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Montag, 11. Mai

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„Wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit für eine Durchsage. Die Polizei bittet um Ihre Mithilfe. Seit heute in den frühen Morgenstunden wird Frau Bianca von Hellgarten aus Königstein vermisst. Frau von Hellgarten ist 65 Jahre alt, hat dunkelblondes, kurz geschnittenes Haar und trägt helle Hosen, einen dunklen Blazer und helle Schuhe. Frau von Hellgarten ist orientierungslos und braucht dringend ärztliche Hilfe. Hinweise bitte an die Polizei in Königstein oder an jede andere Polizeidienststelle.“

Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Robert Stenger zu lange auf das Autoradio gestarrt. Als er wieder auf die Fahrbahn schaute, war es zu spät. Seine Bremsen quietschten, und er hörte das abscheuliche Geräusch, das Metall verursacht, wenn es mit seinesgleichen in ungewollte, schlagartige Verbindung kommt. Er wurde ans Lenkrad geschleudert, der Sicherheitsgurt brannte auf seiner Brust, dann stand der Wagen. Für einen Moment war Stille. Nichts bewegte sich. Robert saß immer noch benommen hinter dem Steuer, als ein junger Mann, der Fahrer des weißen Golf vor ihm, bereits die Fahrertür geöffnet hatte und besorgt auf ihn einredete.

„Ist Ihnen was passiert?“

Robert sah in ein vorwiegend von Akne beherrschtes Gesicht, das ein schüchterner Kinnbart auch nicht mehr retten konnte, und in ein Paar erschrockene Augen. Vorsichtig versuchte er, den Gurt zu lösen und aus dem Auto zu steigen.

Der junge Mann half ihm. „Mann, ich glaube, wir haben irgendwie noch mal echt Glück gehabt, was?“ Er grinste schon wieder zaghaft.

„Es war wohl meine Schuld“, murmelte Robert, während er sich an die Fahrertür lehnte. „Am besten, wir tauschen unsere Adressen aus, um den Rest soll sich die Versicherung kümmern.“ Der Aufprall war – im Vergleich zu den fürchterlichen Phantasien, die ihm eben noch durch den Kopf geschossen waren – harmlos.

„Ja, also, ich weiß jetzt nicht.“ Der Jüngling kraulte gedankenverloren sein Kinn. „Ehrlich, ich weiß jetzt echt nicht – Sollen wir nicht lieber die Polizei irgendwie ...?“

„Ach was!“ Robert bewegte vorsichtig seinen Kopf hin und her und tastete seinen Brustkorb ab. Es tat noch weh, der Gurt hatte sich festgezurrt, doch es würde gehen. „Bis die da ist! Da können wir hier Stunden warten!“ Er sah sich um. Auf der Landstraße, die sich zwischen den Hügeln der Wetterau wand, war kein Auto zu sehen. „Und außerdem – ich bin aufgefahren; das sieht man ja wohl.“ Er zeigte auf die verbeulte Stoßstange des alten Golfs und begutachtete dann den Schaden an seinem Peugeot. Die Lampe vorne links war hin, ein Teil des Kotflügels war eingedellt. „Hier, ich schreibe Ihnen meine Kfz-Nummer auf die Karte. Und das ist meine Versicherung.“

Der junge Mann zögerte noch. „Ich denk halt nur, weil, unser Fahrlehrer hat immer gesagt ...“

„Nein, glauben Sie mir. Das ist schon in Ordnung. Und wenn Sie“, jetzt grinste Robert, „wenn Sie Angst haben, dass ich mich drücke: Ich habe Ihnen doch wunderbare Lackspuren von meinem Wagen auf Ihrer Stoßstange zurückgelassen!“

Das schien den anderen zu überzeugen. „Wissen Sie, es ist halt mein erster Unfall. Echt!“

„Na, das will ich echt hoffen! Noch nicht lange Führerschein, wie?“

„Nee – erst jetzt, noch kurz vorm Abi!“ Jetzt strahlte er, sein Bärtchen machte sich auf dem Kinn breit.

„Glückwunsch!“ Robert stieg wieder ein. „Und Entschuldigung für den Schrecken! Bis dann!“ Er winkte ihm noch einmal zu und fuhr vorsichtig an dem weißen Wagen vorbei.

Erst ein paar Kilometer später ging Robert auf, wie es zu dem Unfall gekommen war. Der Junge musste eben aus einer Seitenstraße in die B 275 eingebogen sein, aber zu langsam beschleunigt haben. Robert wiederum hatte das mit Sicherheit nicht das Tempolimit von 80 km/h eingehalten. Er schätzte, dass die Tachonadel eher in Richtung von 100 Stundenkilometern unterwegs war. Der weiße Golf war so plötzlich vor ihm aufgetaucht, als sei er vom Himmel gefallen. Die Vollbremsung steckte Robert immer noch in den Knochen. Und er war von der Radiomeldung völlig abgelenkt gewesen.

