Читать книгу Sonata Mortale - G. T. Selzer - Страница 4

Kapitel II

Оглавление

Kapitel 2

Sein Leben lang hatten ihn Menschen begleitet, die ihm den Tod wünschten. Lehrer, Mitschüler, Heimbewohner, seine Mädchen – womöglich sogar seine Eltern, wenn sie ihn denn je kennengelernt hätten.

Denn Max Hesselbeck war ein Dreckskerl.

Einer von denen, die als Jungen einer Fliege jedes Bein einzeln ausrissen; einer, der als Vierzehnjähriger – und daran konnte auch das katholische Erziehungsheim nichts ändern, eher im Gegenteil – bereits wusste, wo man eine Pistole organisieren konnte; einer, der mit Ende Zwanzig schon eine beachtliche Karriere im Rotlichtmilieu hinter sich hatte.

Und dann hatte er von einem Tag auf den anderen diese berufliche Laufbahn aufgegeben und war ehrbar geworden. Der erste Schritt dazu war eine sauber, wenn auch - was den Lebenslauf betraf - mit viel Phantasie verfasste Bewerbung als Lkw-Fahrer bei der Spedition MalikTRANS im Frankfurter Industriegebiet bei Nieder-Eschbach. Er hatte die Stelle bekommen, da er bereit war, zu den unbequemsten Zeiten und die unbeliebtesten Routen zu fahren.

Zwei Monate später lag er erstochen in der schmuddeligen Kantine eben jener Spedition in einer riesigen Blutlache mit Messerstichen in der Brust, im Rücken und in der Lendengegend.

„Ich tippe auf Fremdeinwirkung“, sagte Dr. Eilers ernst und erhob sich ächzend.

Hauptkommissar Paul Langer schnaubte. „Witziger Tag heute, wie?“ Anwandlungen von Heiterkeit traten bei ihm äußerst selten auf, mit Sicherheit nicht an einem düsteren Oktobermorgen vor Sonnenaufgang. Was der Rechtsmediziner natürlich wusste.

„Drei Messerstiche, der eine von vorne dürfte der tödliche gewesen sein. Kann ich Ihnen später genauer sagen. Tot seit ungefähr fünf bis sieben Stunden, erste Schätzung. Ich bin dann hier fertig.“ Dr. Eilers packte seine Sachen zusammen, zog sich die dünnen Handschuhe aus und klappte seine Tasche zu.

„Man will ja nur helfen“, sagte er, Langer bereits den Rücken zugewandt, auf dem Weg zur Tür, und zwinkerte Oberkommissar Korp zu, der am Türrahmen lehnte. Der grinste zurück; Langer beugte sich schnell über die Leiche.

„Er wird von hinten angegriffen, dreht sich herum und fängt den tödlichen Hieb“, interpretierte Korp das Szenario, während er näher trat.

„Könnte sein. Oder er stand dem Täter gegenüber, der sticht zu und ...“

„... und der Mann fällt auf den Bauch? Wie das denn, wenn er ihm gegenüber steht? Oder tut er dem Täter einfach den Gefallen, damit dieser bequem noch mal von hinten zustechen kann?“

„Sie könnten mich wenigstens ausreden lassen, wenn Sie schon hinter meinem Rücken mit dem Rechtsmediziner Witze über mich reißen!“

Korp schluckte. Der Alte war nicht zu unterschätzen.

„Also,“ Langer erhob sich langsam und leise ächzend, schnellte dann urplötzlich in Korps Richtung mit einer Geschwindigkeit, die ihm keiner zugetraut hätte, riss die Hand hoch und ließ sie auf den Kollegen niederfahren, wobei er kurz in der Höhe des Herzens Halt machte. Korp, völlig verdattert, hielt instinktiv die Hände vor die Brust, drehte sich halb weg und spürte einen leichten Stoß in der Lendengegend.

„Sehen Sie, und wenn Sie jetzt fallen, liegen Sie schon fast auf dem Bauch. Jedenfalls bequem genug, dass ich Ihnen jetzt noch das Messer in den Rücken rammen könnte.“

Immer noch völlig perplex, sah Korp erschrocken aus seiner gebückter Stellung zu seinem Chef hoch. Langer stand über ihm, eine gänzlich neue Perspektive für beide – war er doch fast einen Kopf kleiner als sein Mitarbeiter – und grinste befriedigt auf ihn herab, einen imaginären Messergriff in der erhobenen Faust haltend.

Langsam richtete sich Korp wieder auf. Keine Frage, der Alte war noch immer für eine Überraschung gut.

„Ja, ich sehe es ein, so könnte es auch gewesen sein. Aber mich derart zu erschrecken, Chef! Das können Sie doch nicht machen!“

„Sie haben doch gesehen, dass ich kann. Schreckhaft, wie Sie sind. Hoffe, Ihr Anzug hat nicht gelitten“, setzte Langer boshaft noch eins obendrauf.

Erschrocken blickte Korp an seinem Dreiteiler hinab, sah dann in Langers grinsendes Gesicht und fühlte sich zum zweiten Male gefoppt.

„Eilers wird uns schon noch sagen, wer von uns Recht hat“, brummte er.

„So, Kinder, können wir jetzt mal wieder ernsthaft werden? Die Erwachsenen haben hier noch zu arbeiten!“, tönte eine Stimme von der Tür in den Hof, in der eine weiß gekleidete Kolonne von Männern und Frauen erschienen war. Die Stimme gehörte Cem Özil, dem Leiter der Kriminaltechnik, der trotz seines osmanischen Namens mindestens so Frankfurterisch war wie ein frisch gepresster Apfelwein. „Ich meine, wenn Sie hier fertig sind, Herr Hauptkommissar“, setzte er betont höflich hinzu.

