Читать книгу Schützenhilfe - Gabriel Anwander - Страница 5
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Als ich auf die Strasse trat, war die Dämmerung schon weit fortgeschritten. Der Himmel zeigte im Westen seine rote Scham vor der Nacht, die sich über die Stadt legte, als plante sie deren Entwürdigung. Der weisse, zerknitterte Alpenkamm verblasste in der Dunkelheit. Der Mond hing wie zum Hohn als dünne Sichel hoch über den Dächern.
Die Läden in den Gassen hatten geschlossen. Die Verkäuferinnen hatten die Kleiderständer mit der angeketteten Ware hereingezerrt, die Tafeln mit den Hinweisen auf Neuheiten oder Sonderangebote achtlos in die Eingänge gestellt, die Stereoanlagen aus- und die Alarmanlagen eingeschaltet. Sie hatten die Säcke mit den Abfällen des Tages zur Strassenecke geschleppt, dort in einen Container geschmissen und waren danach auf den Bus geeilt, der sie nach Bümpliz brachte, oder Ostermundigen. Die Schaufenster warfen ihr Licht auf das Pflaster und machten es so hart und kalt wie einen Gletscherboden, und die Spatzen und Tauben, die tagsüber flink und frech auf dem Gehsteig umherhüpften, hatten sich wer weiss wohin verzogen.
Ein junges Paar schlenderte vorbei. Sie wackelte mit ihrem Bauch- und Nierenspeck im Freien, bei ihm hingen die Gesässtaschen seiner Jeans im Kniebereich. Die Hände der beiden klebten aneinander fest. Sie waren auf der Suche nach einem unverschlossenen Hauseingang, wo nebst dem Knutschen ein wenig Fummeln möglich sein sollte.
Ein Lüftchen blätterte in einer Gratiszeitung, die im Rinnstein lag, und schubste eine leere Bierdose unter meinen Wagen.
Ich hatte mich längst entschieden.
Ich stieg ein, schaltete die Leselampe ein und schlug das Dossier auf. Drei Zeitungsausschnitte flatterten heraus, je einer aus dem «Bund», der «Berner Zeitung» und der «Neuen Zürcher Zeitung». Die Tat war gestern Abend geschehen, zu spät, um noch eigene Recherchen anzustellen. Der Artikel im «Bund» gab praktisch die Pressemitteilung der Polizei wieder. Diesen Artikel hatte ich gelesen, am Morgen in meinem Büro, die beiden anderen Artikel sparte ich mir auf.
Nebst den drei Zeitungsausschnitten gab es ein Foto mit Angaben zum Ermordeten, zu seiner Tätigkeit, seiner Frau und seinem Haus, und zuhinterst fand ich eine kurze Zusammenfassung zum Stand der Ermittlungen.
Ich betrachtete das Foto eingehend. Den Mann hatte ich ein Mal getroffen, da war ich mir sicher. Doch wo? Wann? In welchem Zusammenhang? Ich blätterte im Dossier, und nach der letzten Seite überkam mich das Gefühl, dass etwas fehlte. Das Dossier war nicht vollständig – das konnte es natürlich nie sein –, aber ich hatte das Gefühl, dass es dem Zeitpunkt entsprechend nicht vollständig war. Ich sass still und versuchte, das Gefühl ins Bewusstsein aufsteigen zu lassen: Wo hatte ich den Mann getroffen? Was fehlte im Dossier? Gab es einen Zusammenhang mit einem anderen Fall? Ich schweifte mit meinen Gedanken zurück, langsam, behutsam, rief Erinnerungen wach und liess sie wieder versinken. Ich blätterte im Dossier vor und zurück und forschte nach dem Hinweis, dem Auslöser, dem Grund, der mein Gefühl derart in Erregung versetzte. Ich versuchte, meiner Empfindungen Herr zu werden, um sie deuten zu können, doch dieses Gefühl blieb im Bauch haften, unbestimmbar und jenseits meines Willens.