Die Radiomeldung ...

Nun, warum sollte er nicht auch mal Glück haben? Gestern der Auftrag – heute im Radio. Er grinste und wurde gleich wieder ernst. Zur Assoziationsreihe „verwirrt“ und „Königstein“ konnte einem nur die Klinik von Prof. Sandmann einfallen. Auf jeden Fall der beste Ansatz, um mit der Suche zu beginnen. Dass es nicht so einfach würde, war ihm klar. Aber immerhin, es war der erste Schritt, Bianca von Hellgarten zu finden.

Bianca von Hellgarten …

Riesige Flächen von Gelb, nur an einigen Stellen unterbrochen von kräftigem Grün, umsäumten die Landstraße. Robert ließ die Scheibe herunter, und während er den Duft der Rapsfelder um ihn herum in sich einsog, grübelte er vor sich hin.

Dieser Hans Meier hatte gestern gesagt, es gehe um Leben und Tod. Hatte er übertrieben? Merkwürdig war er gewesen, ja. Doch ein Wichtigtuer? Nein. Er sah nun nicht so aus, als würde das Geld in seinem Garten auf Bäumen wachsen.

Eher so, als ob er wirklich Angst um die Frau hätte.

Und nun war sie verschwunden.

Kurz entschlossen bremste Robert, wendete auf der Straße und hielt auf die A5 zu. In Rosbach, kurz vor der Auffahrt, hielt er am Straßenrand und rief die Auskunft an.


Das Sanatorium war ein Haus für bessere Kreise. Etwas anderes war auch nicht zu erwarten bei dieser Adresse. Wer hier seine Absonderlichkeiten pflegte, durfte kein Kassenpatient sein. Die Klinik lag etwa zehn Kilometer außerhalb von Königstein erhöht auf einem kleinen Hang, der in sanftem, anmutigem Gefälle erst in einen gepflegten Rasen, dann in eine über und über mit Blumen bestandene Wiese und schließlich in den nahen Wald überging. Rund um das prachtvolle weiße Haus war kunstvoll ein kleiner Park mit blühenden Sträuchern angelegt, der die ehrwürdigen alten Bäume harmonisch integrierte. Ein Bild der Ruhe und des Friedens.

Robert Stenger ließ den Wagen am Beginn der malerischen Auffahrt, die sich in leichten Biegungen weiter den Hügel hinauf schlängelte, langsam ausrollen und betrachtete nachdenklich die Idylle. Er wusste, dass dies hauptsächlich eine psychiatrische Klinik war, nur ein kleiner Teil des Anwesens war für eine exklusive Seniorenresidenz reserviert. Das noble Ambiente konnte leicht darüber hinweg täuschen, dass es durchaus nicht nur belanglose Macken waren, die gelangweilte Millionäre hier auskurierten. Die schweren Fälle waren diskret in einem gesonderten Flügel untergebracht, abgeschottet durch schalldichte Türen und lange Flure. Nur in ihren künstlich herbeigeführten ruhigen Zeiten sah man sie im Park in Rollstühlen sitzen, neben kräftig gebauten Pflegern vorsichtige Schritte tun, auf Parkbänken blicklos vor sich hin starren.

Kein Zaun, keine Mauer versperrte den Patienten den Ausgang aus dieser Abgeschiedenheit; beides war auch unnötig. Der Hügel bot einen weiten Blick über Rasen und Wiesen; jeder, der hier ankam oder wegging, war weithin sichtbar. Und die angrenzenden dichten, unwegsamen Wälder des Taunus bildeten den besten Zaun und die sicherste Mauer. Selbst ein Mensch, der seine fünf Sinne vollständig beisammen hatte, hätte sie kaum unbeschadet durchqueren können. Keiner hatte es auch je versucht.

Doch war es Bianca von Hellgarten gelungen, von hier spurlos zu verschwinden.

Robert selber hatte leise vor sich hin fluchend etliche Nebenstraßen und Feldwege ausprobiert, ehe er endlich die kleine, versteckte Abbiegung gefunden hatte, die zur Auffahrt führte. Nirgendwo war ein Hinweisschild auf die Klinik gewesen.

Uneingeschränkter Herrscher über knapp 80 ausgewählte Patienten, einen Stab von Fachärzten, Schwestern und Pflegern war Professor Dr. Dieter Sandmann, eine Kapazität mit internationalem Ruf, wie es hieß.