Langer nickte nur, trat zurück und überflog die Szene. Die Kantine, genutzt als Pausen- und Aufenthaltsraum der Spedition, war ausgestattet mit einer Küchenzeile, einem Esstisch mit acht Stühlen und einer kleinen Sitzecke, bestehend aus bunt zusammen gewürfelten Sesseln und einem niedrigem Couchtisch. Alles sah aus, als hätte jemand irgendwann einmal Mühe darauf verwandt, dem Raum eine gewisse Gemütlichkeit zu verleihen, es jedoch im Laufe der Zeit aufgegeben, diese Atmosphäre aufrechterhalten zu wollen. Davon zeugten die gerahmten Drucke von lebensfrohen, bunten Expressionisten an der Wand, die inzwischen verblasst, blaustichig und schief in ihren mit Staub bedeckten Rahmen hingen. Die Raufasertapeten hätten einen neuen Anstrich nötig gehabt. An jeder der gespülten Keramiktassen auf dem Abtropfboard war ein Stück herausgebrochen. Eine bunte Wachstischdecke, die dem Esstisch ehemals ein wohnliches Flair verliehen haben mochte, sah jetzt nur noch schäbig und schmierig aus.

Die Kantine hatte zwei Türen. Eine, in deren Rahmen Langer jetzt stand und den Technikern zusah, führte in das Innere des Verwaltungsgebäudes zu den Büros und weiter über einen Flur zu den Werkstätten. Eine zweite, ihr gegenüber, ging in den großen Hof hinaus, auf dem vier, fünf Lkws standen, alle bedruckt mit dem gleichen leuchtend gelb-grünen Logo von MalikTRANS. Die Außentür war unversehrt.

„Keine Einbruchspuren, auch keine Kampfspuren“, sagte Schulz, einer der Techniker, in diesem Augenblick. „Haben Sie aber sicher schon bemerkt.“

Langer nickte wieder. Der tote Max Hesselbeck lag zwischen der Küchenzeile und dem Esstisch; die Blutlache war bereits unter die Einbaumöbel der Küchenzeile gesickert. Bei aller Vernachlässigung herrschte eine geradezu vorbildliche Ordnung. Die Stühle standen in Reih' und Glied an ihrem Platz, die Sessel im exakten Winkel zueinander, die Decke lag akkurat ausgerichtet auf dem Tisch, nichts auf dem Boden – außer der Leiche. Ein ordentlicher Täter oder ein sehr überraschtes Opfer. Langer warf noch einmal einen Blick darauf und wandte sich dem Büro zu, in das Korp schon vorausgegangen war.

Es war offensichtlich eine Art Vorzimmer zum Chefbüro mit zwei Schreibtischen, Stühlen und einem kleinen Beistelltisch, in dem drei Menschen mit teils verängstigten, verwirrten und ungeduldigen Blicken Langer entgegen sahen. Eine schwangere, blonde Frau saß an einem der beiden Schreibtische, ein Mann im korrektem Anzug stand daneben; ein älterer, offensichtlich hochgewachsener Mann mit grauem, dichtem Haar saß halb auf der anderen Schreibtischplatte und ließ sein rechtes Bein nach unten baumeln. Korp stand derweil unbeteiligt an einem der Fenster, die zum Hof hinausgingen. Als Langer eintrat, erhob sich der grauhaarige Mann und kam energisch auf ihn zu.

„Sind Sie der Chef hier?“, fragte er laut. „Ich bin Werner Malik, mir gehört der Laden. Meine Tochter Lydia Malik, mein Prokurist Alexander Müller.“

Damit zeigte er auf die verhuschte Frau mit langen, offenen Haaren, die Langer unsicher die Hand gab, und den Mann im Anzug mit exakt gezogenem Seitenscheitel und Brille, dem man den Buchhalter meilenweit ansah.

„Gehen wir in mein Büro“, fuhr Malik im Befehlston fort. „Da haben wir mehr Platz. Ich nehme doch an, Sie haben die üblichen Fragen und so weiter? Hauptkommissar Langer, nicht wahr?“ Er sah von seinen einhundertdreiundneunzig Zentimetern abschätzend auf den kleinen, korpulenten Hauptkommissar herab, als wolle er ergründen, was von ihm zu halten war. „Den Ausweis können Sie stecken lassen, ich habe schon den von Ihrem Assistenten gesehen.“

Langer unterdrückte den Wunsch, einen Blick zum Fenster zu werfen, um Korps Reaktion auf die Degradierung zu beobachten, und sagte stattdessen bloß: „Das wird nicht nötig sein, wir können hier bleiben. Oberkommissar Korp braucht zunächst einmal nur einige allgemeine Informationen. Eingehende Befragungen sind sicher nötig, aber nicht jetzt.“

Er sah, wie Malik schluckte und sein Gesicht sich mit Ärger überzog. Langer kannte diese Typen; sie gaben sich ungern mit Untergebenen ab.

„Also, was wollen Sie wissen?“, bellte Malik in Korps Richtung. Der gab seine lässige Haltung am Fenster auf, bewegte seine schlaksige Gestalt zu dem zweiten Schreibtisch und setzte sich auf den Stuhl, bevor Maliks Pobacke die Tischplatte wieder in Beschlag nehmen konnte. Umständlich holte er ein Notizbuch aus seinem Designeranzug, suchte in der Jacken-, dann in der Westentasche nach einem Stift und legte beides säuberlich vor sich hin.

Nun übertreib mal nicht, Korp, dachte Langer, der teils ungehalten, teils belustigt die Vorstellung beobachtete. Einerseits gönnte er Korp die kleine Rache an dem Großmaul, andererseits war er selber nicht gerade mit einer Engelsgeduld gesegnet. Er stand auf. „Ich würde mich gerne mit den Örtlichkeiten etwas vertrauter machen. Herr Müller, wären Sie so nett, mich ein bisschen herumzuführen?“

Der Prokurist nickte und setzte sich in Bewegung, doch sie wurden von seinem Chef aufgehalten.

