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Amoklauf

Ich bin ein durchschnittlicher Großstadtmensch. Einer, den Sie morgens in tausendfacher Ausführung in der S-Bahn, U-Bahn, in den Bussen sitzen sehen können. Morgens riecht die S-Bahn gut. Wir Fahrgäste sind frisch gewaschen, geschminkt, rasiert, fahren im Halbschlaf oder Zeitung lesend in die Nähe unserer Arbeitsplätze und legen den Rest zu Fuß zurück, eine Brötchentüte unter dem Arm. Mit einem Ruck stoßen wir die schweren Glastüren zu unseren Bürogebäuden auf, es sei denn, sie sausen von selbst auseinander. Wir residieren im ersten, zweiten oder dritten Stock und könnten die Etagen nicht auseinanderhalten, wären sie nicht nummeriert. Alles genau wie gestern: Weiße Wände mit Schrammen in Kniehöhe, das verquollene Gesicht des Kollegen, der sich in der Teeküche seinen ersten Magentee braut. Der kaputte Kopierer, der Staubschutz auf der Tastatur, die fünf Handgriffe: Computer einschalten, Fenster auf, Pflanze gießen, Schreibtischlampe ausrichten, Passwort eingeben. Es macht „Kling“. Da bin ich, und ich hasse es. Zumal ich mit einer Kollegin das Zimmer teile, die andere Vorstellungen von frischer Luft hat als ich.

Heute tat ich dann Folgendes: Ich schlug ihr den dämlichen Schädel ein, als sie mich darum bat, das Fenster wieder zu schließen. Dann schloss ich das Fenster, nahm meine Pflanze unter den Arm und verließ meinen Arbeitsplatz für immer. Wie dramatisch mein Abgang war, bemerkte niemand. Die Mitarbeiter in den anderen Büros drehten sich nicht um. Sie dachten wohl, ich hätte einen frühen Außentermin.

Erstaunlich, wie radikal man durch so einen Schritt aus seinen Verhältnissen katapultiert wird. Eben war es noch selbstverständlich, ein Bürger mit einer Zeitkarte für den öffentlichen Nahverkehr zu sein, der das Recht hat, sich an jedem Kiosk der Stadt eine Illustrierte für die Mittagspause zu kaufen. Nun ist nicht mehr sicher, ob der Polizist gegenüber vor dem Zeitschriftenladen steht, weil er alarmiert wurde. Aber den kann man ja abschütteln.

Er kann nicht ernstlich wissen, wer da im grauen Kostüm an ihm vorbeistöckelt. Die langjährigen Kollegen haben es ja nie geahnt. Noch jetzt, da sie ihren zweiten Kaffee trinken, werden sie von mir nur Gutes denken, so hilfsbereit wie ich bin, so zurückhaltend. Die letzte Weihnachtsfeier der Abteilung habe ich organisiert, und alle waren begeistert. Wer weiß, wie lange es dauert, bis jemand die Kollegin im Papierkorb findet.

Heute hatte ich Lust, Amok zu laufen. In meiner Handtasche trage ich eine Pistole, aber ich wollte sie nicht gleich im Büro benutzen. Ich habe Lust, die Stadt leer zu schießen. Die Munition dafür sammele ich schon lange. Meine Handtasche ist ziemlich schwer.

Der Polizist schaut sich PC-Hefte an, oder tut er nur so und observiert mich in der reflektierenden Scheibe? Er muss die Frage nicht beantworten, denn ich klemme die Pflanze unter den Ellenbogen, krame in meiner Handtasche, räume alle Zweifel aus, schieße ihm ins Genick. Er sackt weg, als hätte er einen Stromausfall. Hätte ich nicht gedacht.

Jetzt kreischen schon die ersten drüben an der Bushaltestelle und lassen ihre Supermarkt-Tüten fallen. Es scheint eine Familie zu sein. Ich habe etwas gegen Familien. Paff. Nun gibt es eine weniger. Ihr Blut mischt sich auf dem Asphalt sehr schön. In den Scheiben des Kioskes kann ich genau erkennen, wie fein ich lächele und wie seriös ich auf die Passanten wirke, die nun erstarren, während der Autoverkehr weiterrollt. Nur wenige sind so schlau, nicht mit offenem Mund stehenzubleiben. Die Zähne der anderen fliegen nur so durch die Gegend.

