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Zwei

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Am nächsten Tag um halb neun brach einen Sonnenstrahl durch die tiefhängenden Wolken und reflektierte sich in den Tropfen, die an allen Zweigen und Zäunen hingen. Die Temperatur lag knapp über null Grad.

Solange es noch dunkel war, hatten die Gärtner, die ihren Dienst um sieben Uhr früh antraten, in der Werkstatt des Betriebshofes Kettensägen und Heckenscheren gereinigt, Spatenblätter eingeölt und alle bis zum Frühjahr weggeräumt. In ihrem kargen Aufenthaltsraum packten sie dann ihre Thermoskannen und Brote aus, lasen zum zweiten Frühstück BILD-Zeitung. Vom Typ her waren sie alle nicht sehr gesprächig.

Vierschrötig, mit muskulösen Händen, in grober Arbeitskleidung traten sie nun heraus. Heute würden sie die abgeblühten Oleanderbüsche, die in zentnerschweren Töpfen den Platz vor der Kapelle einrahmten, in ihr Winterlager verfrachten.

Alle rauchten, bevor sie sich die Arbeitshandschuhe überzogen, nur der Lehrling nicht. Er war auch schmächtiger als die anderen.

Den Dampf, der aus den Gräbern stieg, die von der Morgensonne überflutet wurden, sahen sie nicht. Auch nicht, wie drei Eichhörnchen einen Fichtenstamm umrundeten, als sei er die Achse eines Karussells. Immer höher schraubten sie sich hinauf, balancierten dann über schmaler werdende Äste, setzten zum Sprung an, um auf einer Birke zu landen, die vor einer Reihe Doppelgräber stand.

Die Frauen auf den schwarzglänzenden Grabsteinen hießen Martha, Hermine und Erna. Die Männer Theodor, Ludwig und Karl. Sie waren alle um achtzehnhundertsiebzig verblichen, hatten nur wenige Straßen voneinander entfernt in Hinterhof-Wohnungen gelebt. Die meisten von ihnen kannten einander nicht.

Theodor betrieb einen Kohlenhandel, Ludwig war Schuster gewesen und Karl Seilmacher. Dass Theodor in seinen Dreißigern bei einer Brikett-Anlieferung Karls Gattin Erna kennengelernt hatte, was zu einer mehrjährigen Liebelei führte, aus der auch ein Kind hervorgegangen war, hatten die beiden Fremdgänger ihr Leben lang für sich behalten. Dieses Mädchen war im Aussehen glücklicherweise ganz nach der Mutter gekommen, wurde deren Gatten als Kuckuckskind untergeschoben und verschwand im Alter von sechs Jahren spurlos. Nur der Schuster Ludwig und ich wissen, was mit ihr geschehen ist. Dessen Frau Martha hat von seiner Neigung nie etwas mitbekommen.

Nun ruhten sie alle nur wenige Meter auseinander, immer links der Mann und rechts die Frau. Im kommenden Frühjahr würde dieser Abschnitt eingeebnet werden, denn die Platznot auf meinem Gelände ist groß, auch wenn der Trend zu Urnenbestattungen geht und zu anonymen Sammelgräbern.

Gärtner pflegen einen groben Umgang miteinander. Als sie einander anwiesen, wie die schweren Oleandertöpfe zu halten waren, hallten ihre Rufe weit über meine Flächen.

„Pack zu, Mann!“

„Quatsch nicht rum!“

„Uuuund Hauruck!“

Wenn sie rauchen und aus ihren Sprudelflaschen trinken wollten, zogen sie die Arbeitshandschuhe aus und deponierten sie auf dem nächst erreichbaren Grabstein. Trotz eindringlicher Ermahnungen war es dem Vorarbeiter Wolle nicht gelungen, den Gärtnern das achtlose Kippen-Wegwerfen und Auf-den-Boden-Rotzen abzugewöhnen.

Sonst blieb es den Vormittag über still. Nur die Sonne spiegelte sich in meinen Pfützen, bis sich das Loch in den Wolken wieder schloss, und ein leichter, sehr kalter Sprühregen einsetzte, der zum Schneeregen hintendierte, was die Gärtner nicht dazu veranlasste, ihre Arbeit zu unterbrechen. Zu Mittag zogen sie sich in ihren Aufenthaltsraum zurück, der von einer glühenden Nachtspeicherheizung gewärmt wurde.