„Wann können die Laster wieder fahren? Sie halten sie da draußen fest; das geht mir ins Geld! Jede Stunde, die die da stehen, kostet mich ...“

„Tut mir leid, aber wir müssen die Lkws untersuchen, bevor sie losfahren.“ Würde mich aber wundern, wenn wir etwas fänden, setzte er in Gedanken hinzu. Damit trat er mit Müller durch eine weitere Tür auf den Flur hinaus.

„Sie kennen den Toten?“, fragte Korp, als sich die Tür geschlossen hatte.

Wie auswendig gelernt, kam es von Malik: „Max Hesselbeck, 36 Jahre, seit Anfang August hier bei uns als Lkw-Fahrer tätig.“

Korp nickte. Der Tote hatte Führerschein, Personalausweis und Handy in der Hosentasche gehabt. „Wissen Sie etwas über seine Familie? Wen können wir benachrichtigen?“

Malik zuckt die Schultern. „Keine Ahnung. Er hat nie darüber gesprochen. Vielleicht mit den Fahrern, aber ich glaube nicht. Wir gehen hier eigentlich eher familiär miteinander um, aber er hielt sich sehr bedeckt.“

„Sind Sie jeden Morgen schon so früh hier? Es ist kurz nach sieben.“

„Eine Spedition ist keine Behörde, wir sind keine Beamten“, antwortete Malik süffisant. „Hier wird früh angefangen und spät aufgehört. Morgens müssen die Papier zeitig fertig sein, gegebenenfalls umdisponiert, die Fahrer neu eingeteilt werden. Ab halb sechs ist hier jemand im Büro, meist zwei Leute.“

„Sie auch?“

Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte Malik zu lange. „Ich? Ja, manchmal, nicht immer. Wir wechseln uns ab.“

„Was redest du denn da. Du bist doch meist nicht vor neun im Büro“, ertönte plötzlich eine ruhige, etwas heisere Stimme vom anderen Schreibtisch. Korp drehte sich verblüfft um. Lydia Malik hatte die ganze Zeit kein Wort gesprochen, er hatte sie fast vergessen. Sieh an, dachte er. Dem Herrn Papa so offen Paroli zu bieten – man würde es ihr gar nicht zutrauen.

Laut fragte er: „Und Sie sind öfter früh da?“

Sie nickte. „Eigentlich jeden Tag.“

„Trotz Ihres Zustands?“

Ein Lächeln, das sie völlig veränderte, zog über ihr Gesicht. Aus dem verschüchterten, unscheinbaren Wesen war unversehens eine hübsche Frau geworden. „Ich bin schwanger, nicht krank“, sagte sie belustigt.

„Wie war das heute morgen? Erzählen Sie doch bitte, was genau sich abgespielt hat.“

Malik ergriff wieder das Wort. „Ich kann gar nicht viel sagen. Herr Müller rief mich vor einer Stunde an und erzählte mir, dass er die Leiche von Herrn Hesselbeck gefunden habe. Ihre Kollegen waren schon da, als ich hier eintraf. Seitdem sitzen wir hier und warten.“

„Und machen die üblichen Arbeiten“, ergänzte seine Tochter.

Korp wandte sich ihr zu. „Bitte schildern Sie genau, was Sie heute gemacht haben.“

„Wir kamen um ...“

„Wer?“

„Alexander – Herr Müller - und ich. Wir kamen kurz vor sechs ins Büro, durch den Haupteingang, das heißt, wir haben die Kantine nicht betreten. Zwei Fahrer kamen kurz danach, haben ihre Papiere abgeholt und sind weggefahren. Keiner war um diese Zeit schon in der Kantine gewesen. Das kann ich deshalb mit Bestimmtheit sagen“, kam sie Korps Frage zuvor, der gerade Luft holen wollte, „weil beide Türen der Kantine abgeschlossen waren. Diese hier zum Büro und die nach draußen. Doppelte Vorsichtsmaßnahme. Kurz vor halb sieben, als es etwas ruhiger wurde, ging Alexander rüber, um die Türen aufzuschließen und sich einen Kaffee zu machen. Da fand er ihn.“ Sie blieb gefasst, doch ihre Stimme zitterte leicht. „Er stieß einen Schrei aus, und ich rannte hinterher. Da sah ich das viele Blut, und Alexander hat mich wieder zurück ins Büro gezogen.“ Sie schüttelte leicht den Kopf. „Dass alle einen immer wie ein rohes Ei behandeln müssen!“

„Na ja, ein schöner Anblick ist es nun mal nicht“, meldete sich ihr Vater wieder zu Wort. Sein Blick ruhte gedankenvoll auf ihr, alles Herrische war von ihm abgefallen. Korp vermochte den Blick nicht recht zu deuten. Stolz? Besorgnis? Galt das ihr oder seinem Enkelkind?

„Was war dann? Sie sind zusammen aus der Kantine wieder ins Büro gegangen?“

„Ja. Ich rief meinen Vater an und Alexander die Polizei.“

„Sie sind nicht wieder zurück in den Aufenthaltsraum?“

Lydia schüttelte den Kopf. „Nein. Wir waren auch praktisch gar nicht drinnen. Das konnte man ja von der Tür aus alles sehen.“

„Wo waren Sie gestern ab etwa sieben Uhr?“

Vater und Tochter sahen sich an. „Alexander und ich waren im Kino, vorher etwas essen. Wir kamen so gegen zehn nach Hause. Wir gehen früh zu Bett, weil wir ja früh raus müssen.“

„Sie wohnen zusammen?“

„Mehr oder weniger, obwohl ich noch meine eigene Wohnung habe.“

„Und Sie?“, wandte sich Korp an Malik.