Das Hauptportal war noch kaum in Sicht, als Robert zwei Athleten der Sonderklasse im weißen Pflegerhabit vor die Tür treten sah. Er gab sich gar nicht erst der Illusion hin, dass sie zufällig in diesem Moment frische Luft schnappen wollten. Sie gingen langsam die Treppe hinunter und blieben, seine Ankunft aufmerksam verfolgend und die Arme über den muskulösen Oberkörpern verschränkt, auf der untersten Stufe stehen. Videokameras, dachte Robert. Sie mussten bereits unten im Wald installiert sein. Er hatte zwar davon gehört, dass die Klinik gut bewacht war, doch er hatte nicht mit Fort Knox gerechnet.

„Stenger. Guten Tag. Professor Sandmann erwartet mich“, sagte er forsch, nachdem er ausgestiegen war. Der eine Gorilla wandte sich ab und ging wortlos die Steinstufen hinauf, der andere blieb stumm stehen und ließ Robert nicht aus den Augen. Beide warteten. Robert versuchte, lässig zu erscheinen. Ihm war es zwar gelungen, die Sekretärin des Klinikleiters an den Apparat zu bekommen – allein das war schon schwierig genug – einen Termin mit ihrem Chef zu vereinbaren, war erwartungsgemäß unmöglich gewesen. Jetzt erwartete er auch nicht, den Professor sprechen zu können, doch hoffte er, in das Haus zu gelangen und mit der Sekretärin zu reden.

Der Pfleger kam zurück. „Der Herr Professor ist nicht im Hause.“

„Aber ich habe doch mit Frau Stein gesprochen.“ Das war nicht gelogen.

Der Pfleger, der mit ihm gewartet hatte, machte einen kleinen Schritt auf ihn zu und deutete mit dem Kopf auffordernd auf den Peugeot.

„Lassen Sie mich bitte mit Frau Stein sprechen!“

Jetzt trat auch der erste Pfleger vor. Seine Stimme war leise und drohend. „Verschwinden Sie, und zwar sofort!“

Seufzend stieg Robert wieder in den Wagen. Er fuhr um Springbrunnen herum und dann langsam wieder die Einfahrt hinunter. Im Rückspiegel sah er, wie einer der Wächter einen kleinen Block aus der Brusttasche zog und sich etwas notierte, während er Roberts Wagen nachsah.

Robert fuhr bis an den Waldweg zurück und versteckte den Wagen so gut es ging hinter einem Gebüsch. Fast wäre er dabei in den kleinen Graben gefahren, der den Waldweg säumte. Er sah auf die Uhr. Kurz nach halb zwei. Die Frühschicht müsste bald zu Ende sein. Vielleicht hatte er Glück.


Eine halbe Stunde später sah er einen kleinen knallroten Fiat 500 den Zugangsweg zur Auffahrt herunterrollen. Am Steuer saß eine etwas dreißigjährige blonde Frau in Schwesternkleidung, die drei Begleiterinnen, die das Gefährt fast zum Platzen brachten, waren ebenso gekleidet. Alle vier lachten gerade laut auf, als der Wagen langsam in den Waldweg einbog, wo Robert mit seinem Peugeot stand. Er wartete, bis sie außer Sichtweite waren – es gab ohnehin keinen anderen Weg zur Landstraße – und setzte sich dann hinter sie. An der Abzweigung sah er sie in Richtung Königstein abbiegen.

In der Nähe eines Eiscafés parkten sie. Als er sah, dass sie auf einen Tisch zusteuerten, stellte er seinen Wagen ebenfalls ab und suchte einen Platz in ihrer Nähe. Inzwischen hatte sich eine der vier als ein junger Mann mit längeren Haaren entpuppt, die zu einem kleinen Pferdeschwanz zusammen gebunden waren. Während Robert auf seinen Cappuccino wartete und angelegentlich die Parkanlage um ihn herum betrachtete, konnte er leicht jedes Wort verstehen, das am Nebentisch gesprochen wurde – zumindest das, was von dem Gelächter und Gekichere noch übrig blieb. Denn es war eine äußerst lustige Truppe. Die Frauen waren um die dreißig, der junge Mann gut zehn Jahre jünger und ganz offensichtlich Hahn im Korb. Sie waren ausgelassen wie eine Herde junger Lämmer und kindisch wie eine ganze Klasse Zwölfjähriger.

Vielleicht braucht man das in dem Job, dachte Robert.

