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Freitag, 8. Mai

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1

Vorsichtig streckte Manne seine Arme aus. Dann die Beine. Laut gähnend dehnte er dann seinen steifen Rücken, bevor er versuchte, langsam aufzustehen. Die Nacht war kalt gewesen, darüber täuschten auch die warmen Temperaturen am Tag nicht hinweg. Die Eisheiligen nannten sie das wohl. Vor Urzeiten, in einem anderen Leben, hatte er einmal einen Garten gehabt und noch über solche Dinge genau Bescheid gewusst. Ja, es musste jetzt die Zeit sein. Er setzte sich auf und rollte den Kopf bedächtig hin und her, während seine rechte Hand neben ihn griff.

Sie griff ins Leere.

„Herrgottsakra!“ Mit einem Ruck saß er kerzengerade und starrte wütend auf die Bodenplatten der Einkaufspassage. „Scheiße! Welche Drecksau hat mir die Pulle geklaut!? Eine Sauerei ist das, eine elende! Wenn ich den erwische!“ Seine Hand tastete fieberhaft die Steinfliesen neben sich ab. „Da war noch fast ein Viertel drin, ich hab’s mir extra zum Frühstück aufgehoben! Wenn ich den erwische, den Lumpenhund!“

Neben ihm raschelte Papier, ein ärgerliches, schmutziges Gesicht kam zum Vorschein. „Spinnst wohl, hier so ‘nen Krach zu mache am frühe Morge, wie? Halt die Klapp’ und penn weiter!“

„Jemand hat mir den Rest Roten geklaut!“ Mannes Schimpfen ging in ein Wimmern über.

Sein Nachbar, der Pinnekarl, fuhr hoch. „Du mit deim ewiche Gejammer! Auf de Geist gehste mir – awwer ganz gewaltich! Pass doch uff dein Krempel besser uff!“

„Aber wenn ich doch schlaf!“ Jetzt flennte Manne wie ein kleines Kind. Dicke Tränen rannen ihm über die geröteten Wangen in den filzigen Vollbart. Das war, wie immer, für Karl das Signal, sich an ihre Freundschaft zu erinnern und unbeholfene Trostversuche einzuleiten.

„Komm, es is eh’ schon fast Zeit, mir gehn ans Geschäft. Den Rote haste bald widder drin!“

Vorsichtig wie Manne vorhin reckte er seine Glieder. Beide – Manne unter Schluchzen, Pinnekarl unter leisem Fluchen – packten ihre wenigen Habseligkeiten zusammen. Während Manne seine Plastiktüten mit Zeitungen und einer dünnen Decke vollstopfte, registrierte sein Blick gleichgültig die vier- und fünfstelligen Summen an den glitzernden Colliers, Ringen und Armbändern im Fenster des Juwelierladens, neben dem sie ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten. Sie gingen durch die kleine Einkaufspassage, vorbei an einer Boutique für Baby-Designer-Moden, und traten ins Freie. Es war fast acht Uhr, vom Osten her stand bereits eine wärmende Sonne über der Frankfurter Hauptwache.

In der Zeil waren kaum Menschen; die beiden Obdachlosen wussten, dass hier an Geschäft noch nicht zu denken war, denn die wenigen Passanten hatten nichts von der Gemütlichkeit der Einkaufsbummler an sich, die in zwei, drei Stunden Frankfurts größte Einkaufsstraße völlig verändern würden.

Doch unter ihnen, in der B-Ebene, war bereits die Hölle los. Menschen schossen in verschiedene Richtungen an ihnen vorbei und hasteten den Rolltreppen und Aufzügen zu. Und noch weiter unten brüllten und quietschten im Sekundentakt die Züge aus annähernd 20 S- und U-Bahn-Linien. Hier hetzten jeden Tag fast zweihunderttausend Menschen von einem Bahnsteig zum anderen, verstopften die Rolltreppen, rempelten einander an, eilten immer in die Richtung, aus der die anderen gerade gekommen waren. Pünktlich zu Wochenbeginn blähte sich die Mainmetropole zur Millionenstadt auf und platzte aus allen Nähten, indem sie sich schlagartig um die Hälfte ihrer Einwohner vergrößerte. Auf den Straßen und Autobahnen der Stadt war das Bild womöglich noch chaotischer. Am Wochenende gönnte sie sich etwas Ruhe, bevor montags der Hexentanz in eine neue Runde ging.

„Irgendwie is des alles falsch eingericht’“, hatte Pinnekarl einmal zu seinem Freund gesagt, als sie das Gewühl beobachteten, das sich jeden Werktag so sicher wie die jährliche Fahrpreiserhöhung wiederholte. „Die, die von da komme, könnte doch da auch arbeite. Und die, die von dort komme, könnte doch dort arbeite! Aber nein – es is grad annersderum. Die renne von da nach dort, und die annern von dort nach da. Die Welt is schon komisch eingericht!“

Vielleicht würde man hier unten ein hastig hingeworfenes Wechselgeld der morgendlichen Zeitung oder Zigaretten im Hut wiederfinden können. Sie zwängten sich langsam die Treppen hinunter, immer am Geländer entlang, umgingen, so gut es ging, den Hauptstrom und konnten es trotzdem nicht vermeiden, dass sie gestoßen und gerempelt wurden. Manne, immer noch seinem Viertel Rotwein nachtrauernd, nahm es mit stoischer Gelassenheit, Pinnekarl dagegen bahnte sich laut schimpfend seinen Weg. Er hatte die Genugtuung, dass die werktätigen Massen mit angewiderter Miene auf Abstand gingen, sobald sie gewahr wurden, mit wem sie gerade ungewollten Kontakt aufgenommen hatten. Sie kamen an den Abgang zum S-Bahnhof und schlurften an Geschäften, Cafés und Ständen vorbei, in denen das bürgerliche Volk vor Bürobeginn hastig einen Kaffee schlürfte und ein fabrikfrisches Croissant dazu aß. Die ganz Eiligen nahmen sich nicht einmal die Zeit, dort stehen zu bleiben, sondern stürmten mit ihren diversen Kaffee-Variationen in Pappbechern bereits weiter.

„Gucke mal, da liecht des Peterche!“ Pinnekarl deutete auf einen Kollegen, der in einer Ecke nahe der Schließfächer auf seinem Lager lag. Keiner der Vorbeiströmenden nahm Notiz von ihm. „Dass der immer noch schlafe kann – bei dem Lärm! Hat wohl widder zuviel gehabt gestern! He, Peterche, wach uff!“

„Dem habense ja auch die Pulle nicht geklaut. Komm, lass ihn weiterschlafen. Die Bullen werden ihn schon wachrütteln.“ Manne konnte den Kleinen Peter nicht leiden, seitdem der ihm einmal seinen besten Arbeitsplatz streitig gemacht hatte.