„Ich habe leider keine Zeugen dafür, dass ich zu Hause war. Ich wohne allein.“

„Wir werden von Ihnen allen Fingerabdrücke nehmen müssen. Die Kollegen melden sich bei Ihnen.“ Korp stand auf und steckte Block und Stift wieder ein. Er hatte keines davon benutzt. „Geben Sie uns bitte möglichst rasch eine Liste mit allen Angestellten, Fahrern und Aushilfen.“

Lydia nickte. „Das ist kein Problem. Können Sie gleich haben.“ Sie begann bereits, im Computer herumzuwühlen. Kurz darauf nahm der Drucker neben ihr leise seine Arbeit auf und spuckte zwei Blätter aus. „Im Büro arbeiten noch drei weitere Kollegen. Frau Schuster, die um zwei Uhr nachmittags kommt und mich ablöst, wenn ich nach Hause gehe; sie arbeitet bis um acht Uhr abends. Dann noch eine Auszubildende von neun bis sechs. Ebenso wie Herr Schröter, der bald in Rente geht.“

„Wann ist hier Büroschluss?“

„Nach acht ist hier keiner mehr.“

Korp nahm die Liste an sich und warf einen Blick darauf. „Gibt es sonst noch Personen, die regelmäßig hier sind? Kunden? Putzleute?“

„Die Putzkolonne geht abends gegen sieben hier durch. Kunden werden drüben in Vaters Büro empfangen“, antwortete Lydia. „Sonst wüsste ich nicht ...“

Nein, dachte Korp. Von außen kam der nicht. Es sei denn, jemand hätte ihm einen Schlüssel gegeben oder ihn eingelassen.

„Nein, natürlich habe ich nichts angefasst, als ich in die Kantine kam“. Alexander Müller hatte Langer die restlichen beiden Büros gezeigt, inklusive dem Allerheiligsten des Chefs, die große Werkstatt nebst unordentlichem Büro, das in einer Ecke untergebracht war, und trat jetzt mit dem Kommissar auf den Hof hinaus. Fahles, noch zögerliches Sonnenlicht machte sich allmählich breit, sparte noch etliche Ecken aus und würde auch im Laufe des Tages nicht zu seiner vollen Kraft finden. Dafür war die Wolkendecke zu dick.

Und wenn schon, dachte Langer. Finger- und sonstige Spuren von allen Mitarbeitern gibt es ohnehin zuhauf überall im Betrieb.

„Ich bin ja eigentlich gar nicht hineingegangen, denn als ich Max da liegen sah ...“, hob Alexander Müller wieder an.

„Haben Sie nicht nachgesehen, ob er vielleicht noch lebte?“

„Nein, das Blut war teilweise schon an den Rändern verkruste – oh, mein Gott, ich habe so etwas noch nie gesehen.“ Er schüttelte sich.

Was zwar nicht mit absoluter Sicherheit heißen muss, dass er schon tot war, dachte Langer, doch hatte Dr. Eilers den Tod auf den Abend vorher eingegrenzt.

„Wie lange arbeiten Sie schon hier?“

„Oh“, Alexander Müller winkte ab. „Schon ewig, seit zweiundzwanzig Jahren, um genau zu sein. Ich habe hier Speditionskaufmann gelernt, da war der Senior noch da, danach Lehrgänge in Buchhaltung gemacht, und vor kurzem hat mich Herr Malik zum Prokuristen ernannt.“

Langer rechnete nach. Der Mann mochte knapp vierzig sein; das heißt, er hatte wahrscheinlich nie eine andere Arbeitsstelle gesehen. Einer von den Treuen, dachte er. Einer, der sich nicht an Veränderung gewöhnen würde. Er dachte an sich selber. Ja, er konnte verstehen, dass es solche Leute gab.

„Sie hätten es sicher schon früher verdient, die Prokura zu erhalten“, meinte er beiläufig.

„Ach wissen Sie, ich bin nicht sehr ehrgeizig. Aber jetzt, wo das Baby bald da ist, ist das anders.“

„Ach so, Sie und Frau Malik …?“

Alexander Müller lächelte. „Ja, wir wollen heiraten. Erst wollte Werner ja, dass Lydia die Prokura bekommt. Aber sie legt keinen Wert darauf. Sie möchte bald zu Hause bleiben und für das Baby da sein.“

Trautes Familienglück im gemütlichen Familienbetrieb, dachte Langer ironisch. Wenn da nicht die Leiche neben dem Esstisch läge.

„Gut, dass wir Beamte mit geregelten Arbeitszeiten sind“, meinte Korp in spöttischer Anspielung an Maliks Bemerkung und gähnte. Es war acht Uhr morgens, und er war seit fast drei Stunden auf den Beinen, ohne auch nur einen Kaffee getrunken zu haben. Sie fuhren Richtung Präsidium und hatten die ungünstigste Zeit des Tages erwischt, um stadteinwärts zu fahren; neben, vor und hinter ihnen staute sich die arbeitswillige Bevölkerung des nördlichen Rhein-Main-Gebietes auf dem Weg zu Werkshalle, Büro und Schule.

„Wir könnten ja eigentlich im Einsatz sein und ...“, Korp sah seinen Chef fragend an.

„Nein, lassen Sie mal die Sirene weg. Also: Als erstes Computer checken nach diesem Max Hesselbeck. Vorstrafen, Umfeld, Familie. Jemanden muss es doch geben. Ich habe im Hof mit einem der Fahrer gesprochen, die noch da waren, und mit den beiden Mechanikern. Keiner hat anscheinend Max Hesselbeck näher gekannt. - Obwohl es doch ein recht kleiner Familienbetrieb ist“, setzte er hinzu.

„Er war ja auch erst ein paar Monate im Betrieb“, meinte Korp, indem er wieder drei Meter vorrückte. „Übrigens – wie wär's, wenn Sie Schmidtbauer schon mal anriefen wegen der Recherche im System. Das macht der doch so gern“, schlug er vorsichtig vor. „Dann sind die Ergebnisse vielleicht schon da, bis wir ankommen.“

Langer warf Korp einen Blick zu und zückte sein Telefon. Nachdem er dem jungen Kriminalobermeister die Daten durchgegeben hatte, lehnte er sich zurück. Zwei Minuten später hörte Korp neben sich ein leises Schnarchen.