Ich steige eine S-Bahn-Treppe hinauf und verliere mich im Gewühl derer, die hinuntersteigen. Der Bahnsteig steht voller schlagender Herzen. Weit hinten kann man die Reichstagskuppel sehen, aber dann braust der Zug in mein Blickfeld, und ich zögere noch, ob ich mitfahren soll. Der Waggon ist voll und ich werde Mühe haben, alle Fahrgäste niederzumachen, bevor wir die Friedrichstraße erreichen. Ich steige trotzdem ein und als der Zug anruckt, fange ich sofort an. Zuerst die in meiner Nähe, sie kippen um, und so erwische ich auch die ganz hinten. Kann sein, dass jemand gewimmert hat, es ist mir entgangen. Jedenfalls rührt sich zwei Minuten später nichts mehr. Die Pistole, die ich besitze, ist keine Kleinigkeit. Blut läuft an den zerkratzten Scheiben herunter und bildet seltsame Muster. Schade, dass ich keinen Fotoapparat dabeihabe. Friedrichstraße steige ich aus. Auf meinem rechten Pump ist ein roter Spritzer, aber dafür habe ich jetzt keine Zeit. Ich will ein bisschen an der Spree spazieren.

Ich habe den ganzen Tag gearbeitet und nichts geschafft. Hin und wieder setzte ich sogar meine Büropflanze ab und schoss mit beiden Händen. Von der Kanalbrücke herunter auf das Sightseeing-Schiff und auf dem Gendarmenmarkt einfach im Kreis. Verschiedene Hunde liefen herrenlos herum, manche schleiften ihre Leinen hinter sich her. Einen Augenblick meinte ich, sie würden sich zu einem Rudel formen, mir folgen, aber dann wollte nur ein Pinscher an mir hochspringen. Er flog im hohen Bogen über die Leichen, von denen wahrscheinlich mehr als die Hälfte Touristen waren, wie auch im Hiltonhotel. Ich zog durch Seitenstraßen und kam rechtzeitig zum Schulschluss an einem Gymnasium vorbei, ich glaube, es war ein französisches, jedenfalls hörte ich mehrfach: „Mon Dieu“. Nun machen sie nie wieder Lärm.

Als ich nach Hause kam, brannten hinter allen Fenstern Lichter, und das bedeutete, dass ich erst einen Bruchteil der Einwohner erwischt hatte. Auf meinem Anrufbeantworter blinkte es hektisch. Sechzehn Nachrichten. Ich hörte sie nicht ab. Nach zwei Stunden Schlaf zog ich wieder los, mit frisch geföhnten Haaren. Den Spritzer auf dem Pump habe ich entfernt, die Pflanze gegossen und auf das Küchenfensterbrett gestellt. Im letzten Augenblick nahm ich sie dann doch mit, denn ich werde nicht wieder zurückkehren können. Über kurz oder lang wird man bei mir klingeln. Seit gestern stehen genug andere Wohnungen leer und einige davon haben bestimmt einen gefüllten Kühlschrank und ein frisch bezogenes Bett, weil die Putzfrau gerade da war.

Die Höflichkeit ist von mir abgefallen, nicht aber meine gerade Haltung. Ich sehe es in den Spiegeln eines Friseurgeschäftes in der Goltzstraße, das ich zu diesem Zweck betreten habe. Die Damen wenden sich alle nach mir um, wohl weil ich sehr laut grüße. Als ich sie der Reihe nach von ihren Frisuren erlöse, beobachte ich gleichzeitig, wie ich dabei aussehe. Nicht schlecht. Ich nehme ein Haarfärbemittel aus dem Regal.

Die Straße wirkt schon merklich leerer.

Der Zufall will, dass heute eine Demonstration stattfindet, an Schicksal glaube ich nicht. Es geht um Arbeitslosigkeit und verschiedenfarbige Parteien. Fünfhunderttausend Leute schieben sich auf der Straße des 17. Juni vorwärts. Man kann sich bequem hinsetzen und einen nach dem anderen ins Visier nehmen. Ich habe die Pistole gegen ein Präzisionsgewehr eingetauscht, auf das ich lange gespart habe. Es wartete im Besenschrank, ist geradezu damenhaft schlank und passt unter meinen Mantel. Ich mähte alle nieder.

Es wurde unglaublich friedlich danach. Endlich hörte man mal wieder die Vögel singen. Sogar ein Wildschwein trat hinter der Siegessäule hervor, und sein Schwänzchen wedelte.

Zum Feierabend bin ich dann mit dem Bus in den Grunewald gefahren, nur der Busfahrer und ich lebten noch. Ich wies ihn an, alle Haltestellen anzusteuern, und jedem, der einstieg, raubte ich den Atem, sobald er nach hinten durchgegangen war. Dort stapelten sich Körper, und der Fahrer hatte Mühe, das überladene Fahrzeug zu steuern. Ich wartete höflich, bis wir an der Endhaltestelle waren, aber als er den Motor abgestellt hatte, musste er dran glauben. Es macht Lust, den Türöffnungsmechanismus von Bussen selbst zu bedienen.

Hier standen alte Villen wie überdimensionale Grabsteine in ihren Gärten. Ich suchte mir die schönste aus und klingelte. Es wohnte nur ein Single dort. Die Schlüssel habe ich mir von ihm noch geben lassen. Es hat einen Swimmingpool und wollte wohl gerade in seine Kellersauna. Ich wusch den Dreck des Tages ab und entspannte mich auf den heißen Holzbänken. Das durchlöcherte Single brauchte das nicht mehr.