Dann wurde ihm der Anlass für diese Heiterkeit klar. Die Rede war von ihrem obersten Boss, dem berühmten Professor Sandmann. Einem der Patienten, der sich für einen großen Künstler hielt, war es – keiner wusste bislang, wie – gelungen, in den Tagungsraum der Musterklinik, in der auch Seminare für ausgewähltes, oft internationales Fachpublikum stattfanden, einzudringen und seine Zeichnungen beträchtlich gepfefferten Inhalts mit den Unterlagen des Vortrags von Dr. Sandmann zu vertauschen. Er war der felsenfesten Meinung gewesen, seine Kunst gehöre an die Wand und müsse endlich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

„Und dann ...“ die blonde Frau, die den Wagen gefahren hatte, prustete vor Lachen, „stellt der Prof den Overheadprojektor an. Ist ja ein echter Profi, unser Prof, der greift normalerweise eine Folie nach der anderen, ohne groß darauf zu schauen, und legt sie auf.; er kennt seinen Vortrag in- und auswendig. Labert dabei weiter von den archetypischen Verhaltensmustern während auf der Leinwand die künstlerischen Ergüsse von unserem ‘Pablo’ erscheinen. Besonders das eine mit dem ... ihr wisst schon!“ Eine lautes Gekreische ging durch die Zuhörerinnen, eine hielt sich die Hand vor den lachenden Mund.

Die Blonde fuhr fort: „Das gelehrte Publikum wird zunehmend unruhig, einige lachen, andere sind empört. Endlich wirft der Prof auch mal einen Blick auf die Folien, die er da dauernd auflegt, dreht sich zur Leinwand um, sieht den Schlamassel, erstarrt – und ist derart aus dem Konzept gebracht, dass er die nächsten fünf Minuten keinen zusammenhängenden Satz mehr herausbringt. Knallrot soll er geworden sein. Die Stein war dabei und hat es mir erzählt!“

„Eine ungemein archetypische Verhaltensweise!“ Die Kleine mit der Ponyfrisur schien jemanden nachzuahmen.

Das Gelächter war nun weithin hörbar.

„Aber zeichnen kann er, der ‘Pablo’!“

„Oh ja, und so naturalistisch!“

„Keine abstrakte Kunst!“

„Im Gegenteil sehr realistisch!“

Die Mollige mit lustigen schwarzen Locken nahm ihre Brille ab und wischte sich die Lachtränen aus dem Gesicht, die Blonde beobachtete befriedigt die Resonanz auf ihre Geschichte, die anderen beiden kicherten, der junge Mann war ein wenig rot geworden. Robert beschloss den Frontalangriff. Er lachte lauthals mit, und die Gruppe drehten sich verwundert zu ihm hin.

„Verzeihen Sie bitte, aber ich habe das mitgehört und fand es lustig. Ihr Chef, wie?“

Sie waren in so guter Laune, dass sie die fremde Einmischung nicht als solche empfanden, sondern nur lachend nickten.

„Wenn ich mir vorstelle, dass mein Chef ...“ Er schnaubte wieder los, musste dabei seiner Heiterkeit etwas nachhelfen, doch es wirkte durchaus noch echt.

Eine halbe Stunde später war Robert um eine ganze Menge Anekdoten reicher. Die jungen Leute hatten zwar die nötige Diskretion walten lassen und keine Namen genannt, waren jedoch ansonsten mit Episoden aus dem Klinikleben nicht geizig gewesen. Die Geschichten blieben lustig, obwohl es die Sujets ganz und gar nicht waren. Aber je schwerer das Krankheitsbild eines Patienten, je fester er in seiner eigenen Realität eingesponnen ist, je mehr diese Realität mit der der ach so Normalen kollidierte, umso lächerlicher wirkt er auf diese.

Robert hatte sich erfolgreich geschlagen und ebenfalls einige Episoden zum Besten gegeben. Dann sah der Junge mit dem Pferdeschwanz – Benjamin Krause, der in der Klinik sein Freiwilliges Soziales Jahr leistete – auf die Uhr.

„Oh, schon halb vier. Ich muss. Die S-Bahn.“

Robert sah ebenfalls auf die Uhr. „Ja, ich auch.“ Er stand auf. „War nett mit Ihnen. Tschüss!“ Er winkte den anderen zu. Dann, als sei es ihm gerade eingefallen, wandte er sich noch einmal Benjamin zu: „ Wollen Sie nach Frankfurt?“

Der junge Mann nickte.