„Der Mann heißt eigentlich Manfred Becker, und wir kennen ihn sehr gut“, begrüßte Jens Schmidtbauer einen ausgeruhten Hauptkommissar, bei dem der zwanzigminütige Tiefschlaf wahre Wunder vollbracht hatte. Korp machte den Durchmarsch zur Kaffeemaschine, brachte sie dazu, unter lautem Röhren aromatische, dunkelbraune Flüssigkeit zu produzieren, und hörte mit halbem Ohr zu.

„Zwei Jugendstrafen wegen Einbruchdiebstahl, danach Verurteilungen wegen leichter Körperverletzung und weiteren Einbrüchen. In den letzten Jahren vermehrt Verdacht auf Menschenhandel und Zuhälterei im großen Stil, Anklage wurde aber keine erhoben, weil die Beweise nicht ausreichten. Genau das gleiche bei einem Totschlag in einer Bar im Bahnhofsviertel. Geklärt wurde das nie; Verdachtsmomente gab es genug, doch keine Beweise. Seit zwei Jahren kein Eintrag mehr.“

„Ein ganz Netter also“, brummte Korp aus seiner Ecke, während er seinen Espresso schlürfte.

„Familie, Verwandte?“

Schmidtbauer zuckte die Schultern. „Eltern sind beide unbekannt, ist in Heimen aufgewachsen. Scheint keiner gewesen zu sein, der Kontakte pflegte.“

„Was hat er gemacht, bevor er in die Spedition eintrat?“

„Betreibt drei Bars im Bahnhofsviertel. Dorthin kehrte er nach jedem Gefängnisaufenthalt wieder zurück.“

„Danke, Schmidtbauer, schnelle Arbeit“, sagte Langer und wandte sich an Korp. „Ist noch Kaffee da?“

„Es ist jetzt immer Kaffee da, Chef, Sie brauchen nur diesen Knopf zu drücken ...“

„Ich meine nicht dieses neumodische Zeug da mit Schaum ...“

„...Crema ...“

„... sondern richtigen Kaffee aus einer richtigen Maschine!“

„Herr Langer, das ist frisch gemahlener ...“

„Lassen Sie mich in Ruhe mit diesem Mist.“

Schmidtbauer verzog sich schleunigst. Meist kühlten die beiden schnell wieder ab, doch in die Schusslinie zu geraten, war trotzdem nicht zu empfehlen.

Korp zuckte mit den Schultern, warf einen Blick auf seine Uhr und nahm sein Jackett von der Stuhllehne. „Ich muss jetzt zum Bahnhof – Sie erinnern sich: Ich hatte heute Morgen eigentlich frei genommen. Bin heute Nachmittag wieder da.“ Damit schloss sich die Tür hinter ihm.

„Und nur hergekommen zum Kaffeetrinken,“ brummte Langer vor sich hin und vergaß geflissentlich, dass nicht nur er bereits fast einen halben Arbeitstag hinter sich hatte. Dann brüllte er ins Nebenzimmer: „Schmidtbauer!“

Als der junger Obermeister erschrocken an der Tür erschien, drückte Langer ihm einen Zehn-Euro-Schein in die Hand und bat ihn etwas freundlicher: „Versuch doch mal, in diesem Haus einen anständigen Kaffee aufzutreiben. Die Betonung liegt auf anständig, kapiert? Und bring dir auch was mit, was Süßes, oder was du willst.“

Schmidtbauer starrte eine Sekunde mit offenem Mund auf den Geldschein in seiner Hand, dann auf seinen Vorgesetzten und wieder zurück, bis er schließlich kehrt machte und sich auf der Suche nach einem anständigen Kaffee begab.

Und kauf dir was Süßes, dachte er kopfschüttelnd. Es wird wirklich immer schlimmer mit ihm.

Johannes Korp stand im Frankfurter Hauptbahnhof und sah mit gemischten Gefühlen dem einfahrenden ICE aus Hamburg entgegen. Er hatte keine Ahnung, was mit diesem Zug auf ihn zurollte, fühlt aber instinktiv, dass es sein geordnetes Leben für die nächste Zeit durcheinander bringen würde – soweit man bei seinem Beruf von geordnet sprechen konnte. Langsam, majestätisch und fast lautlos schwebte die Riesenschlange auf dem Gleis ein und kam zum Stehen. Die Türen öffneten sich und und spuckten Hunderte von Fahrgästen auf den Bahnsteig.

Korp blieb am Kopf des Gleises zur Halle hin stehen, das hatten sie so verabredet, und ließ die Männer, Frauen und Kinder passieren. Als sein Handy klingelte und er abhob, schweifte sein Blick weiter über den Bahnsteig. Er hörte die Stimme und sah das Winken eines baumlangen jungen Mannes in etwa dreißig Metern Entfernung gleichzeitig.

„Hallo, Onkel Hans, ich kann dich sehen!“

Korp zuckte zusammen. Das ging gar nicht. Das würde ganz schnell abgestellt werden müssen.

Er winkte zurück. „Ich sehe dich auch!“

Wenig später sah er sich einem blonden Jüngling gegenüber, gegen den er sich mit seinen Einsvierundachtzig klein vorkam. Der Junge stellte seinen Rollkoffer ab und gab ihm die Hand. Sein Haar war modisch asymmetrisch geschnitten, am Hinterkopf sehr kurz, fast kahl rasiert, dafür mit umso längerem Pony, der in einer langen Strähne von links nach rechts quer über der Stirn lag, was ein wiederholtes Schnicken des Kopfes nötig machte, da sie ihm permanent wieder ins Gesicht fiel. Aknepickel auf der Stirn erzählten von den Herausforderungen der Pubertät.