Als die Glocke einer nahe gelegenen Kirche eins schlug, und sie wieder an die Arbeit gingen, trat ein Mann durch das Nordtor, und ich erkannte ihn sofort. Sein Name war Eugen. Seit Jahren trieb er sich auf dem Friedhof herum, war jetzt aber ein halbes Jahr nicht aufgetaucht, so dass ich zu hoffen gewagt hatte, er sei für immer verschwunden.

Eugen war ein Mann um die Vierzig. Seine ehemals schmächtige Gestalt hatte er mithilfe jahrelangen Krafttrainings um das Doppelte aufgepumpt, bis hin zu einem Stiernacken. Nur sein kahl geschorener Kopf thronte jetzt viel zu klein auf seinem hart erkämpften Körper.

Dass er hier bei mir nie beabsichtigte, einen Toten zu besuchen, erkannte man an seinem Schlendergang. Dieser hatte nichts von der respektvollen Verhaltenheit, welche andere Menschen befällt, die selten einen Friedhof besuchen. Es war ein selbstgefälliger Schritt, der zur Schau tragen sollte, dass er innerlich vollkommen ruhig war. Gleichgültig, welches Wetter herrschte: Eugen trug immer helle, figurbetonte Sachen und stach somit auf meinem Gelände, auf dem sich Menschen überwiegend dunkel bis schwarz kleideten, besonders hervor.

Eugen war von Beruf Schmeißfliege, ein Gefühlsstaubsauger, und gefährlicher, als man auf den ersten Blick annehmen mochte. Er hatte es auf Trauernde abgesehen, die allein an einem Grab standen und sichtliche Anzeichen von Betroffenheit zeigten.

Seine Beute merkte nicht, wie er sie von fern umkreiste, unauffällig belauerte und zu analysieren versuchte. Schien es, als gerate der Trauernde zunehmend aus der Fassung, dann erst sprang Eugen hinter einem Grabstein hervor und hielt dem Untröstlichen mit gramvoller Mitleidensmiene und einer leichten Verbeugung ein Papiertaschentuch hin, das dieser meistens intuitiv ergriff.

Nach dieser ersten Kontaktaufnahme nahm Eugen sofort wieder Abstand, entfernte sich, verschwand hinter einem ausladenden Obelisken, wartete, beobachtete. Erst, wenn der tief Betrübte Anzeichen machte, sich vom Grab zu lösen, sich umdrehte und gesenkten Kopfes ging, kreuzte er wieder wie zufällig seinen Weg, lächelte diesmal schmerzlich und sagte etwas Ähnliches wie: „Es ist schwer.“ Oder: „Die ganze Trauer.“

Dazu brauchte der Hinterbliebene nur zu nicken, denn er musste ja annehmen, dass sein Gegenüber ein Trauernder war, der ein Grab besucht hatte wie er selbst. Schon war er in ein Gespräch verstrickt.

Nur wenige Menschen erkannten Eugens Absichten sofort. Es waren Leute mit glasklaren Augen, die das Dringliche spürten, das Eugen gegen seinen Willen aussendete. Diese Personen sagten streng: „Gehen Sie bitte!“, und dann fuhr Eugens kleiner, kahler Kopf zwischen seine Muskelschultern. Er machte einen Schritt zurück und ging ganz leise fort.

Die meisten jedoch ließen sich auf das Gespräch ein, schon weil sie noch immer das freundlich überreichte Papiertaschentuch des fremden Herrn in ihren Händen wanden. Möglicherweise hatte Eugen auf meinem Grund und Boden auch deshalb leichtes Spiel, weil es im öffentlichen Raum einer Stadt kaum Orte gibt, an denen Gefühle so angebracht, so respektiert und hoch bewertet werden, höher vielleicht als die Vernunft.

Meine Anlagen sind weitläufig genug, dass er den Gärtnern und Angestellten aus dem Weg gehen konnte. Nie sah er sich nie nach ihnen um, geschweige denn, dass er sie grüßte. Er nahm wohl an, dass ihn das selbst unsichtbar machen würde.