„Sie können mit mir fahren, wenn Sie wollen. Ich fahre bis Rödelheim.“

Benjamin zögerte nur kurz, dann nickte er wieder: „Danke, gern.“

Als sie in Rödelheim ankamen, hatte er, was er haben wollte: einen Namen. Der junge Mann war im Auto aufgetaut und einem Gespräch unter Männern offensichtlich mehr zugetan als den Frotzeleien und Scherzen seiner älteren Kolleginnen, die – wie Robert vermutete – es gewohnt waren, mit ihm Schabernack zu treiben und es riesig spaßig fanden, ihn befangen zu machen. Robert hatte erfahren, dass Bianca von Hellgarten so gut wie keinen Kontakt zur Außenwelt hatte, mit einer Ausnahme: Eine Frau hatte sie öfters besucht, mindestens zwei, drei Mal im Monat.

„Das nennen Sie öfters?“

„Ja, das ist relativ häufig. Die meisten Leute sind froh, wenn an Weihnachten oder Ostern an sie gedacht wird. Schließlich zahlen ihre Familien einen ganzen Haufen Geld, dafür wollen sie dann auch gefälligst das Problem vom Halse haben. Einmal war auch ein Mann da, aber der kam nicht mehr.“

Bianca von Hellgarten war nun seit fast zehn Stunden verschwunden. Die Radiomeldung war am Morgen gewesen. Benjamin spielte den Reporter vor Ort.

„Die Polizei hat das gesamte angrenzende Waldgebiet durchkämmt. Sie wollen dann später noch mal mit den Hunden kommen. Es ist ziemlich undurchdringlich, kaum Wege oder so. Es war richtig aufregend und auch schwierig, weil die anderen Patienten doch nichts mitkriegen sollten. Einige hätte das sehr aufgeregt. Die Bull… äh – die Polizei musst hinter das Haus fahren, an den Küchentrakt. Fast hätte es noch Krach gegeben mit dem Prof, Behinderung polizeilicher Ermittlungen oder so ‘nen Quatsch.“ Er schwieg nachdenklich. „Und den Hauptweg kann sie nicht runtergegangen sein, da stehen Kameras, und die Videos hat die Polizei alle durchgesehen. Nichts.“ Er zuckte die Schultern. „Hoffentlich wird sie gefunden. Sie ist – irgendwie so hilflos.“

Thea Dettner hieß die Frau, die Bianca von Hellgarten regelmäßig besuchte. Das wusste der FsJ‘ler aus dem Buch, das beim Empfang auslag und in das jeder Besucher eingetragen wurde.

„Sie ist immer sehr nett zu mir, bringt mir auch mal was mit, Taschenbücher oder Motorradzeitschriften. Dafür lass ich sie dann auch mal außerhalb der Besuchszeit rein, wenn Schwester Mathilde nichts merkt. Sie hat ein Geschäft oder so und kann deshalb nicht immer. – Frau Dettner, meine ich, nicht Schwester Mathilde.“


Als Robert Stenger an diesem Abend spät in seine Wohnung zurückkam, blieb er an der Tür zum Wohnraum wie festgenagelt stehen. Die Couch war weg. Die Essecke hatte den Platz gewechselt. Sein Lesesessel war verschwunden, tauchte aber wenig später am Fenster wieder auf.

„Frau von Hellgarten, um Gottes Willen ...!“

„Sieht doch gut aus, oder?“ Sie kam ihm strahlend aus der Küche entgegen.

„Was haben Sie denn gemacht?“ Entgeistert sah er sich in dem Zimmer um.

„Ich habe den ganzen Nachmittag gearbeitet!“

„Ja, das sehe ich.“ Mühsam rang er nach Fassung. „Wie haben Sie das bloß geschafft? Die Couch und ...“

„Na, ja, war nicht einfach.“ Sie kicherte wie ein kleines Mädchen.

Er dachte daran, was die Nachbarn unter ihm wohl gedacht haben mögen. „Sie sollten sich doch ruhig verhalten!“ sagte er streng. „Oder wollen Sie wieder zurück in die Klinik?“

Erschrocken legte sie die Hand auf den Mund. Ihr Kopf ging heftig hin und her, ihre Augen waren angstvoll aufgerissen. Leise kopfschüttelnd ging Robert sein Zuhause ab; der Raum hatte sich völlig verändert. Staub gewischt hatte sie offensichtlich nicht; das wäre nötig gewesen. Und aus der Küche drangen merkwürdige Gerüche.

„Sie kochen doch nicht etwa?“ fragte er misstrauisch.

„Doch!“ Sie strahlte schon wieder.

„Können Sie das denn?“

„Woher soll ich das wissen, ich hab’s doch noch nie versucht!“

Jetzt sah er, dass sie die Schürze umgebunden hatte, die er von Günther anlässlich seiner Scheidung zum Einstieg ins wieder gewonnene Single-Leben geschenkt bekommen hatte. Günther war sein ältester Freund, mit dem er schon die Schulbank gedrückt hatte. Die Schürze hing meist unbenutzt in einer Küchenecke am Haken und erinnerte stumm an Roberts Vorsätze, die Küche zu mehr als zum Kaffee- und Eierkochen zu benutzen.