„Hallo David“, sagte Korp. „Lange nicht gesehen. Willkommen in Frankfurt.“

„Nenn' mich Dave!“, lachte sein Neffe fröhlich. „Kein Mensch sagt David zu mir.“

„Aber nur, wenn du mich nicht Onkel Hans nennst. Ich heiße Johannes. Ohne Onkel.“

„Gebongt.“ Dave schnappte sich seinen Rollkoffer und sie gingen zusammen durch die große Bahnhofshalle. Skeptisch schielte Korp auf eine große, rechteckige Tragetasche, die Dave auf dem Rücken trug.

„Was ist das denn?“

„Och, nur mein Keyboard.“

„Ist das laut?“

„Nö, hab' Kopfhörer dazu.“

Sie traten auf den Bahnhofsvorplatz, kreuzten eilig dahin hastende Reisende beiderlei Geschlechts, die meisten in der gleichen Standarduniform – Businessanzug, Laptoptasche, Rollkoffer –, den Blick beständig nach unten auf teure Smartphones gerichtet, passierten Rentnerehepaare in vorwiegend Beige-Braun, gingen an schlafenden Stadtstreichern und Junkies vorüber, die mit starrem Blick vor sich hin stolperten.

„Wie geht’s denn deiner Mutter?“

„Ganz gut, glaub' ich. Hat jedenfalls nichts anderes gesagt.“

„Hast du sie denn mal gefragt?“

„Nö.“ Ein erstaunter Seitenblick streifte den Onkel.

Überbordendes soziales Interesse konnte man dieser Jugend nicht vorwerfen. Es soll Ausnahmen geben, dachte Korp, aber David – Dave – gehört fraglos nicht dazu. Dass sich seine eigene Anteilnahme an seiner zehn Jahre älteren Schwester in Hamburg und deren Familie bislang auch sehr in Grenzen gehalten hatte, zählte nicht; das musste unter frühkindlichen Traumata verbucht werden. Er sah den Jungen nachdenklich an. Eigentlich müsste er ihm gegenüber wenigstens so etwas wie Mitgefühl aufbringen, war Dave nicht nur geschlagen mit drei älteren Schwestern, sondern eben auch mit dieser äußerst dominanten Mutter, mit der Korp in früher Jugend seine eigenen Erfahrungen hatte machen müssen. Er nahm sich vor, nett zu seinem Neffen zu sein, obwohl der Unwille, ihn bei sich wohnen zu lassen, noch überwog.

Korp holte seinen Golf vom Parkplatz und sie fuhren am Main entlang nach Oberrad, wo er vor einigen Jahren eine geräumige Dreizimmerwohnung gekauft hatte, nicht zuletzt wegen ihrer unmittelbaren Nähe zum Stadtwald, den er in zwei Minuten joggend erreichen konnte. Während der Fahrt ging die Unterhaltung ähnlich einsilbig weiter, gestört vor allen Dingen von der ungeteilten Aufmerksamkeit, die der Junge seinem Smartphone zuteil werden ließ.

Im Wohnzimmer sah sich Dave prüfend um. „Okay. Und wo ist mein Zimmer?“

Korp ging ihm voraus in sein Schlafzimmer. Gestern Abend hatte er kurzfristig umdisponiert und entschieden, seinen Neffen nicht im Arbeitszimmer einzuquartieren, sondern dieses für die Zeit des Besuches selber zu nutzen. Sein geräumiger begehbarer Kleiderschrank, der - neben dessen exquisitem Inhalt - der einzige wirkliche Luxus darstellte, den er sich leistete, war vom Flur aus neben dem Schlafzimmer von einer Art Alkoven zu betreten. Es würde also kein Problem bei der morgendlichen, oft recht langwierigen Garderobenwahl geben. Die Bettcouch im Arbeitszimmer war bequem genug, und im Schlafzimmer stand ein Beistelltisch; dort konnte Dave arbeiten. Falls er das vorhatte.

„Das Arbeitszimmer ist tabu – damit das klar ist.“

„Ja, gebongt.“

Er hätte sich keine Gedanken zu machen brauchen. Dave hörte schon gar nicht mehr richtig hin, hatte sich kaum umgesehen, seine Habseligkeiten zwischen Tür und Bett verteilt, auf dem er jetzt saß und und sich wieder mit seinem Smartphone beschäftigte.

„Wenn du jetzt erst mal alles hast, gehe ich ins Präsidium." Korp warf einen unschlüssigen Blick auf seinen Neffen, dann auf die Uhr. Er hatte sich diesen Vormittag zwar frei genommen, fand sich aber plötzlich völlig überflüssig in den eigenen vier Wänden. Was hatte er erwartet? Small Talk mit einem Achtzehnjährigen? Es war ein Alter, das Johannes Korp aus seiner Vergangenheit am liebsten getilgt hätte.

„Ich bräuchte noch den WPA2-Schlüssel und die SSID, dann könnte ich meine Flatrate sparen, solange ich hier in der Wohnung bin“, kam es plötzlich aus dem Zimmer hinter ihm.

„Wie bitte?“

Korp blieb an der Tür stehen und hob erstaunt die Augenbrauen. Der Junge konnte ganze Sätze sprechen!

„Na, das Passwort fürs Internet.“

„Gebongt“, sagte Korp.

Entgegen seiner sonstigen Art schlurfte Oberkommissar Johannes Korp eine Stunde später langsam in das gemeinsame Büro zurück, zog seinen Mantel aus und setzte sich mit einem tiefen Seufzer an seinen Schreibtisch.

„Das ging aber schnell“, brummte Langer, während er ihm einen Blick zuwarf.

Korp brummte zurück.

„Welche Laus ist Ihnen denn über die Leber gelaufen? Wollten Sie nicht erst nachmittags wieder kommen?“

Korp seufzte nochmals und startete sein Terminal. „Mein Neffe ist zu Besuch. Und wird auch eine Weile bleiben, fürchte ich." Er starrte auf den Bildschirm und drehte sich erschrocken um. „Waren Sie da etwa dran?“, fragte er Langer.