„He! Guckemal da, was issen des?“ Pinnekarl war nähergetreten. Dann taumelte er zurück. „Um Gottes Wille! Des is ja – des is Blut! Manne, des is Blut! Um Gottes Wille!“

„Du spinnst ja. Nun mach mal halblang. Das –“ Manne kam vorsichtig hinter seinem Freund hervor und starrte auf den Liegenden. „Oh, mir wird schlecht!“

„Rufese en Krankewage! Die Bolizei! Der is dod!“ Verzweifelt wandte sich Pinnekarl an die vorüber eilenden Menschen um. Keiner hatte mehr als einen Blick für die beiden, die den Toten noch halb verdeckten. „Mir brauche die Bolizei!“ Er ging auf den nächsten Passanten zu, fasste ihn am Ärmel des teuren Jacketts und taumelte zurück, als der andere ihn brutal zurückstieß. Er versuchte es weiter und erweckte endlich die Aufmerksamkeit einer jungen Frau, die zwar vor ihm zurückwich, aber ihm wenigstens zuhörte.

„Rufese die Bolizei, Fräuleinche, des Peterche da is dod!“

Die Frau schaute ihn skeptisch an, dann ging ihr Blick auf das Bündel Mensch, das auf dem Boden lag. „Sind Sie sicher?“

„Ja doch, ich sach Ihne doch ...!“

„Vielleicht schläft er nur seinen Rausch aus?“

„Und des Blut?“

Ein schmutziger Finger zeigte zitternd auf die dünne Decke, auf der der Obdachlose lag. Die Frau wagte einen zaghaften Blick, zuckte zusammen und nickte.

„Gut, ich rufe die Polizei. Bleiben Sie am besten hier.“

Pinnekarl und Manne sahen sich an. Nein, das wollten sie ganz sicher nicht. Hastig ergriffen sie ihre Plastiktüten, die sie vor Schreck hatten fallen lassen, und wandten sich der nächsten Rolltreppe zu.

Doch es war zu spät. Die Frau brauchte gar nicht erst ihr Handy zu zücken, weil die kleine Gruppe inzwischen die Aufmerksamkeit einer Streife auf sich gezogen hatte, die bereits auf sie zusteuerte. Manne und Pinnekarl legte einen Zahn zu.

„Halt da! Hier geblieben!“

Die Polizisten setzten sich in Trab, fingen sie auf der überfüllten Rolltreppe ein und schleiften sie nach oben. Es gab ein fürchterliches Durcheinander, eine Frau kreischte, ein Kind mit einem schweren Schulranzen wurde grob beiseitegeschoben.

„Bleibt ihr wohl jetzt ruhig stehen!“

„Is ja gut, Mann!“ Oben im Sonnenlicht wand sich Pinnekarl aus dem harten Griff des Polizisten. „Mir wollte ja gar net abhaue.“ Er glättete den Ärmel des zerrissenen alten Mantels mit einiger Würde. „Also, da unne, da liecht einer und is dod!“ Er zeigte nach unten.

Die Polizisten sahen sich kurz an, einer lief die Treppe hinunter, weil die Rolltreppe daneben hoffnungslos verstopft war. Auch hier musste er hauptsächlich gegen den Strom rudern und sich rücksichtslos an den Entgegenkommenden vorbei drängeln. Nach ein paar Augenblicken sah man seinen Kopf wieder aus der Menge auf der Treppe auftauchen, seinem Kollegen zunicken und wieder kehrtmachen.

Diesen winzigen Moment der Unaufmerksamkeit genügte den beiden Obdachlosen, ihre Habe und ihre Beine in die Hand zu nehmen und einen bewundernswürdigen Sprint in Richtung Zeil hinzulegen.

Sie bogen in die Kino-Passage ein und waren verschwunden.


Oben an der südlichen Rolltreppe zur B-Ebene flatterte ein rot-weißes Absperrband mit POLIZEI-Aufdruck im Wind, am unteren Ende, in der Ebene selber, war die Treppe ebenso gesperrt. Die Schaulustigen jetzt, gegen zehn Uhr vormittags, auf Abstand halten zu wollen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Nicht, dass es eine Seltenheit gewesen wäre, dass eine oder mehrere Rolltreppen zur Ebene geschlossen oder außer Betrieb waren. Auch an den Anblick von etlichen Einsatzwagen und grün Uniformierten – ja, von ganzen Hundertschaften war man in der City gewöhnt. Doch diesmal standen sie nicht drohend da, mit Helmen, Schilden und Wasserwerfern bewaffnet und in undurchdringlicher Formation ungerührt gerade aus starrend. Obwohl Hauptkommissar Paul Langer sich sehnlichst wünschte, dass es heute so wäre.

Mit sicherem Instinkt hatten die Passanten schon oben erkannt, dass ihnen hier etwas Besonderes geboten wurde. Einige Schutzpolizisten versuchten ihr Möglichstes, konnten jedoch nicht verhindern, dass das Team der Kriminalpolizei auf Schritt und Tritt beobachtet und kommentiert wurde. Die Kecksten unter den Zuschauern mussten immer wieder hinter das Absperrband zurückgedrängt werden. Blitzlichter flackerten auf. Ein ganzer Bus Japaner, die auf dem Weg zum Goethehaus um die Ecke waren, gaben der Live Performance des einundzwanzigsten Jahrhunderts eindeutig den Vorzug.

„Himmel Herrgott – treib das Volk da weg, Schmidtbauer!“ brüllte Langer mit gefährlich rotem Kopf zur Treppe hoch und hinter sich in die B-Ebene hinein. Der kleine dicke Kommissar ruderte mit den Armen, stürmte die Treppe halb hoch, wurde von einem Mann im weißen Overall sanft zurückgehalten – alles in allem gab er keine gute Figur ab.

Einige im Publikum kicherten. Wahnsinn, was für eine Vorstellung! Damit hatte keiner gerechnet, als er heute Morgen aus dem Haus ging.

Besser als Fernsehen.

Wie aufs Stichwort tippte einer aus der Menge seinem unbekannten Vordermann auf den Oberarm. „Drehen die hier?“ – Der zuckte die Schultern, stieg noch ein wenig mehr auf die Zehenspitzen und versuchte, hinunter in die B-Ebene zu spähen. „Keine Ahnung. Aber ich glaub, die sind echt.“ Er drehte sich um. „Keine Kamera.“

„Allmählich sollte der Chef ja nun wirklich dran gewöhnt sein“, murmelte derweil ein modisch gekleideter, schlaksiger Kripobeamter in der unteren Ebene. Er nahm den jungen Obermeister Schmidtbauer beiseite, als der sich mit hochrotem Kopf wieder der Menge zuwenden wollte.

„Hör mal, Jens. Hol Verstärkung und lass dir von jedem, der nicht sofort verschwindet, die Personalien geben. Mit Ausweiskontrolle und allen Schikanen.“ Er betonte das letzte Wort und zwinkerte dem jungen Kriminalobermeister zu.

„Aber ...“

„Mach einfach. Der Chef platzt gleich wie ein Luftballon.“

Unten vor dem Eingang zu den Schließfächern hatte Dr. Eilers inzwischen die erste Untersuchung der Leiche, die einmal das Peterche war, abgeschlossen. Er stand auf.