Ein Gefühl verschliesst sich bekanntlich unserer Verfügungsgewalt besonders dann, wenn man den Anlass, die Ursache dazu bestimmen will. Es ist, wie wenn man eine Münze auf dem Grund eines Tümpels glänzen sieht. Sobald man danach greift, ist sie weg. Man sieht nur noch Schlamm, trübes Wasser.
Vielleicht ist es das, was uns zu armen Teufeln und für Streitereien so anfällig macht. Wie soll ich meinem Nächsten meinen Unmut begreiflich machen, wenn mir die Ursache selbst nicht klar ist? Wie soll ich den Aufruhr meines Nächsten verstehen, wenn er zwar den Auslöser, aber die Ursache dazu nicht erklären kann? Und Gewalt, das weiss die ganze Menschheit, Gewalt löst keine Missverständnisse. Trotzdem wird ständig wettgerüstet und gestritten, gekämpft, geschossen, bombardiert – und gelitten.
Ich gab das Grübeln auf, zählte den Vorschuss – fünf neue Tausender – und steckte ihn ein.
Immerhin.
Als Nächstes wollte ich wissen, wo der Tatort lag. Am Stadtrand, an der Grenze zu Muri, stand im Dossier.
Ich fuhr hinaus, Richtung Muri, überquerte die Autobahn und fand die Strasse, eine Ringstrasse in einem Quartier mit Einfamilienhäusern. Ich fand die Adresse beim ersten Anlauf. Es war das letzte Haus in einer Sackgasse, die vor einem Maisfeld endete.
Ich lenkte meinen Wagen auf den Platz vor dem Betonunterstand, nahm das Dossier in die Hand und stieg aus. Der Unterstand bot Platz für mindestens zwei russische Panzer. In der einen Hälfte stand ein Mercedes, in der anderen Hälfte beleuchteten zwei Neonröhren einen Campingtisch und vier oder fünf Klappstühle, die verloren vor bunten Skiern, Reserve-Rädern, einem alten Bauernschrank und einem Regal platziert waren. Dann standen da noch Rasenmäher, Schubkarre und allerlei Gartenwerkzeuge herum.
Zwei Polizisten, eine Frau und ein Mann, beide in Uniform, sassen am Tischchen, er rauchte, sie las Zeitung. Ich trat an den Tisch und sagte: «Guten Abend allerseits.»
Der Mann drückte seine Zigarette aus und stemmte sich hoch; die Frau blieb sitzen und lächelte ein freundliches «Guten Abend».
Für ihn war ich ein Störfall, für sie ein Erlöser.
Sie hatte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der blonde Strang quoll hinten aus der blauen Mütze, als wäre er angeheftet, und die Haarspitzen streichelten ihren Nacken bei der kleinsten Kopfbewegung. Die Mütze sass eine Idee zu weit vorne auf dem Kopf, die Sonnenblende überschattete ihre Augen und ihren gesegneten Augenabstand.
«Das ist doch das Haus, oder?»
Sie taten, als müsste ich ihnen helfen. Er stierte auf meine Brust und sie hob ihren Kopf, sodass ich ihre dunklen Augenbrauen und ihre tiefschwarzen Augen sehen konnte. Sie senkte danach ihren Blick, sah ebenfalls auf meine Brust und fragte: «Welches Haus denn!?»
Er schob seine Mütze auf den Hinterkopf, als spielte er den Nachtwächter in einer Operette von Richard Strauss, und machte ein Gesicht, als hätte ich ihn bei einem Schwur unterbrochen; er blickte auf den Pferdeschwanz, dann wieder zu mir, murmelte etwas und verschränkte seine kurzen Arme über dem mächtigen Bauch.
«Das Haus von diesem Anwalt, wie hiess er noch?», ich suchte den Namen auf dem Deckel des Dossiers und sagte: «Schild.»
Keine Reaktion.
«Also gut, ich schau am Briefkasten nach …»
«Das ist das Haus», tönte es vom Mann her. Er liess die Arme sinken.