„Nein, bewahre. Wusste gar nicht, dass Sie einen haben.“

„Wie bitte?“

„Neffen, meine ich.“

„Ja, David, - ich meine, Dave - hat hier einen Studienplatz bekommen, aber noch keine Bude. Und meine Schwester meinte, meine Behausung wäre doch groß genug. Wohnt in Hamburg.“ Er schnaubte. „Gibt's da etwa keine Uni? Muss der nach Frankfurt kommen?“

„Und Sie machen alles, was Ihre Schwester will?“, fragte Langer interessiert.

Korp, an einem empfindlichen Nerv getroffen, wollte etwas scharf erwidern, ließ es aber sein.

„Na ja, Familie halt“, brummte er nur, während er die oberste Akte aus einem Stapel vor sich heranzog und vorgab, darin zu lesen.

Weit kam er nicht damit, denn zwei Minuten später wurde die Tür so heftig aufgerissen, dass die beiden erschrocken zusammenfuhren. Kriminalrat Richard Rückert, genannt KRR, stürmte krachend herein und machte der Lautmalerei seines Namenskürzels alle Ehre. Obwohl sie inzwischen daran gewöhnt sein sollten – Rückert stürmte immer irgend wohin, eine normale Gangart schien er nicht zu kennen – saß ihnen der Schreck noch in den Gliedern, als schon die dröhnende Stimme des Chefs den Raum erfüllte: „Guten Morgen, die Herren. Hier ist sie also!“

Erst jetzt gewahrten Langer und Korp hinter dem Kriminalrat eine Frau im Türrahmen. Sie mochte etwa vierzig Jahre alt sein, war mehr als schlank, fast schon mager, bekleidet mit Jeans, einem hautengen T-Shirt und Bomberjacke. Doch das erste, was bei ihr auffiel, waren die extrem kurz geschnittenen, weißblond gefärbten Haare, die ihren Kopf auf den ersten Blick kahl aussehen ließen, und das überaus großzügig aufgetragene Make-up, das den Mangel an sonstigen weiblichen Attributen, den das knappe T-Shirt anschaulich unterstrich, wett zu machen versuchte. Die gleiche Funktion erfüllte eine Reihe von schmalen, glitzernden Armreifen, die an ihrem linken Handgelenk baumelten und ihre Bewegungen mit einem stetigen Klimpern begleiteten.

Langer erhob sich von seinem Sessel. „Guten Morgen, Herr Rückert. Äh – wer …?“

„Ich darf vorstellen: Kriminalhauptkommissar Langer, Kriminaloberkommissar Korp. - Kriminaloberkommissarin Jutta Wiesner, ihre neue Kollegin auf Zeit. Austausch aus Nürnberg.“ Er strahlte, als hätte er gerade einen besonderen Coup gelandet. Was womöglich auch stimmte.

Einen Moment herrschte Stille, jeder wartete vergeblich darauf, dass Rückert weiter sprechen würde. Frau Wiesner schließlich brach das Schweigen, indem sie vortrat, die beiden kurz musterte, den Blick vom kleinen, dicken Langer zum schlanken, elegant gekleideten Korp schweifen ließ und ihnen dann in der korrekten Reihenfolge die Hand reichte.

„Hallo, ich bin die Jutta.“ Ihre Stimme war tief und angenehm, ihr fränkischer Akzent unverkennbar, der Händedruck fest, fast zu fest. „Ich hatte mich beworben und ...“

„... und jetzt ist sie hier“, unterbrach der Kriminalrat unbekümmert. „Der Austausch läuft ein halbes Jahr. Wollte mal ein bisschen Großstadtluft schnuppern, nicht wahr, Frau Wiesner?“ Die Kollegin zuckte zusammen und schaute ihn erbost an, was er nicht zu bemerken schien. „Krause aus der Wirtschaftskriminalität ist ab nach Nürnberg. Ich dachte, ich hätte es Ihnen gesagt?“ wandte er sich an Langer. Der schüttelte, immer noch stumm, den Kopf.

Rückert sah sich um. „Ich denke, es wird gehen. Das Zimmer ist ja groß genug. Ein neuer Schreibtisch und ein Terminal sind schon unterwegs.“

Langer fand endlich die Sprache wieder. „Wie – Sie meinen hier!?

Korp, der einschlägige Erfahrung mit Gastkollegen hatte, sah nicht minder erschrocken drein. Das letzte Mal hatte er seinen Schreibtisch räumen und in ein anderes Zimmer ziehen müssen, und es war fast zu einer ernsthaften Krise gekommen.

„Ja klar, sagte ich doch eben.“ Rückert gab Frau Wiesner die Hand, winkte den anderen noch einmal zu und war aus der Tür.

„Na denn, willkommen in der Großstadt, Frau Wiesner“, sagte Korp trocken nach einer kleinen Pause. „Nehmen Sie ihn nicht zu ernst“, er zeigte zur Tür, „hinter seiner jovialen Art steckt immer ein Versuch zu provozieren, und er beobachtet genau, wie die Leute darauf reagieren.“ Er fing sich zwar einen missbilligenden Blick von Langer ein, doch das war ihm egal. Die forsche Kollegin tat ihm leid – obschon er instinktiv spürte, dass Jutta Wiesner alles andere als eine Person war, die Mitleid nötig hatte. Jedenfalls war es keine Art, jemanden in seinen neuen Arbeitsplatz einzuführen, Großstadt hin oder her. Auch Langer schien sich zu besinnen und entschuldigte sich.

„Wir hatten wirklich keine Ahnung, Frau Wiesner. Bitte, setzen Sie sich doch.“ Er schob eigenhändig den Besucherstuhl zurecht, und sie nahm Platz.

Korp stand auf und holte eine weitere Tasse Kaffee.