„Schlag auf den Kopf. Schädeltrauma, Gehirnblutung. Grob geschätzt zwischen ein und vier Uhr heute Nacht.“ Er packte seinen Sachen zusammen, wollte verschwinden, kam dann aber der Frage Langers zuvor:

„Ich mach's gleich heute Nachmittag.“

Mürrisch beobachtete Langer, wie der Körper in einen Plastiksack und auf eine Bahre gelegt wurde. Jetzt kam der unangenehmste Teil: Die Träger mussten ihre Last über die Treppe nach oben zum wartenden Leichenwagen bringen. Doch wider Erwarten machte die Menge ihnen Platz. Noch mehr Kameras klickten. Für einen kurzen Moment war Stille.

Der schlaksige Beamte, Oberkommissar Korp, bekam seinen Vorgesetzten zu fassen, als dieser nach einem weiteren Blick auf das kriminaltechnische Team sich eben suchend nach ihm umdrehte. Der visuelle Gegensatz zwischen dem immer leicht schmuddelig wirkenden dicken Langer und dem schlanken, eleganten Korp hätte kaum größer sein können. Und der charakterliche auch nicht.

„Keine Chance, Chef. Die Kollegen von der Streife sagen, dass sie die beiden Penn... – äh, Nichtsesshaften noch festgehalten hatten, doch dann sind sie, ich meine die – äh – Stadtstreicher, so plötzlich verschwunden, dass ...“

„Wär' auch zu schön gewesen. Haben sie eine Beschreibung abgegeben?“

„Na ja, wie Penner halt.“ Auf Langers Blick hin zuckte Korp die Schultern. „Mittelgroß, dreckig, eingemummt in undefinierbare Klamotten, Bart, zerlottert. Nichts Auffälliges.“

„Gut, dass wir es mit geschulten Polizisten zu tun haben.“ Langer seufzte und schüttelte unwillig den Kopf. „Schmidtbauer soll sich in den Obdachlosenheimen und Suppenküchen umhören. Da wird doch jetzt überall drüber geredet. Wär' doch gelacht, wenn wir die beiden nicht zu fassen bekämen.“

„Viel verspreche ich mir nicht davon, Sie etwa? Die werden's ja nicht selber getan haben, so blöd können die doch nicht sein, und nachher selber nach der Polizei schreien. Das hat jedenfalls diese Zeugin ausgesagt. Und andere Informationen kriegen wir aus denen nicht raus.“

Langer schnaubte. „Und deshalb lassen wir's am besten gleich sein, oder was?“

Natürlich nicht, dachte Korp. Im Stillen jedoch hatte er gehofft, dass dieser Kelch in Form einer Vernehmung von ungewaschenen Mitmenschen, die im Verhörraum oder gar in seinem Büro eine deutliche Geruchsspur hinterlassen würden, an ihm vorüberginge. Er sah an seinem neuen Designer-Dreiteiler herab und schnippte ein imaginäres Staubkorn weg.


Und es kam genau so, wie er befürchtet hatte. Schmidtbauer hatte überraschend schnell Erfolg gehabt und die beiden Clochards gegen Mittag an der Konstabler Wache aufgespürt. Sie hatten sich nicht geweigert, sondern nur resigniert mit den Schultern gezuckt und waren in den Dienstwagen gestiegen.

Schmidtbauer kurbelte die Seitenfenster herunter, ließ die gute Frankfurter Luft in den Wagen und atmete tief durch. Amüsiert registrierte er, dass die beiden die Fahrt durch die halbe Stadt zu genießen schienen. Immer wieder reckten sie die Köpfe, als versuchten sie, die Blicke von Kameraden da draußen auf sich zu ziehen. Bedenken wegen ihres guten Rufs schienen sie nicht zu haben.

Jetzt allerdings hockten sie wie zwei Häufchen Elend in Korps Büro. Auch hier waren die Fenster weit offen. Schmidtbauer hatte seinen Chef fragend angeschaut und, als Korp ihm ein Zeichen gab, erleichtert das Zimmer wieder verlassen.

Korp blätterte in der Akte Peter Landgraf, die, wiewohl im Augenblick nur aus drei Blättern bestehend, offensichtlich seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte. Endlich sah er auf.

„Also: Karl Pinneberg und Manfred Becker. Das sind Sie?“

Manne und Pinnekarl nickten stumm und unisono.

Korp nahm mit spitzen Fingern die beiden abgegriffenen Personalausweise, auf denen ihm die bürgerlichen Gesichter der Herren Becker und Pinneberg entgegenblickten. Mit viel Fantasie konnte er sie den vor ihm Sitzenden zuordnen. Auf der Rückseite war der Vermerk auf dem Klebestreifen „Ohne festen Wohnsitz“ kaum noch zu lesen.

„Nun erzählt mal ganz genau – wie war das denn, als ihr euren Kumpel gefunden habt?“, fragte er jovial.

Nach einem kurzen Blickwechsel ergriff der Pinnekarl das Wort. „Also, heut morge bin ich früher uffgewacht, von dem sein Mordsgeflenn“, er stieß Manne mit dem Ellebogen in die Seite.

„Eine Sauerei war das – eine Riesensauerei! Da habense mir doch den letzten Rotwein geklaut über Nacht, den wollte ich ...“

Er erntete einen neuerlichen Stoß. „Erzähl ich odder du?“

Manne sackte wieder in sich zusammen, schob die Hände unter die Oberschenkel und starrte vor sich hin, während Karl sich immer mehr in seine Rolle des wichtigen Zeugen hineinlebte. „Wo mir grad davon schwätze, Herr Kommissar, Sie hawwe hier e asch trocke Luft, gell Manne?“ Der nickte lebhaft, hob aber kaum den Blick.

„Möchten Sie ein Wasser?“

„Ach nöö, lasse Se mal. Also, wie gesacht, mir sinn dann früher ans Geschäft gange.“

„Wo hattet ihr denn geschlafen?“

„Na, da in dere Einkaufspassaasch zwische Hauptwach un Biebergass; da lieche mir meistens. Mir sind dann runner, weil obbe is ja um die Zeit noch nix los, gelle ...“

„Haben Sie zufällig auf die Uhr geschaut?“

„Ja, uff dere Uhr da drauße uffm Roßmarkt war's kurz nach acht. Mir also runner in die B-Ebene unn quer dorsch. Is ja e Mordsgerenne um die Zeit. Mir hawwe da en scheene Platz neber sonem Café, gelle, da schmeiße die Leut öftes emal was neu in de Hut. Und dann – was soll ich Ihne sache, Herr Kommissar“, er beugte sich vor; Korp begann, flach zu atmen, „da seh ich doch des Peterche da hinne lieche, bei de Toilette‘, wo die Schließfächer sinn, wie's noch schläft. Is gar net sei Art, sach ich Ihne!“

Er setzte sich wieder gerade hin.