Nun kam sie zu neuen Ehren. Bianca von Hellgarten spielte darin die Hausfrau, deren Mann nach des Tages Müh’ nach Hause kam.

„Was gibt es denn?“ fragte er matt, während er sich in den Sessel sinken ließ. Ohne zu hören, was sie aus der Küche antwortete, schaute er sich um. Der große Schreibtisch war das einzige Stück, das auf seinem Platz geblieben war. Gott sei Dank, sie hatte nichts daran angerührt. Nicht auszudenken, wenn sie hier ‘aufgeräumt’ hätte!

„Hab ich Ihnen nicht gesagt, dass ich vor meiner Heirat Innenarchitektin war?“ kam es aus der Küche.

„Nein, das haben Sie nicht.“ Mit neuem Interesse betrachtete er sein ungewohntes Ambiente. Der Sessel stand so tatsächlich besser; man hatte mehr Licht vom Fenster. Auch die kleine Essecke stand jetzt praktisch nahe zur Küche hin. Robert hatte damals mit Günther generalstabsmäßig den Umzug geplant – noch voll Euphorie ob der glimpflich abgelaufenen Scheidung von Nicole. Doch da bei Günther Meinhard – seines Zeichens Steuerberater – auch keine verborgenen Talente zum Inneneinrichter hervorgebrochen waren, war das Ergebnis eher pragmatisch denn ästhetisch ausgefallen. Der Sessel sollte vor dem Fernseher und möglichst nahe am Bücherregal stehen. Gleich daneben kam der Schreibtisch. Die Couch und der dazugehörende Tisch mussten notgedrungen in die andere Ecke verbannt werden; sie wurden ohnehin kaum benutzt. Das ganze hatte etwas provisorisch gewirkt, doch die letzten 15 Jahren gut überstanden. Jetzt schien alles auf seinem richtigen Platz zu stehen, der Raum strahlte eine fremdartige Harmonie aus.

Als er wenig später vor seinem Teller saß, war ihm zur Gewissheit geworden, was er seit gut dreißig Minuten geahnt hatte: dass sie nämlich eine glückliche Hand beim Einrichten von Wohnungen besaß, ganz sicher aber kein Naturtalent in Sachen Kochkunst war. Die so genannte Suppe, die sie ihm auf den Teller tat, war schlichtweg ungenießbar.

Während sie auf Pasta und Pizza warteten, die er telefonisch bestellt hatte, und sie die Küche wieder ‘in Ordnung’ brachte, wie sie es nannte, grübelte er nachdenklich vor sich hin. Es war nicht ungefährlich, was er sich da eingebrockt hatte.

Ein entscheidender Hinweis in der Erzählung des netten FsJ‘lers Benjamin war gewesen, dass die Polizei den Wald am nächsten Tag mit Hunden absuchen wollte. Nachdem er Benjamin am S-Bahnhof Rödelheim abgesetzt hatte, war Robert kurz entschlossen noch einmal zurückgefahren, weil ihm wieder etwas eingefallen war. Bei seiner Suche nach der Klinik am späten Vormittag war er unvermittelt auf eine Stelle im Wald gestoßen, die ihn hatte innehalten lassen, ja für einen Moment völlig gefangen genommen hatte: Eine kleine Lichtung, urplötzlich aus dem Dickicht aufgetaucht, leuchtete hell vor ihm im Sonnenlicht. Umgeben von hohen, schwarzen Fichten wirkte sie wie eine Kathedrale. Tiefe, andächtige Stille herrschte hier, als ob nicht einmal die Vögel es wagen würden, die Versunkenheit des Ortes zu stören.

Etliche Minuten hatte er nur dagestanden und die Atmosphäre dieses Fleckens in sich aufgenommen, bis er vorne, im Altarraum dieser Kathedrale, eine winzige Hütte wahrgenommen hatte. Er hätte seinen Beruf verfehlt, wenn er sie nicht untersucht hätte.

Und wirklich – dort hatte er Bianca von Hellgarten gefunden. Völlig verstört, verängstigt, wirres Zeug vor sich her brabbelnd von Polizei, Schwestern und von Pralinen.