„Also, du bist die Jutta. Ich bin der Johannes“, stellte er sich noch einmal vor. Somit war es ausgemacht, dass die beiden Oberkommissare sich duzen würden, da Frau Wiesner als die knapp Dienstältere den Anfang gemacht hatte. Langer hielt sich mit solchen Verbrüderungen prinzipiell zurück.

„Ich bin gerade frisch geschieden, mein Sohn ist sechzehn und für ein Jahr in England“, begann sie freimütig zu erzählen. „Ich dachte, ein bisschen Luftveränderung könnte nicht schaden – so als ersten Schritt in einen Neuanfang, wenn ihr versteht, was ich meine.“ Sie lehnte sich auf dem Besucherstuhl zurück, in der rechten Hand die Kaffeetasse, die andere klimperte in der Luft herum. „Na ja, und das mit der Großstadt stimmt schon irgendwie. Nürnberg liegt zwar einwohnermäßig nicht sehr hinter Frankfurt zurück, aber ich denke schon, dass bei euch hier etwas mehr los ist. Nicht, dass wir da dauernd eine ruhige Kugel schieben würden. Aber fast zwanzig Jahre Dienst in der gleichen Stadt …“ Sie winkte ab. „Und wer weiß, vielleicht gefällt's mir ja hier und ich bleibe. Rauchen darf ich hier nicht, oder?“ Ihr Hand machte eine eher symbolische Bewegung zur Jackentasche hin. „Dachte ich mir schon. Was habt ihr denn gerade auf dem Tisch?“

Sie sprach mit großen Gesten, ausholenden Bewegungen und hielt stets den direkten Blickkontakt, abwechselnd mit Langer, dann wieder mit Korp. Die beiden Männer hatten ihr fasziniert zugehört und zugesehen. Die Frage zum Schluss kam so beiläufig, dass eine Sekunde verging, bevor einer von ihnen reagiert.

„Ja, - ähm - also“, Langer wandte den Blick von ihr ab, setzte sich gerade hin und zog einen Ordner zu sich heran. Doch er kam nicht weit, die Tür ging wieder auf, und zwei Männer im Overall erschienen.

„Schreibtisch, Stuhl, Terminal?“

Langer stand auf. „Ja, hier sind Sie richtig. Gehen wir in die Kantine“, sagte er zu seinen Kollegen, „bis die hier fertig sind.“

Auf dem Flur drehte er sich zu seiner neuen Kollegin um und fragte neugierig: „Sagen Sie mal, Frau Wiesner, wie machen Sie das denn mit dem Geklimpere, wenn Sie einen Einsatz haben? Könnte ja sein, dass das eher kontraproduktiv ist, nicht wahr?“

„Nein, das habe ich nicht immer an“, antwortete sie lachend. „Nur heute, Ihnen zu Ehren, sozusagen, weil's doch der erste Tag ist.“

In der Cafeteria setzten sie sich in eine Ecke, jeder hatte einen Kaffee vor sich stehen; Jutta Wiesner darüber hinaus noch ein üppig belegtes Baguette, das sie jetzt mit großem Appetit in Angriff nahm.

„Zunächst haben wir den ungeklärten Todesfall eines Lehrers am Reuter-Gymnasium. Mathematik und Physik“, nahm Langer wieder den Faden auf. „Wurde in der Schülertoilette mit einer Überdosis Heroin gefunden.“

Juttas Baguette blieb einen Moment auf halbem Wege zum nächsten Bissen stehen. „Das ist mal was Neues. So was hatten wir in Nürnberg noch nicht.“

„Wir auch nicht“, fuhr Langer fort. „Der Mann war aber nicht süchtig; keinerlei Einstichspuren, bis auf die letzten eben. Aber er hatte Hämatome an den Oberarmen, als ob ihn jemand festgehalten hätte. Einige Schüler aus der Abi-Klasse wurden verdächtigt, doch keinem ist Verbindung in die harte Drogenszene nachzuweisen. Sie geben sich allerdings gegenseitig Alibis. Der Fall ist jetzt zwei Wochen alt und ziemlich festgefahren.“

„Mathe und Physik sind schon per se ein Motiv“, murmelte Jutta vor sich hin. Korp lachte. Der Tag konnte doch noch gut werden; die neue Kollegin gefiel ihm.

„Dann eine junge Frau, die aus dem fünfzehnten Stock des Studentenwohnheims in der Ginnheimer Landstraße gefallen ist“, fuhr Langer fort. „Höchstwahrscheinlich Selbstmord, aber noch nicht endgültig geklärt; der Abschiedsbrief wird noch auf Echtheit geprüft. - Ein weiterer Drogentoter im Bahnhofsviertel. Wenn ich zynisch wäre“, Langer schaute kurz auf, „würde ich sagen, nichts Spektakuläres. Dann ein Fall von häuslicher Gewalt mit Todesfolge in Eckenheim. Der Ehemann ist geständig, ist also bald vom Tisch. Und schließlich ein toter Lkw-Fahrer in einer Spedition in Nieder-Eschbach, ehemaliger Krimineller, der plötzlich seriös geworden ist. Ganz frisch von heute Morgen.“

„Ich sehe schon“, sagte Jutta und drehte sich prüfend nach der Theke um, „ein großer Unterschied besteht dann doch nicht zwischen unseren beiden Großstädten.“ Sie zwinkerte Langer zu und machte sich auf den Weg zu einem weiteren Baguette.

„Wo isst die das nur hin?“, murmelte Langer, während er sich über den strammen Bauch fuhr. „Bei der Figur!“ Dann sah er seinen Kollegen scharf an. „Sie werden mit ihr auskommen, nicht wahr?“ Seine Stimme hatte einen leicht drohenden Unterton. „Keine beleidigte Leberwurst, wenn ich bitten darf!“

„Nö, warum denn“, erwiderte der andere unbekümmert und stand ebenfalls auf. „Ich darf doch an meinem Schreibtisch sitzen bleiben. So eine bringt mal frischen Wind rein. Wer sollte da was dagegen haben?“

Sonata Mortale

Подняться наверх