„Ja, und? Weiter!“

„Mir also hin und wollten'en wecke, awwer dann … wie ich des Blut gesehe habb … Da wusst ich, des hat koin Sinn mehr.“

„Sie sind also nah an ihn herangetreten? Wie nah?“

„Nee, nee, Herr Kommissar – so nah auch widder net! Ich habb mich nur übbern gebeucht und ...“ Auf den fragenden Blick Korps artikulierte er „Ü-ber – ihn – ge-beugt … unn nix angefasst. Werklisch! Ich hab glei gemerkt, dass der dod is. Des viele Blut! Unn dann hat jemand die Polizei gerufe.“

„Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen – war etwas anders? Hat etwas gefehlt? Eine der Tüten vielleicht?“

Vereintes Kopfschütteln.

„Als die Kollegen von der Streife kamen, seid ihr weggerannt. Warum? Es hat Stunden gedauert, euch zu finden!“

Die beiden Obdachlosen rutschen unbehaglich auf ihren Stühlen hin und her.

„Ja, also, Herr Kommissar. Sie hawwe ja Recht. Des war falsch. Awwer des müsse Se schon verstehn. Des is – so'e Art Reflex, wenn Se wisse, was ich mein.“

„Gab es irgendwelche Streitereien in der letzten Zeit rund um die Hauptwache?“ Korp wusste, dass er sich die Frage genauso gut auch hätte sparen können. Beide schüttelten erwartungsgemäß die Köpfe.

„Wir müssen Angehörige des Herrn Landgraf finden. Habt ihr eine Idee, wen man benachrichtigen könnte?“

„Mit der Laura war er öfters zusammen“, mischte Manne sich jetzt ein. „Aber die weiß es schon, dass er tot ist. Ja, und der 'Doktor' natürlich.“

„Wer ist der Doktor?“

„Mit dem hing des Peterche immer rum.“ Karl warf Manne einen verdrießlichen Blick zu und ließ sich seine Hauptrolle nicht streitig machen. Er beugte sich wieder vor. „Mir sache immer Doktor zu em, weil, der hat emal studiert. Ich glaub, Thomas heißt der. Den finne Se wahrscheinlich an de Konstabler. So'n mittelgroße mit ‘em Bart, ich schätz mal, so um die vierzig wird der sein.“

Da können wir ihn ja nicht verfehlen, dachte Korp. „Thomas – und weiter?“

Gemeinsames Schulterzucken.

„Nachnamen kennen wir bei uns kaum“, meldetet sich jetzt wieder Manne zu Wort. „Aber der ist ganz okay. Der muss Jura studiert haben, hat den Kollegen manchmal ein paar Tipps gegeben.“

„Und wie gut haben Sie den Toten gekannt?“

Pinnekarl zuckte die Schultern. „Wie mer sich halt so kennt, gelle? Mir hawwe immer nur Peterche zu ihm gesacht, weil er doch nur so ‘en korze Stobbe war.“

In das verständnislose Gesicht Korps hinein übersetzte Manne: „Weil er doch so klein war.“

„Ja, genau. Und dass des 'en Landgraf war, hawwe mir net gewusst!“ Beide fingen an zu kichern und wollten sich gar nicht mehr beruhigen.



2

„Oh, Mann!“ Anna fegte in den Laden, pfefferte ihren Schulranzen in die Ecke und sich selbst in den Stuhl daneben. „So eine Scheiße! So eine Scheiße!“ Nach diesem Ausbruch verschränkte sie die Arme vor der Brust, blieb regungslos sitzen und starrte stumm vor sich hin.

Thea Dettner und Frau Busche sahen sich an.

„Was ist denn los?“

Keine Reaktion.

„Warst du schon zu Hause?“

Anna blieb Salzsäule.

„Du weißt, dass deine Mutter solche Wörter nicht gerne hört!“

Annas Kopf schreckte in die Höhe: „Ist sie da?“

„Nein. Ist was passiert?“

Anna hatte wieder die Haltung einer Marmorstatue angenommen. Ihr Blick bohrte Löcher in den Boden. Thea sah, dass ihr Tränen über das Gesicht rannen.

„Komm, wir gehen nach oben und lassen uns eine Pizza kommen. Oder willst du lieber zu Carlo gehen und dich da hinsetzen?“

Frau Busche hatte sich inzwischen diskret abgewandt und sortierte eine neue Lieferung Comic-Hefte in den Auslagen. Thea überlegte, ob sie Doris anrufen sollte, entschloss sich dann aber zu warten.

Eine Horde junger Rüpel aus der nahen Schule, kaum zwei Jahre älter als Anna, stürmte den Laden, beriet sich lautstark über die Investition von einem Euro fünfundsechzig, die einer von ihnen zu tätigen gedachte, und hatte einen mordsmäßigen Spaß, sich dabei gegenseitig von einer Seite auf die andere zu schubsen. Bevor sie sich schließlich wieder gegenseitig nach draußen rempelten, rief einer: „Guck mal, die flennt ja!“

Daraufhin zog es Anna vor, mit Thea nach oben in die Wohnung zu gehen.

Anna war fast elf und der jüngste Spross der Familie Tischmann. Sie war geschlagen mit drei älteren Brüdern und einem Elternpaar, das seit über zwanzig Jahren im Schuldienst stand und alles über Erziehung wusste. Zudem mit dem Schicksal des ewigen Nesthäkchens, bei dem die Pubertät heftig an der Tür klopfte, wenn nicht gar schon eingetreten war, was aber die anderen Familienmitglieder nach Theas Ansicht nicht so recht zur Kenntnis nehmen wollten.

Während Thea Doris’ Nummer wählte, schielte sie in die Couchecke. Anna saß stumm und kerzengerade in einem Sessel und weinte still vor sich hin. „Deine Tochter ist hier. Wir essen zusammen.“

„Gut.“ Es klang gestresst. „Ich muss sowieso heute Nachmittag noch mal in die Schule. Was hat sie von der Mathe-Arbeit gesagt?“

„Ach, jetzt versteh ich.“ Fast war Thea erleichtert. „Noch nichts.“

„Oh – Schei... Scheibenkleister! Ich hab’s geahnt! Sie ist nun mal schwach in Geometrie, das weiß sie doch und ...“

„Du meinst ...?“

„Verdammt, ja! Und ich habe ihr gestern Abend extra gesagt, sie soll sich noch mal hinsetzen! Aber nein, sie musste ja unbedingt noch lesen! Da kann man reden und reden …“

Thea beglückwünschte die Kleine im Stillen dafür, nach der Schule zuerst zu ihr in den Kisok-Laden gekommen zu sein, anstatt nach Hause zu gehen. Es kam öfters vor, dass Anna nach der Schule ‘kurz’ bei Thea vorbeischaute und dann bis weit in den Nachmittag hinein blieb. Es war für sie die Seligkeit auf Erden, im Laden zu stehen und die Leute zu bedienen. Wenn nicht viel los war, durfte sie bereits, von Thea mit einem Auge überwacht, kassieren und Wechselgeld herausgeben.