Robert bewunderte die Energie dieser Frau. Sie war nicht in der Lage, Zusammenhängendes von sich zu geben – zumindest nichts, was er auch nur annähernd verstanden hätte – doch sie hatte ganz offensichtlich eine unglaubliche Entschlossenheit an den Tag gelegt, nicht gefunden zu werden. Und dabei folgerichtig und logisch gehandelt. Er war sicher, dass sie die Suchtrupps gesehen, sich versteckt und dann wieder in der Hütte Schutz gesucht hatte, nachdem diese durchsucht worden war. Wunderbarerweise hatte sie sofort Vertrauen zu ihm gehabt – vielleicht lag es daran, dass er weder einen weißen Kittel noch eine Uniform trug, vielleicht auch, weil er nur leise zu ihr gesagt hatte: „Kommen Sie, Bianca, wir gehen nach Hause“ – jedenfalls war sie ihm anstandslos, fast wie ein Kind, zum Wagen und später hinauf in die Wohnung gefolgt. Den ganzen Weg über hatte sie unverständlich vor sich hin geredet.

Und nun stand sie mit seiner Schürze in seiner Küche, vernichtete die Reste eines ungenießbaren Abendessens, hatte inzwischen seine Wohnung auf den Kopf gestellt und ihn in eine ausweglose Situation gebracht.

Natürlich hatte er das selber. Er hätte sich in der Klinik melden sollen oder bei der Polizei, doch abgesehen davon, dass sie ihm als Informantin viel zu wichtig gewesen war, hätte er es auch gar nicht fertig gebracht. Die Frau hatte eine panische Angst vor allem, was mit dem Sanatorium zusammenhing. Dieser verfluchte Auftrag! Den ganzen Tag hatte er mit Lizzy im Büro in Verbindung gestanden – doch es gab keine Spur von diesem Hans Meier, oder wie immer er wirklich heißen mochte. Nun hatte er diese Frau am Hals.

Und bis jetzt hatte er noch keine Informationen aus ihr herausgebracht, die ihm weiterhelfen konnten. Sie redetet zwar den ganzen Tag über – aber er konnte nichts damit anfangen. Es war von einem Jungen die Rede, von dem Sandmann, wieder von Schwestern und Süßigkeiten. Und von Thea.

Robert musste hier ansetzen. „Erzählen Sie mir von Thea“, sagte er aufs Geratewohl und hoffte, nicht wieder unter einem Wortschwall begraben zu werden.

„Thea?“ Ihre Augen leuchteten. „Oh, wie geht es ihr? Geht es ihr gut? Wissen Sie, sie war schon lange nicht mehr da. Oder doch? Wann war sie nur das letzte Mal da – ich kann mich nicht mehr erinnern. Haben ihr die Pralinen geschmeckt? Ich weiß doch, dass sie gerne Pralinen isst. Und wissen Sie, ich mach’ mir nicht viel daraus. Und Thea, ach, sie freut sich immer so. Ich glaube, der Junge hat sie mir geschenkt, aber ich bin mir nicht sicher. Wir bekommen oft am Sonntag etwas Süßes, wissen Sie, es ist ja auch ...“

„Warum sind Sie aus der Klinik weggelaufen, Frau von Hellgarten?“

Falsche Frage.

„Klinik? Wieso Klinik?“ Ihre Augen wurden wieder stumpf. „Ich bin doch jetzt zu Hause. Ich geh nicht wieder in die Klinik!“

„Nein, nein“, sagte er rasch und seufzte. „Sie können hier bleiben. Hier passiert Ihnen nichts. Kommen Sie“, er klopfte neben sich auf die Couch, „setzen Sie sich doch. Erzählen Sie mir von Thea“, wiederholte er.

Sie setzte sich neben ihn und begann einen neuen Wortschwall, aus dem Robert nun wenigstens erfuhr, wie er weiter verfahren konnte.


6

Die Hitze war noch immer unerträglich. Hauptkommissar Matthias Münch von der Kriminaldirektion Hochtaunus schielte auf das runde Thermometer an der Holzwand: 65° Celsius. Wieder wischte er mit seinem Taschentuch über Stirn, Kinn und Nacken. In dem engen Raum musste er gebückt stehen, und schließlich, um die Leiche richtig in Augenschein nehmen zu können, auf dem ebenfalls warm gewordenen Plattenfußboden knien. Zu allem Überfluss hielt einer der Beamten ihm von hinten eine starke Halogenlampe über die Schulter, sonst hätte er in dem Dämmerlicht der Kabine nicht viel erkennen können. Seine Hände unter den dünnen Gummihandschuhen waren klatschnass.

Es würde ihm auf ewig unbegreiflich bleiben, wie Menschen sich freiwillig in einen kleinen Holzkasten mit 70, 80 und mehr Grad Lufttemperatur begeben konnten, um nichts weiter zu tun als zu schwitzen.

