will jetzt auch endlich etwas vom Leben haben. Die Fabrik habe ich satt und nochmals satt. Du denkst nur an dich. Du gehst bald aus dem Haus, und dann bin ich allein. Aber ich will nicht allein sein. Kuno und ich werden heiraten. Ob du dagegen bist oder nicht. Uns ist das egal. Und außerdem bin ich deine Mutter, merk dir das.“
Ich sage nichts mehr, bin aber tief verwundet. Wieder sehe ich den Mann vor mir. Das gute Verhältnis ist zerbrochen. Mama war noch nie so böse mit mir.
„In einer Woche heiraten wir, und Kuno wird hier wohnen. So, jetzt weißt du Bescheid. Ich erwarte von dir, dass du ihn mit Respekt behandelst. Schließlich ist er dann dein Stiefvater.“
Ich drehe mich um und gehe zum Fenster. Meine Lippen zittern. Mir ist richtig schlecht, wie vorhin. Mutter geht aus dem Zimmer. Ich höre sie in der Küche rumoren. In mir ist alles leer. Und dann beginne ich zu weinen.