„Also, “ sagte Thea, als sie den Hörer auflegte, „die Mathe-Arbeit ging voll daneben, was?“

Leben kam in das Mädchen. „Hast du es Mama gesagt?“

„Wie denn, wenn ich nichts weiß? Mama hat es mir gesagt! Zeig mal her!“

Schniefend hob Anna den schweren Ranzen auf den Stuhl und wühlte umständlich in den Büchern, Ordnern und Arbeitsmappen. Dann reichte sie Thea ein rot eingeschlagenes Heft. Genauso rot war die Tinte des Filzstifts, mit dem die Lehrerin in wunderschöner Schreibschrift ihr „Mangelhaft“ unter einige, hauptsächlich aus Streichungen bestehende Rechenaufgaben gesetzt hatte.

„Voll bescheuert! Dabei hab ich das doch kapiert, aber dann ...“ Anna zuckte hilflos mit den Schultern.

Nachdenklich blätterte Thea in dem Heft. Dreien und Vieren. Das Kind war eindeutig nicht zur Mathematikerin geboren. Doris und Otto unterrichteten beide Physik und Chemie. Konrad, der älteste, studierte Medizin, sein jüngerer Bruder Harry, hatte gerade sein Studium der Informatik aufgenommen und Danny im letzten Jahr den Mathematik-Wettbewerb der Schule gewonnen. Anna war ganz entschieden aus der Art geschlagen. Sie schrieb schöne Aufsätze, und hatte ein ausgesprochenes Talent, so fand Thea, mit Farben umzugehen – auch wenn das der Kunstlehrer nicht immer honorierte.

„Wir machen jetzt folgendes: Wir essen Pizza, dann rechnest du das alles noch mal nach …“

„... alles?

„Na ja, das meiste. Du hast es doch kapiert, oder? Dann dauert es sicher nicht so lange. Was ist mit den Hausaufgaben?“

„Nur den blöden Aufsatz in Deutsch. Englisch habe ich schon in der Schule gemacht.“

„Was ist das für ein Aufsatz?“

„Wir sollen über das Buch schreiben, das wir zuletzt gelesen haben.“

„Und das ist blöd?“

„Na ja, ich hab doch mindestens drei Bücher angefangen! Eins auf dem Nachttisch, eins im Ranzen für den Bus und ...“

„Dann nimm das spannendste.“

„Sind sie doch alle! Sonst würde ich sie doch nicht lesen!“ Ihre Augen blitzten schon wieder. „Ich nehm’ das!“ sagte sie dann nach kurzem Überlegen und wühlte wieder im Ranzen.

„Gut. Und danach fahren wir in den Taunus. Ich muss da noch jemanden besuchen.“

„Die Verrückte?“

Thea sah sie streng an. „Sie ist nicht verrückt, nur ein bisschen verwirrt. Weil sie schon so viele schlimme Sachen erlebt hat.“

„Aber sie wohnt doch in diesem Haus für Verrückte!“

Thea reagierte nicht darauf und sagte stattdessen: „Vielleicht reicht die Zeit ja noch für ein Eis.“

„Oh, cool!“

Die Rechnerei war eine Qual und ging zwar nicht fehlerlos, aber doch bei weitem besser als in der Arbeit. Der ‘blöde’ Aufsatz dagegen war ruck zuck fertig. Carlos Pizza schmeckte vorzüglich wie immer.


Gegen halb fünf hatten sie die Stadt hinter sich gelassen und fuhren über kühle, schattige Waldwege zu Professor Sandmanns Klinik.

„Ach, Frau Dettner, guten Tag. Schön, dass Sie wieder mal vorbeischauen. Warten Sie bitte hier, sie kommt gleich herunter. Sie freut sich schon den ganzen Tag auf Ihren Besuch.“ Schwester Mathildes grimmige Züge lockerten etwas auf, wurden aber gleich wieder streng, als sie Anna sah. „Was ist denn das?“

Anna war in eine lebhafte, wenn auch recht einseitige Konversation mit zwei älteren Damen vertieft, die vor der Tür in der Sonne saßen.

„Und das ist meine Tante“, sagte sie gerade, während sie auf Thea zeigte. „Aber eigentlich ist sie ja gar nicht meine Tante. Aber irgendwie doch. Sie kennt meine Mama schon ewig lange, schon vor meiner Geburt. Und dann haben wir noch Tessy. Einen Berner Sennenhund. So groß.“ Ihre rechte Hand schnellte hoch bis etwa in Höhe ihrer linken Schulter. Die beiden Damen nickten freundlich und lächelten stumm.

Schwester Mathilde warf der kleinen Gruppe einen Blick zu. „Passen Sie auf, dass das Kind nicht auf die Stationen geht. Das ist verboten!“ sagte sie gereizt.

In diesem Augenblick kam Bianca von Hellgarten die breite Treppe herunter und winkte ihnen zu. Thea begrüßte sie und trat mit ihr ins Sonnenlicht.

„Anna, komm, wir gehen in den Park. Das ist Anna“, stellte sie das Kind vor. „Anna, das hier ist Frau von Hellgarten.“

„Hallo, guten Tag. – Und tschüss!“ Das Mädchen wandte sich noch einmal zu den beiden Damen auf der Bank um. „Und wenn ich wieder komme, erzähle ich Ihnen von ...“

„Nun komm schon!“

Langsam gingen sie am Springbrunnen vorbei, der am Ende der Auffahrt sein Wasser in die Luft schoss, und wandten sich den Anlagen zu. Thea hatte Bianca vor drei Jahren im Sanatorium von Professor Sandmann kennen gelernt. Damals hatte sie hier ihre Tante besucht, die im Zimmer neben Frau von Hellgarten wohnte. Fräulein Erika Strielitz – sie gehörte zu den Frauen, die noch Wert auf diese Anrede legten – war 17 Jahre älter als ihr Vater gewesen und für Thea so eine Art Großmutterersatz. In jüngeren Jahren eine durchaus emanzipierte Geschäftsfrau, war sie durch geschickte Grundstücksspekulationen in Frankfurt zu viel Geld gekommen. Den größten Teil ihres Vermögens hatte sie diversen wohltätigen Einrichtungen vermacht, nicht ohne Thea schon zu Lebzeiten mit einer ordentlichen Schenkung zu bedenken, mit der diese ihren Kiosk-Laden finanziert hatte. In ihren letzten Monaten hatte die Demenz eingesetzt. Die Krankheit verlief rapide, doch sie war immerhin 90 Jahre alt geworden und bis ins hohe Alter geistig sehr rege. Zum Schluss allerdings hatte sie Thea nicht mehr wahrgenommen.

Bei diesen Visiten hatte Thea Frau von Hellgarten kennengelernt und die Besuche bei ihr nach dem Tod der Tante vor vier Monaten fortgesetzt.