Der da vor ihm lag – tot – war allerdings nicht freiwillig in der Hitze geblieben. Dr. Gerhard Zanker, 66 Jahre alt, etwas füllig, doch durchtrainiert, mit vollem, eisgrauen Haar, Chef eines Verlagshauses, das unter anderem die führende Frankfurter Neue Zeitung herausbrachte, und Brötchengeber von etwa 400 Arbeitern und Angestellten – Zanker lag nackt auf den Holzboden der Saunakabine seiner Oberurseler Villa. Der ganze Körper war immer noch unnatürlich gerötet.

Münch erhob sich und winkte dem Polizeiarzt zu. „Sie können ihn jetzt haben, Doktor.“ Tief einatmend trat er in den gekachelten Vorraum. „Wetten, dass ich weiß, was Sie mir morgen erzählen? Tod durch Herzversagen, Todeszeit noch nicht genau festzustellen, weil die Hitze – und so weiter, und so weiter.“ Er schnappte sich eines der Handtücher, die strahlend weiß und ordentlich auf dem Glasregal gestapelt waren, und versuchte, der Feuchtigkeit in seinem Nacken Herr zu werden.

Der Arzt beobachtete ihn missbilligend und nickte dann. „Wahrscheinlich werden Sie gewinnen, ich wette jedenfalls nicht dagegen. Doch vielleicht haben wir ja Glück und finden noch ein nettes Gift?“

Münch sah nachdenklich auf die dicke Holzlatte, die vor der Tür auf dem Boden lag, und schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Wozu der Umstand, wenn man nur dafür zu sorgen hat, dass er da nicht mehr raus kann?“

Er wandte sich an Maurer, seinen Assistenten: „Und nun zur Witwe, Ralf.“

Die Beamten gingen aus dem Souterrain der Treppe zu, die sich in die oberen Räumlichkeiten der großen Villa schwang. Überall waren Beamte der Spurensicherung dabei, Merkwürdigkeiten zu sammeln, die vor dem Tod des Hausherrn möglicherweise noch nicht da waren oder mit ihm im Zusammenhang stehen konnten. Ein mühseliges Unterfangen, weil keiner so recht wusste, wonach er eigentlich suchen sollte.

Münch schien die Hitze vergessen zu haben und sprang, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe zur Eingangshalle hinauf. Er wischte sich ein letztes Mal mit dem Tuch über das Gesicht und stellte irritiert fest, dass er immer noch das Handtuch aus der Sauna in der Hand hatte.

Als sie in die Wohnhalle traten, kam Dr. Waldmüller auf sie zu, der die Polizei verständigt und sie auch hereingelassen hatte. Er war etwa fünfzig, hatte bereits eine sehr hohe Stirn und trug einen Anorak mit Jogginghosen. Ohne ihn wären sie an den beiden großen Dobermännern, die auf dem Grundstück frei herumliefen, nicht vorbeigekommen.

„Sie sind der Hausarzt?“

„Ja, Frau Zanker hat mich gleich angerufen, aber es war leider schon zu spät.“ Er zuckte hilflos mit den Schultern.

„Wo ist sie? Wir müssen mit ihr reden.“

Der Arzt schüttelte den Kopf. „Sie ist jetzt nicht dazu in der Lage. Sie wird die Nacht durchschlafen nach der Spitze, die ich ihr gegeben habe. Besser, Sie kommen morgen früh wieder.“

„Haben Sie den Totenschein ausgestellt?“

„Ja, Frau Zanker rief mich etwa um Viertel nach neun an. Ich kam sofort.“

„Da waren Sie noch in der Praxis?“

Ein leichtes, fast mitleidiges Lächeln erschien auf dem Gesicht des Arztes.

„Nein. Natürlich nicht. Sie hat mich privat angerufen. Wir – also meine Familie und ich – wohnen in der Parallelstraße. Wir sind praktisch Nachbarn zu den Zankers.“

Auch nicht schlecht, dachte Münch. Scheint den praktischen Ärzten hier oben ganz gut zu gehen.

„Meine Praxis ist unten im Ort.“

Und nur für Privatpatienten, fügte Münch in Gedanken dazu. Er sah auf. Der Arzt stand wartend vor ihm. „Brauchen Sie mich noch?“

„Nein, danke. Möglicherweise brauche ich später noch einige Informationen über den allgemeinen Gesundheitszustand von Dr. Zanker. Er war doch Ihr Patient?“

„Ja, aber Sie wissen schon, dass die ärztliche Schweigepflicht auch über den Tod hinaus gilt.“

„Ja, klar, natürlich“, lächelte Münch ihn an. „Da werden wir uns sicher einig!“

Der Arzt blinzelte irritiert, dann wandte er sich fast brüsk ab, schnappte nach seinem Koffer und ging durch die Halle davon.

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