Das war mitnichten der Fall. Die Gärtner kannten Eugen besser, als er glaubte. Als sie seine helle Gestalt hinter einer Taxus-Reihe verschwinden sahen, knurrte der eine dem anderen zu: „Der Tränensack ist wieder da.“

Ähnlich reagierten die Witwen, die mindestens einmal die Woche erschienen. Sie weinten schon lange nicht mehr um ihre Ehemänner, sondern sahen sich in der praktischen Pflicht, deren Andenken in Ehren zu halten und deren letzte Liegestätten zu pflegen. Manchmal, wenn Eugen zu nah an einer dieser gebeugten Frauen vorbeiging, welche Haarnetze oder Kopftücher trugen, spuckten sie hinter ihm auf den Weg, dies aber leise. Friedhofsgeier, dachten sie dabei.

Aber es kamen ja immer neue, die von all dem nichts wussten, und das galt auch für die Dame, die tatsächlich eine halbe Stunde später auftauchte, ihr Schal war um Kopf und Hals gewickelt. Zielsicher fand sie nun ihren Zickzackweg in die Ecke mit Stefan Triesels Grab, blieb am Fußende stehen, strich sich eine Lockensträhne aus dem Gesicht und begann übergangslos zu weinen, so dass sogar ich erschrak, der Millionen Tränen gesehen hat und noch sehen wird.

Während sie da stand, eine schmale, biegsame Gestalt, schlich Eugen sich an. Ich habe viele Büsche und Mauern, hinter denen er sich verbergen kann. Jetzt trat er von der Seite in ihr Blickfeld, trug seine todernste Miene zur Schau, reichte der Dame, die einen erschrockenen Schritt zurückgemacht hatte, das Papiertuch. Sie fasste automatisch danach, weil sie von dem plötzlichen Erscheinen des Mannes verwirrt war, und sah zu, wie er sich entfernte, ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen.

Die Dame beruhigte sich wieder, wandte sich dem Grab zu, blieb noch minutenlang stehen, konnte aber nicht mehr weinen, tupfte sich mit dem Papiertuch das Gesicht ab und ging, diesmal nicht zielstrebig, sondern langsam, über den knirschenden Kiesweg fort in Richtung Osttor.

An einer Wegkreuzung kam ihr Eugen entgegen, er übersah die Dame offensichtlich, doch das änderte sich sofort, als sie einen Seitenblick auf ihn warf. Er fing diesen auf, lächelte mit einem wehen Zug um die Lippen.

„Es ist bitter!“, sagte er mit einer erstaunlich hohen Stimme und schaute so gütig wie zehn Plastik-Madonnen, als er sich in die gleiche Richtung wandte, in die auch sie wollte.

Das konnte ihm die Dame schwerlich verwehren, die das feuchte Papiertuch zerknüllt und in die Manteltasche geschoben hatte. So gingen sie fast automatisch Seite an Seite und glichen ihre Schrittgeschwindigkeit einander an. Eugen schwieg, schaute vor sich auf den Weg. Er war nicht größer als die Dame. Doch sein Ohr neigte sich zu ihr hin wie ein Beichtvater, der willig ist, sich alles anzuhören, die ganze Wahrheit, und der alles verträgt und verzeiht.

„Ja, es ist schwer“, antwortete die Dame nach einigen Schritten und atmete dabei aus. Sie war zu gut erzogen, um vor fremden Leuten zu seufzen.

Eugen war schlau genug, darauf nicht zu antworten. Er hatte, das muss ich ihm lassen, ein sensationelles Gespür für Pausen, in denen von selbst ein Bild entstand, das er nicht behaupten musste, nämlich, dass seine ausgeprägte Schulterpartie eine unverwüstliche, warm pochende Klagemauer war, an die man sich lehnen konnte, wenn die Knie schwach wurden. Und seine helle Kleidung ließ ihn erscheinen wie einen Sandsteinengel.

Die Dame hatte das Osttor bereits im Blick, es war noch einige Hundert Meter entfernt. Weil die Pause so lang wurde, und sie höflich war, fragte sie vorsichtig: „Bei Ihnen sicher auch?“

Eugen warf den Kopf zur Seite. „Nicht soo sehr. Ist schon zu lange her. Komme nur noch selten.“

Die Säume seiner hellen Hose waren dreckig braun, weil er über zwei Gräber gesprungen und dabei bis zum Knöchel in feuchtem Laub versunken war. Er war sehr interessiert an der Dame und hatte alle Tentakel nach ihr ausgestreckt, um sie unsichtbar abzutasten. Mit Ekel fühlte ich seine federnden Sohlen auf meinem weichen Boden. Doch obwohl das Tor nahte, an dem sich ihre Wege trennen würden, forcierte er weiter nichts, sondern schwieg einfach.