«Und was wollen Sie in dem Haus?», fragte die Frau, setzte ein pflichtgetreues Gesicht auf und sah zu ihrem Kollegen auf.
«Es muss um diese Uhrzeit passiert sein», sagte ich und war versucht, nur noch mit ihr zu sprechen, «ich will sehen, wie das ist mit dem Licht, den Schatten, der Umgebung, den Geräuschen; ich muss wissen, warum er den Täter nicht rechtzeitig bemerkt hat. Warum ist er nicht ins Haus geflüchtet?»
«Kantonspolizei?», fragte sie, und von ihm hörte ich wieder fast gleichzeitig: «Fahnder, was?»
Ich machte eine Bewegung mit dem Kopf, die beide als ein Nicken auffassten, und redete mir ein, nicht eigentlich gelogen zu haben. Die Leute von der Stadtpolizei hatten seit jeher eine falsche Vorstellung und zu grossen Respekt vor den Kollegen der Kantonspolizei.
«Hätten Sie gleich sagen können», meinte sie, schloss die Zeitung – es war der «Blick» –, legte sie zur Seite, griff nach dem Logbuch, schlug es auf, strich mit ihrer schlanken Hand übers Papier, suchte zwischen Aschenbecher, Zigarettenpackungen, Trinkbecher, Thermosflasche, Mobiltelefon und dem «Blick» umständlich den Kugelschreiber und fragte nebenbei nach meinem Namen.
Meine Augen waren ihrer Hand gefolgt und an der Titelseite des «Blicks» hängengeblieben. «Auftragsmord?», stand dort in dicken Buchstaben. Jetzt wusste ich, was im Dossier fehlte: der Artikel aus dem «Blick»! Die anderen Zeitungen berichteten oder zitierten, die Redaktion des «Blicks» hingegen trieb ihre Journalisten zu mehr an, und diese kannten keine Skrupel, stellten Mutmassungen an, prophezeiten, tadelten, verurteilten im Voraus und gingen in ihren Beiträgen regelmässig einen Schritt zu weit. Nicht selten lag der «Blick» falsch mit seinen Annahmen und sah sich mit einer Verleumdungsklage konfrontiert. Was seine Leserinnen und Leser keineswegs abschreckte, im Gegenteil, Sensationslüsternheit ist die Schwester der Schadenfreude, und beide hausen bekanntlich in jedem von uns.
Hie und da half der «Blick» mit seinem professionellen Gespür und seinem weiten Netz von Informanten, einen Skandal aufzudecken, und manchmal, selten zwar, trug er dazu bei, die Ermittlungen in eine bestimmte Richtung zu lenken und ein Verbrechen aufzuklären.
Sie hatte den Kugelschreiber gefunden, blickte auf die Uhr, trug die Uhrzeit ein und wiederholte ihre Frage, diesmal mit dem leichten Unterton der Ungeduld.
Mir gefiel ihre Stimme, sie klang ausgeruht und sinnlich.
«Bergmann», sagte ich, «Alexander Bergmann, und wie heissen Sie?»
Sie trug meinen Namen ein und fragte: «Wie lange werden Sie drin bleiben?»
Ich hob die Schultern: «Was weiss ich, zwanzig, dreissig Minuten? Jedenfalls nicht die ganze Nacht. Wann werden Sie denn abgelöst?»
Sie zeigte keine Reaktion auf meine Fragen, ihr Lächeln blieb, wie es war: versponnen. Sie schob ihrem Kollegen die Schlüssel zu, er grabschte sie sich vom Tisch, zog seinen Bauch ein, rückte seine Hose zurecht, liess den Bauch wieder dahin zurücksacken, wo er am hässlichsten wirkte, gab mir mit einem Wink zu verstehen, ihm zu folgen, und stapfte zum Gartentor.
Ich legte das Dossier in meinen Wagen, wühlte im Handschuhfach, fand meine Pistole und die Taschenlampe, steckte die Lampe ein und liess die Waffe, wo sie war. Als ich zu ihm trat, hielt er das Tor für mich auf und meinte: «Muss Ihnen wohl nicht sagen, dass Sie nichts anfassen, nichts verändern dürfen.»