Sie schätzte Bianca von Hellgarten etwa auf Mitte 60. Selbst nach Jahren des Klinikaufenthalts strahlte die Frau noch die elegante Nonchalance aus, wie sie einigen Menschen eigen ist und von anderen nicht erlernt werden kann. Sie redete sehr viel und war nach Meinung der Ärzte manisch-depressiv, was immer das heißen mochte. Thea hatte keine nennenswerten Gemütsschwankungen bei der Patientin feststellen können. Nicht, dass ihr Bianca als ausgesprochen ausgeglichener Charakter vorgekommen wäre, aber unter manisch-depressiv hatte sie sich immer etwas anderes vorgestellt. Bianca war etwas schusselig, wiederholte sich oft und überraschte dann wieder mit Erinnerungen an Einzelheiten, die Thea ihr Wochen vorher erzählt hatte.

Das wasserfallartige Gerede – belangloses Zeug aus dem Klinikalltag, wenig über die Vergangenheit – war gewohnheitsbedürftig, doch war Biancas Freude, Thea zu sehen, immer so überwältigend und ehrlich, waren ihre Augen beim Abschied stets so ängstlich und hoffnungsvoll, dass Thea es nicht über das Herz brachte, die Besuche einzustellen. Und es war nach einem hektischen Arbeitstag unendlich beruhigend, in diesem Park spazieren zu gehen und durch die Wiesen zu wandern.

Thea atmete tief ein, während Anna vorauseilte und Frau von Hellgarten ununterbrochen redete. Obschon zu jeder Jahreszeit herrlich, war der Park jetzt im Mai ein Traum. In den weiten, sanft abfallenden Rasenflächen hatte man Wege angelegt, an denen in Abständen Parkbänke zum Verweilen einluden. Uralte Bäume wechselten ab mit blühenden Sträuchern, die Farben der Blumenrabatten schienen um die Wette zu leuchten. Zu keiner Zeit des Jahres lag ein solcher Duft in der Luft wie jetzt.

Plötzlich war es still. Thea spürte, wie die Frau neben ihr sie fragend anschaute.

„Äh – wie bitte?“ Sie hatte nicht zugehört.

„Ich fragte, wie geht es Ihren Eltern? Alles in Ordnung?“

Thea seufzte leise. Wie viele Male hatte sie diese Frage schon beantwortet? Frau von Hellgarten kannte Theas Familie, abgesehen von Tante Erika, nicht; es war nicht mehr als eine Höflichkeitsfloskel, die sie jedes Mal in ihr einseitiges Gespräch einfließen ließ.

„Meine Eltern sind tot“, sagte Thea geduldig. „Mein Vater starb, als ich zwölf war. Meine Mutter vor sechs Jahren.“

Bianca nickte nur. „Und das Geschäft läuft gut?“

Also, das weiß sie noch, dachte Thea. Merkwürdig, wie der menschliche Verstand arbeitet.

Sie hatten den Park einmal umrundet und standen wieder am Springbrunnen, in dessen Nähe Theas Toyota geparkt war. Anna hatte unterdessen ihre Untersuchungen von Flora und Fauna des Parks beendet und gesellte sich wieder zu ihnen.

Es war spät geworden. Auf dem Nachhauseweg musste eine mürrische Elfjährige davon überzeugt werden, dass der gemütliche Besuch in der Eisdiele auf ein anderes Mal verschoben und ersetzt werden musste durch ein Eis in der Waffel.

Langsam fuhren sie Richtung Stadt zurück.

„Fast halb acht. Deine Familie hat sicher schon Sehnsucht nach dir!“ sagte Thea, und versuchte, das geräuschvolle Schlecken aus dem Fond zu ignorieren. Es hörte für ein paar Sekunden auf, und Thea sah im Rückspiegel, wie sich ein Schatten über das Gesicht des Mädchens legte.

Sie schüttelte leicht den Kopf. „Ach, komm schon! Deine Mutter weiß doch sowieso schon Bescheid über die Fünf. Und dein Vater sicher auch. So schlimm sind sie doch gar nicht. Du tust ja gerade so, als ob du regelmäßig verprügelt würdest, wenn mal was in der Schule nicht klappt!“

Anna kicherte bei der Vorstellung, dann seufzte sie tief. „Aber ich ärgere mich doch so!“

„Ein guter Anfang! Lern' was draus! Doris hat doch gesagt, du musst noch üben!“

„Na ja, aber …“ Dann, mit neuem Interesse: „Hast du auch schon mal einen Fünfer gehabt?“

„Na klar.“

„Und wo?“

Thea grinste. „In Mathe. Aber“, fügte sie streng hinzu, „nicht in der Fünften! Erst in der Neunten!“

„Und das ist besser?“

„Na ja … Also ...“

„Was ist denn daran besser?“ Die Geräusche schienen lauter zu werden.

„Kannst du das bitte etwas leiser schlecken?“

„Bin sowieso fast fertig. Also? – Warum ist ein Fünfer in der Neunten besser als in der Fünften?“

„Das ist natürlich nicht besser, nur ... – Ach was, lassen wir das!“

„Aber du hast gesagt ...“

Thea fühlte fixierende Blicke im Nacken. Sie würde nicht davon kommen.

„Na ja, weil – weil … Ich dachte nur, vielleicht – dass man sich nicht so früh dran gewöhnt!“

„Aber wenn man später die Fünfen kriegt, dann hat man doch weniger Zeit, sie wieder wegzukriegen!“

Es war Zeit zu kapitulieren.


Das Haus der Tischmanns stand im besseren Viertel von Niederrad in der Nähe des Stadtwaldes. Zwei Beamtengehälter müsste man haben, dachte Thea wieder einmal, als sie den Wagen abstellte und mit Anna auf das große Haus zuging. Und keine Sorgen wegen der Rente.

Sie klingelte an der Pforte, und noch bevor Doris die Haustür ganz aufmachen konnte, quetschte sich ein schwarz-braun-weißes Etwas zwischen ihr und der Tür hindurch und rannte auf Thea und Anna zu. Thea wich geschickt aus – mit fast 50 Kilogramm Hund war ein Zusammenstoß möglichst zu vermeiden. Anna hingegen warf sich Tessy entgegen und wunderbarerweise landeten beide sanft im Vorgartenrasen.

„Wir haben Eis gegessen. Und Pizza. Und waren im Taunus!“ rief Anna, atemlos mit Tessy ins Haus stürmend, ihrem Bruder Danny zu, der gerade am Telefon hing und versuchte, seine kleine Schwester abzuwimmeln. Er feierte demnächst seinen fünfzehnten Geburtstag, und da dieses Ereignis akribischer Vorbereitung und minutiöser Planung bedurfte, beschlagnahmte er bereits Tage vorher stundenlang den Anschluss.