Nach langem Zögern sagte die Dame schließlich: „Es ist über dreißig Jahre her. Ich war nie hier. Damals konnte ich nicht.“

Sie senkte den Kopf, schaute dann aber wieder geradeaus, an Eugen vorbei.

Beinahe trotzig fügte sie hinzu: „Ist nicht wichtig. Ich danke Ihnen jedenfalls für das Taschentuch.“

Eugen spürte vielleicht früher als die Dame selber, dass sie ihn loswerden wollte. Sie sah ihn nicht mehr direkt an. Gleich würde sie ihre Schritte beschleunigen. Doch er war gewiefter als sie, hatte ein Arsenal an Strategien parat, alle mehrfach an verschiedensten Personen getestet.

Das Osttor war noch hundert Meter weit weg, der Weg wurde breiter, denn hier fuhren auch die Leichenwagen entlang.

In seinem sanftesten Ton sprach Eugen zu der Dame: „Das klingt nach einer Geschichte. Wollen Sie sie erzählen?“

Die Dame ging weiter. „Ich kann doch nicht…“

Jetzt musste er nur noch zubeißen. Für eine Millisekunde legte er seine Hand auf ihren Arm, nahm dann augenblicklich wieder Abstand.

„Haben Sie ein wenig Zeit? Wir könnten noch eine Runde über den Friedhof drehen. Lassen Sie alles, was Sie belastet, auf diesem Gelände.“

Früher hatte er bei ähnlichen Vorschlägen zu arg nach Schlangenbeschwörer geklungen und damit einige Trauernde misstrauisch gemacht und verjagt. Heute konnte er seine Intensität besser dosieren, sprach zurückhaltender, mit weniger Druck.

Mich ärgerte am meisten, dass er den Anschein erweckte, über mich verfügen zu können, und dass er mir Wirkungen zuschrieb, die ich nicht hatte. Ich bin nichts als eine Totenstätte, und alles, was Menschen sonst aus mir machen, entspringt ihren eigenen Köpfen.

Die Dame würde sicher erfahren, dass er ein Autor war, der seit zehn Jahren am gleichen Roman arbeitete, dann das erzählte er all seinen Opfern. Als Hintergrund für seine vielschichtig angelegte Geschichte diene eine historisch belegte Schlacht um eine Burg, behauptete er. Er habe den Anfang zwanzigmal umgeschrieben, verfüge über Hunderte Seiten Material, das es nur noch zusammenzufügen gelte. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Teilzeit-Nachtwächter auf einem öden Firmengelände.

Eugen war nicht sehr erfinderisch in seiner Selbsttäuschung. Oft hatte ich seine Schriftsteller-Qualen-Geschichte mitangehört, wenn er einen Trauernden beschwatzte, ihm seine Gefühle anzuvertrauen - er änderte nie ein Wort. Daraus schloss ich, dass er mit seinem Roman keinerlei Fortschritt erzielte.

Um zu überleben, bis der Erfolg sich einstellte, müsse er äußerste Härte gegen sich selbst üben und den Text so lange bewegen, bis jeder Satz sicher an der richtigen Stelle saß, behauptete er regelmäßig. Alles sei schon in seinem Kopf, wenn auch ungeordnet. Und dieses Entsagungsvolle, das er dann ausstrahlte, führte dazu, dass die durch ihre schwere Trauer aus der Balance geratenen Beutestücke ihm glaubten, denn sie dachten, ein Autor sei in die Nähe eines Arztes zu rücken, weil auch er mit Röntgenaugen schaue.

Nun stand Eugen mit der Dame auf dem Platz vor dem Osttor. Die Sonne tat ihm einen Gefallen, denn mit einem Mal hellte sich die düstere Mittagsstimmung auf, ein Riss ging durch die tiefen Wolken, so dass sogar drei Gärtner blinzelten, die gerade im Schritttempo auf einem rumpelnden Wagen vorbeirollten, auf dessen Ladefläche vier der Oleandertöpfe gefährlich schwankten.

Da der Wagen hinter dem Rücken der Dame vorbeifuhr, merkte sie nicht, wie die bösen Blicke der Gärtner Eugen durchlöcherten. Dieser wiederum hatte nur Augen für seine gefangene Seele.

Der Friedhof

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