Morgens hole ich seine abonnierte Tageszeitung herein. Heute ist es ein dünnes Blatt, auf der Rückseite lauter Todesanzeigen von Redakteuren. Auf dem Titel ist nur von mir die Rede, man kennt inzwischen meinen Namen und ein Foto ist auch abgedruckt. Es zeigt mich auf der Weihnachtsfeier, wie der Chef mir gerade Sekt eingießt. Die Leute sollen in ihren Häusern bleiben, schreibt man, rot unterstrichen. Ich betrachte meine Pflanze. Sie steht wieder auf dem Küchen-Fensterbrett und es sieht aus, als würde sie bald blühen. Drei kleine, rosa Knospen haben sich gebildet.

Mein helles Haar ist seit heute haselnussbraun, auch bin ich sieben Zentimeter kürzer, denn ich trage jetzt Turnschuhe. Es sieht so aus, als hätte ich noch ein paar Tage zu tun, und auf hohen Absätzen ist auf Dauer kein Fortkommen. Ich klemme meine Pflanze unter den Arm, werfe die Haustür hinter mir zu und beginne mein Tagwerk gleich mit dem Briefträger, der neugierig über den Zaun blickt, als ich heraustrete. Es gibt eben immer Leute, die nicht Zeitung lesen.

Ja, davon träumte ich, als ich mich in die Ringbahn setze, die mich auf die andere Seite der Stadt bringen soll. Der Zug ist praktisch leer, und die wenigen Störenfriede sind schnell erledigt. Treptow steige ich aus, wandere eine vierspurige Allee herunter, bewundere die mächtigen Kastanien, die sie säumen. Der Stadtlärm hat sich seit gestern deutlich verringert. Kaum ein Auto, kaum ein Mensch, die Ampeln schalten unbeachtet vor sich hin. So wollte ich es haben.

Ein dunkelgrüner Panzerwagen rollt an mir vorbei, bremst, bleibt stehen. Über einen Lautsprecher höre ich eine befehlende Stimme: „Watt machen se da? Gehn se nach Hause, aber dalli! Wir ham Ausnahmezustand!“

Ich lächele mein ängstlichstes Lächeln, das Gewehr unter dem Mantel versteckt. Dann haben sie mich mitgenommen. Seitdem steuere ich einen Panzerwagen. Es ist ein wenig unbequem, weil ich die leblosen Beamten nicht von ihren Sitzen zu schieben vermochte, aber eine erstklassige Tarnung. Auch konnte ich die Pflanze endlich abstellen.

Die Sonne strahlte herrlich. Es gab zwar noch Autos in der Stadt, aber keine Fahrer mehr. Die nächste vierspurige Kreuzung war bloß noch ein Platz, auf dem sich Kaninchen jagten. In der Mitte gähnte ein umzäuntes Bauloch, unter dem Asphalt kam dunkle, feuchte Erde zum Vorschein. Ich riss den Bauzaun nieder. Hier würde die Pflanze immer Licht und Regen haben. Ich grub sie ein und hoffte, dass sie bald Wurzeln schlagen würde, streichelte die drei rosa Knospen. Wahrscheinlich werde ich mir eine Wohnung in der Nähe suchen. Ein Dachgeschoss ohne Leichen.

Ich aß dann im KaDeWe in der Feinschmecker-Etage. Das viele Kundenblut verdarb mir nicht den Appetit. Ich bediente mich selbst an der Kaffeemaschine und wählte zum Nachtisch eine russische Torte. Als ich sie halb aufgegessen hatte, legte ich die Stoffserviette neben den Teller und stieg im Treppenhaus herunter, denn der Aufzug funktionierte nicht mehr.

Als ich aus der Seitentür trat und I´m singing in the rain pfeifend um das KaDeWe herumlief, stand vor dem Haupteingang ein imposanter Mann. Er trug eine Goldlivree, Handschuhe und einen hellgrauen Zylinder, wirkte in seinen sparsamen Bewegungen äußerst würdevoll, schaute besorgt die Tauentzienstraße hinauf. Die Hälfte aller Geschäfte war geschlossen und vor den anderen lagen Leichen herum. Er hört mich kommen und dreht sich um. Noch bevor ich das Gewehr heben kann, trifft mich sein Blick wie ein Heiratsantrag und ich begreife, dass ich verliebt bin.

Ich lasse die Flinte sinken. Mein Herz pocht und glüht. Der Mann schaut mich mit seinen schönen, dunklen Augen entsetzt an, hebt abwehrend die behandschuhten Hände. Die Sonne reflektiert sich in seinen goldenen Knöpfen.

„Ich tu Dir nichts“, krächze ich, aber das bringt ihn nicht zum Lächeln.

Da schoss ich ihn auch noch tot. Man darf nicht immer an die Zukunft denken, wissen Sie.

Verschüttet

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