Doris schaute ihrer Tochter nach und dann auf die Freundin. „Na, hast wohl die Dame schön belohnt für ihre Fünf, wie?“

„Frustrationsabbau!“ korrigierte Thea und betrat den Flur. „Sie hat sich am meisten über sich selber geärgert! Außerdem hatte ich keine Lust zu kochen. Und – sie hat alle Aufgaben nachgerechnet!“

Sie ging in die Küche, wo Otto gerade eine umfangreiche Platte mit Wurst und Käse zusammenstellte, und fischte nach einer Scheibe Schinken. Doris widmete sich der verhauenen Mathematikarbeit ihrer Tochter. Diese stand daneben und gestikulierte lebhaft, indem sie nachdrücklich auf die Ergebnisse ihrer Rechnerei vom Nachmittag verwies.

Otto schaute auf. „Hallo, Thea. Na, wie war das Goldstück? Hast du Hunger?“

„Nein, danke.“

Doris erschien an der Tür. „Komm setz' dich, wir essen.“

Thea schielte nach dem Emmentaler, ließ es aber dann sein. „Danke, ich gehe lieber nach Hause. Und macht’s nicht so dramatisch mit ihr.“ Sie nickte in Richtung Wohnzimmer.

„Na, hör mal, wer sind wir denn!“

„Tschüs, Kleine! Ciao, Danny!“ Anna kam angerannt, drückte Thea einen Kuss auf die Wange, während Daniel nur lässig vom Telefon herüberwinkte.

An der Tür drehte Thea sich noch einmal zu Doris um. „Sag mal, wann hast du eigentlich deine erste Fünf gehabt?“

„In der Sechsten. Im Diktat. Warum?“

„Ach, nur so.“



3

„Es geht um Leben und Tod!“

Mit diesen Worten wurde die Tür zu Robert Stengers Allerheiligstem aufgerissen, und er sah eine entschlossene Lizzy Hartmann in unziemlichem Gerangel mit einem abgerissenen, schmuddeligen Typen um den Eintritt in sein Büro kämpfen. Ärgerlich sprang er auf.

„Himmel, Herrgott ... Was soll denn das?!“

„Sorry, Robert. Der war schneller als ich.“ Lizzy versuchte mit hochrotem Kopf immer noch, den Mann hinter sich ins Vorzimmer zurückzuschieben und gleichzeitig die Tür mit ihrer nicht unbeträchtlichen Leibesfülle zu blockieren. Der Mann schob in Gegenrichtung.

Sie schob zurück.

Er hatte keine Chance.

Amüsiert beobachtete Robert Stenger das Schauspiel; sein Ärger war verflogen. Während er sich wieder setzte, winkte er seiner Assistentin zu. „Ist gut, Lizzy. Lass ihn rein.“

„Es geht um Leben und Tod!“ Der Mann stürmte geradezu auf den Besuchersessel zu.

„Ja, das sagten Sie bereits.“

Robert war es gewohnt, dass seine Klienten dramatisierten. Der da nun vor ihm saß, hatte sich beruhigt in dem Moment, in dem er seinen Willen durchgesetzt hatte. Ob er sich allerdings die Privatdetektei Robert Stenger leisten konnte, war zumindest fraglich. Stengers Dienstleistungen waren nicht billig, seine Klientel üblicherweise entsprechend wohlhabend.

Als hätte er Roberts Gedanken gelesen, zog der Besucher ein Bündel verdreckter Geldscheine aus seiner schmutzigen Jeans und knallte es auf den Schreibtisch.

„Reicht das erst mal?“

Seiner momentanen olfaktorischen Wahrnehmung zum Trotz war Robert schon immer der Meinung gewesen, dass Geld nicht stinkt. Deshalb griff er nach dem schmuddeligen Stapel und blätterte ihn rasch durch. Dreitausend Euro. Mindestens. Sie verschwanden in der Schreibtischschublade. Er zog Stift und Notizblock heran. „Okay. Ihr Name?“

Der Andere sah ihn an.

„Na? Was ist?“ Roberts Hand sank mit dem Stift auf den Block.

„Können wir das nicht auch ohne...?“ Der Mann schob sich mit fahrigen Händen seine Haare aus dem Gesicht.

Nachdenklich betrachtete Robert ihn. „Hören Sie, ich bin nicht Philip Marlowe. Das hier ist ein ganz normales Unternehmen mit normaler Finanzbuchhaltung. Ich muss Ihnen eine Quittung ausstellen, eine Rechnung schreiben, muss mit dem Finanzamt … Interessiert Sie nicht, oder?“

„Hans Meier.“

Na, ganz bestimmt, dachte er. Laut sagte er, während er sich im Sessel zurücklehnte und den Stift endgültig auf die Schreibtischplatte warf: „Also gut. Erzählen Sie, Herr – Meier.“

Der Mann beugte sich vor und verschränkte seine Arme auf der Schreibtischplatte, wobei ihm die Haare wieder ins Gesicht fielen. „Hören Sie! Sie ist wirklich in großer Gefahr! Sie müssen Sie finden und sofort etwas tun. Am besten verstecken, wo sie keiner findet.“

„Schön. Und von wem oder was reden wir gerade?“

„Sie übernehmen den Auftrag?“

Stenger zeigte auf die Schreibtischschublade. „Sie sind mein Klient. Kaffee?“ Er war schon aufgestanden, bevor der andere antworten konnte, und öffnete die Tür. „Lizzy, sei so nett und bring uns zwei Kaffee.“

Das Foto, das der Fremde inzwischen aus seiner Jeanstasche gefummelt hatte, war zerknittert und auch nicht mehr ganz sauber. Er legte es behutsam auf die Schreibtischplatte, warf noch einen Blick darauf und schob es dann Robert hinüber.

„Das ist Bianca von Hellgarten. Sie sollen sie finden und in Sicherheit bringen.“

Robert nahm das Bild und betrachtete es. Es zeigte eine lachende, etwa sechzigjährige Frau vor einer großen Villa. Im Hintergrund sah man einen riesigen, parkähnlichen Garten.

„Haben Sie in etwa eine Ahnung, wo sie sich aufhält?“

Kopfschütteln. „Im Rhein-Main-Gebiet. Mehr weiß ich nicht.“

Robert tippte auf das Foto. „Wo ist das aufgenommen?“

„Das ist alt. Das Haus und alles kann Ihnen nicht weiterhelfen.“

„In welchem Verhältnis stehen Sie zu ihr?“

Der Mann fixierte ihn stumm. „Das tut nichts zur Sache.“

Robert seufzte. „Und Sie meinen, sie ist wirklich in Gefahr?“

Der Andere nickte ernsthaft.

„Warum gehen Sie dann nicht zur Polizei?“

Verächtliches Schnauben. „Sicher. Die würden sich die Beine ausreißen, wenn jemand wie ich mit so einer Geschichte käme.“

Nachdenklich musterte Robert den Mann. Nichts an ihm schien in den letzten drei Wochen gewaschen worden zu sein. Weder seine Kleidung noch er selbst. Höchstens seine Hände und sein Gesicht waren mit Wasser in Berührung gekommen. Und trotzdem bekam Robert das Gefühl nicht los, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte.

Und der Fremde hatte natürlich Recht. Wegen ihm würde kein Polizist Überstunden machen.