Ich seufzte: «Ich weiss, die Spurensicherung ist noch nicht abgeschlossen», und quetschte mich an ihm vorbei.
Irgendein verdeckter Sensor schaltete eine Reihe von Laternen ein, die auf Kniehöhe den Steinplattenweg zum Haus erhellten.
Nach einigen Schritten wartete ich auf ihn und sah zu ihr zurück. Sie sass am Tisch, aufrecht, hellwach, die Augen beschattet, die rot gefärbten Lippen voll im Licht. Ich gebe zu, sie bot einen hinreissenden Anblick.
Er rasselte mit den Schlüsseln, als gälte es, Geister zu vertreiben, schritt voran und kämpfte sich die künstliche Anhöhe hinauf, mit pfeifendem Atem und ohne nach links oder rechts zu schauen. Ich folgte ihm zum Hauseingang und beobachtete die Umgebung. Auf der Strasse herrschte ein steriles Licht, das von den Sparbirnen der Strassenlaternen stammte.
Als ich zur Schule ging – und das ist zwanzig Jahre her –, brannten in unserem Dorf die Strassenlaternen hoch über der Strasse und verbreiteten ein warmes, heimeliges Licht zwischen den Häusern. Eines Winters, auf dem Heimweg von der Schule, es schneite dicke Flocken aus dem nächtlichen Vakuum, schleuderten zwei Kameraden und ich Schneebälle hinauf, abwechselnd, um die Wette. Zwei passten auf, der Dritte schoss. Mogeln war ausgeschlossen, die Glühbirne bestimmte den Sieger. Es trafen einige Bälle den Rand des Schirms, doch ich gewann. Bei meinem Wurf erlosch die Birne mit einem elektronischen Seufzer, der mir bis heute in den Ohren nachhallt.
Später wurde ich Polizist, trotz solcher Streiche, und nach sieben Jahren durfte ich den Dienst wieder quittieren.
In dieser Strasse befand sich die letzte Laterne auf der Höhe des vorletzten Hauses. Fledermäuse gaukelten lautlos hin und her und schnappten sich die verwirrten Falter. Das weisse Licht floss in den Garten, schuf hinter der Einfriedung, die das Grundstück zur Strasse hin abgrenzte, einen tiefschwarzen Schatten, tauchte den Rasen in ein fahles Grün und hob das Rot der Astern, das Gelb der letzten Rosen und das Grau der Granitplatten aus dem Halbdunkel hervor. Am Ende der Strasse bildete ein Maschendrahtzaun die Grenze zum Maisfeld. Die ausgewachsenen Pflanzen dahinter standen wie stumme, grüne Wächter, vom Licht gerade noch erreicht und vom Schatten der Drahtmaschen bis zur Hälfte hinauf gemustert.
Ich blieb stehen und lauschte. Von Osten her legte sich ein Rauschen, das von der Autobahn stammte, wie eine Firnis über alle feinen Geräusche der Nacht. Der Lärm war schwach, aber durchdringend und störte die an sich friedliche Stimmung.
Der Mann hatte die Beleuchtung im Flur angeknipst, hielt die Haustür auf und wartete geduldig. Als ich an ihm vorbei war, sagte er: «Ich schliesse nicht ab, melden Sie sich bei uns, wenn Sie fertig sind.»
«Wieso hat jemand mit so einem Garten keinen Hund?», wollte ich wissen.
«Soweit ich weiss», murmelte er, «hatten Schilds einen Hund. Einen Setter. Sie haben ihn vor ihren Ferien ins Tierheim gebracht. Da wird er wohl noch sein.»
Dann murmelte er noch etwas, das ich allerdings nicht verstand.
«Ach?», sagte ich, «da muss ich im Dossier was übersehen haben.»
Ich wollte mehr darüber erfahren, er aber hörte weg und schlug mir die Tür vor der Nase zu.