„Auch mir haben Sie die Geschichte noch nicht erzählt.“

„Also. Bianca“ – er tippte auf das Foto – „kommt aus Essen, befindet sich jetzt aber hier in der Gegend. Wo, weiß ich nicht. Sie ist irgendwie lahmgelegt worden, ausgeschaltet, unschädlich – für die Anderen, meine ich. Ich weiß nicht, was sie mit ihr gemacht haben. Sie lebt, aber vielleicht nicht mehr lange.“

„Wer sind sie?“

„Wenn ich das wüsste, brauchte ich Sie nicht.“

Der Mann lehnte sich in seinem Besuchersessel zurück und verschränkte die Arme über der Brust, während er ohne nennenswerten Erfolg den Kopf zurückwarf – die fettigen Haare fielen sofort wieder ins Gesicht. „Mehr kann ich nicht sagen.“

Robert beugte sich in seinem Sessel vor und machte sich einige Notizen. „Das ist alles, was Sie haben? Wo um Himmels Willen soll ich denn da ansetzen?“

„Ihr Job, oder?“ Der Andere starrte ihn an.

Robert seufzte. „Und Sie wollen nur, dass ich sie finde?“

„Und in Sicherheiten bringen.“

„Wie finde ich Sie – ohne Namen, Adresse ...“

Der Mann stand auf. „Ich melde mich bei Ihnen.“

An der Tür hielt er inne und drehte sich um. „Danke“, sagte er.

In diesem Moment ging die Tür auf und Lizzy kam mit der Thermoskanne und zwei Kaffeebechern herein. Robert schloss die Augen, doch wunderbarerweise blieb ein Zusammenstoß dieses Mal aus.

Die Beiden hörten die Vordertür zuschlagen. Während Robert das Fenster öffnete, sagte er: „Bin gleich wieder da“, schnappte sich seine Jacke und eilte durchs Treppenhaus davon.


Der Mann, der sich Hans Meier nannte, trat auf die Lorscher Straße hinaus, die eindeutig nicht für den Nachmittags-Durchgangsverkehr gemacht war. Doch er nahm den Lärm nicht wahr, trottete weiter, überquerte die Nidda-Brücke und bog in den Brentanopark ein. Bald war er umgeben von alten Bäumen, lief auf gepflegten Wegen durch frisch gemähtes Grün. Der Verkehrslärm wurde leiser, dafür durchdrang das Rauschen des Rödelheimer Wehrs am Petrihaus die Luft, und das Wasser der Nidda stob seine Gischt in den Mainachmittag.

Er lief, die Hände in den Jackentaschen, mit gesenktem Kopf durch die Anlage, als sähe und hörte er nichts. Der Alte muss noch mal ran. Das Geld wird knapp, murmelte er lautlos vor sich hin. Aber wenn ich diesem Möchtegern-Matula nicht genug gegeben hätte, hätte der doch gar nicht erst angefangen. Sind doch alle gleich. Eine fast weiße Labradorhündin kam ihm freundlich entgegen und schnüffelte neugierig an seinen Beinen, bevor ihre Besitzerin sie scharf zurückpfiff. Er merkte es kaum. Scheint aber ganz okay zu sein, der Typ, dachte er.

Ebenso wenig hätte er Robert Stenger bemerkt, der kurz nach ihm aus dem Haus gegangen war, selbst wenn dieser in dem weitläufigen Park mit den vielen alten Bäumen ein weniger leichtes Spiel mit seiner Beschattung gehabt hätte. Sie umrundeten das Brentanobad, das in diesem Jahr ein paar Tage früher geöffnet hatte und in dem schon einige Unverzagte die Freibad-Saison eröffneten. Der warmen Luft zum Trotz war das Wasser im Becken noch kalt, die Schreie entsprechend spitz und schrill. Die Idylle währte nicht lange – sie näherten sich der Ludwig-Landmann-Straße. Der Fremde wartete, ließ den Verkehr vierspurig an sich vorbeirauschen, hechtete in eine Lücke hinein, blieb auf der Insel stehen und wiederholte den Vorgang auf der anderen Straßenhälfte. Vor der weißen Fassade der Russisch-Orthodoxen Kirche schließlich hockte er sich nieder, halb auf dem niedrigen Podest der Einzäunung, halb auf seinen Fersen sitzend. Er schien auf jemanden zu warten. Mit der gleichen todesverachtenden Entschlossenheit warf sich Robert auf die Straße. Doch überquerte er sie nur halb und blieb auf der Verkehrsinsel hinter einem Busch verborgen stehen.

Es dauerte etwa zwanzig Minuten, da hielt ein schwarzer Mercedes S 320 neben der Kirche. Für einen Augenblick wurde der so genannte Hans Meier von dem Fahrzeug verdeckt; doch als es mit quietschenden Reifen wieder anfuhr, war er vom Straßenrand verschwunden.

Robert Stenger sprintete zur Haltestelle gegenüber, in die gerade ein Bus einfuhr, und lächelte zufrieden. Er hatte das Kennzeichen.


Das Schöne an Lizzy war – unter anderem –, dass sie keine unnötigen Fragen stellte. Wahrscheinlich hauptsächlich deshalb, weil lange Jahre der Zusammenarbeit mit Robert sie gelehrt hatte, dass sie keine Antwort bekommen würde, wenn er es nicht wollte. Als sei Robert gar nicht weg gewesen, stellte sie ihm eine frische Tasse Kaffee auf seinen Schreibtisch und setzte sich in den Besuchersessel davor.

„Komischer Vogel.“

Sie schürfte. Der Kaffee war immer noch heiß. Robert wartete.

„Sieht aus, als hätte er sich verkleidet.“

Neuerliches Schlürfen. Suchender Blick. „Wo sind eigentlich … Ach – danke!“ Robert hatte eine Schachtel Kekse aus der Schublade gezaubert, noch ehe sie den Satz zu Ende bringen konnte. Er nahm seine Tasse und sagte immer noch nichts.

„Hattest du nicht auch das Gefühl, als ob da zwei Sachen nicht zusammengehören? Ich meine, das Äußere und das – das, wie soll ich sagen – das Gehabe. Auftreten. Die gebildete Sprache. Kein regionaler Akzent, gestochenes Hochdeutsch, gute Schule.“

Sie nahm noch einen Keks und spülte mit Kaffee nach.

„Weißt du, als ob sich ein feiner Pinkel als Penner verkleidet hätte, meinst du nicht?“

Robert grinste und griff nach den Keksen. Er konnte sich auf Lizzys Urteil verlassen. Zumal, wenn sie zum gleichen Schluss kam wie er.

„Und er weiß mehr, als er zugibt“, er zeigte auf die Schublade. „Hat bar bezahlt – also warum nicht. Morgen muss ich noch mal nach Bönstadt zu dem grundlos eifersüchtigen Ehemann mit der braven Frau. Abschlussbericht und hoffentlich auch Kohle cash. Danach mach ich mich gleich auf die Suche nach dieser Frau von Hellgarten.“

Volle Deckung

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