Читать книгу Verschüttet - Gabriele Bärtels - Страница 6
ОглавлениеVögelchen
Winfred rutschte näher an den Fernseher. Sie wusste genau, wie gut ihre Brüste in dem taillierten Anzug zur Geltung kamen. Die Kamera fuhr dicht an ihren Ausschnitt heran, so dass er nur noch ihr Kinn sehen konnte, ihre Schlüsselbeine und diesen dreieckigen, tiefen Schatten, in dem ein länglicher Anhänger an einer Kette baumelte. Winfred kannte ihn genau. Er hatte ihn in Originalgröße von einem Poster abgezeichnet, sie trug ihn immer, er bedeutete etwas. Eines Tages würde sie es ihm verraten.
Sie hatte ihm schon viel verraten, allein durch den Augenaufschlag, der ihm gegolten hatte, als sie sich letzte Woche vor dem Parkhotel durch die Menge der Fans und Fotografen gedrängt hatte, um ihren neuen Film zu promoten. Ihr Blick war hilfesuchend gewesen. Winfred hätte sich zu ihr durchgeschlagen wollen, sich an ihre Seite gestellt, sie vor der Meute geschützt, in die Halle geführt, wo sie aufatmen konnte, denn er war ihr bester Freund. Aber das Gitter hinderte ihn daran ebenso wie die Sonnenbrillen-Augen der Bodyguards, deren Blickrichtung er nicht einschätzen konnte.
Winfred bückte sich und brachte sein Ohr an den Fernsehlautsprecher. Er wollte alles von ihr hören, jedes Einatmen, Zögern, Zischen. Sie lachte auf die Frage des Interviewers, und die Kaskaden ergossen sich in seine Gehörgänge. Sein Schwanz richtete sich auf. Winfred schauderte, ließ sich auf alle viere nieder, legte seinen halbglatzigen Kopf gegen die Mattscheibe, an seiner Wange knisterte es, sie knisterte. Er fühlte sich schuldig.
Die Kamera fuhr zurück in die Totale. Ihre Beine waren übereinandergeschlagen. Sie saß nicht breitbeinig, sondern war eine Dame. Er würde sich nie erlauben, ihr zu nahe zu treten, das machten Freunde nicht. Seine Erregung verblasste.
Seine Briefe hatte sie wohl nicht erhalten, nur den ersten, in dem er um nichts weiter als eine Autogrammkarte gebeten hatte, die auch prompt im Briefkasten lag. Die trug er nun zusammengefaltet in der Brieftasche, in eine Plastikhülle eingeschlagen. Mit der Zeigefingerspitze war er den Schwung ihrer Unterschrift nachgefahren, wieder und wieder, bis er die Bewegung, die sie für ihn gemacht hatte, ganz in sich aufgenommen hatte.
Winfred zeichnete das Interview auf und ließ in der Nacht das Video durchlaufen, auch in Zeitlupe. Hinter ihr, bei den Zuschauern, saß ein Mann, dem sie einen Seitenblick zugeworfen hatte, ein arroganter Mann mit einem strahlend weißen Hemd.
„Der ist nichts für Dich, meine Süße“, flüsterte Winfred.
Er hörte nicht auf, den Kopf zu schütteln, doch er bemerkte es nicht. Nachdem er sich in den Schlaf geschaukelt hatte, lief das Video in einer Endlosschleife weiter und färbte seine Träume bläulich.
Sein Herz saß voller Frühlingsvögel, als er morgens das Haus verließ, um in den Bus zu steigen, der vorn an der Kreuzung abfuhr. Winfred war einer von vielen Fahrgästen, doch er allein war durch zärtliche Freundschaftsbande mit ihr verbunden. Seit er in einem Frauenmagazin gelesen hatte, dass sie morgens nur Ananas zu sich nahm, hatte er stets frische im Haus. Sie sollte sich nicht umgewöhnen müssen. Er würde ihren Namen nicht an die Tür schreiben, dachte er, als er blicklos zur Arbeit fuhr, sie sollte nicht länger unter Fans und Fotografen leiden und schon gar nicht unter seinen neugierigen Nachbarn. Sein Magen knurrte. Er hatte selbst nichts anderes gegessen als Äpfel.
Er ließ seine schwere Tasche neben den Stuhl fallen, von dem aus er den ganzen Tag Parkhausgelder kassieren würde. Ein kleines Radio hinter seinem Rücken plärrte. Er schaltete den Radiator ein und legte seine kalten Händen auf die warm werdenden Rippen. Die Wand hinter ihm war aus geweißtem, rohen Beton, und durch die zerkratzte Plexiglasscheibe schaute er auf die Einfahrt. Im Sommer konnte man in diesem Kasten ein Ei ausbrüten. Winfred schob seine Arbeitsutensilien zurecht. Der Kollege von der letzten Schicht stellte immer alles um.
In der Tasche trug er einen Aktenordner mit Kopien von den Mails, die sie nicht beantwortet hatte. Er hatte ihr geschrieben, dass niemand ihr Freund war, nur er. Wahrscheinlich waren sie ihr nicht weitergeleitet worden. In seinem Innern brodelte heißes Wasser.
Aus dem Halbdunkel des Parkhauses rollte ein roter Kleinwagen heran, bremste. Die Fahrerin hielt ihm einen Geldschein hin, ohne aufzuschauen. Bei der Wechselgeldrückgabe ließ Winfred absichtlich eine Münze fallen, so dass die Frau aussteigen musste, um unter dem Vorderreifen nach ihr zu suchen. Sie war eine gewöhnliche Kreatur, sie konnte ruhig kriechen.
An der Betonwand hing ein Stadtplan. Niemand außer Winfred konnte den feinen Bleistiftkreis entdecken, der um den Vogteiplatz gezogen war. Er wusste, wo sie wohnte. Tausendmal am Tag hatte er mit dem Finger schon den Weg vom Parkhaus quer durch die Stadt verfolgt bis zu ihr vor das Haus. Es wurde Zeit, dass er ihn beschritt. Sein Herz krampfte.
Er ging nach Schichtende, trug die Tasche, als wenn sie ganz leicht wäre, dabei lag der dicke Aktenordner darin und auch die Videofilme, die er von sich gemacht hatte, damit sie seine Person in Ruhe betrachten konnte. Er würde sie ihr vor die Tür legen, mehr nicht. Sie war wie eine feine Porzellantasse, man musste behutsam mit ihr umgehen. Sie würde ihm ein Zeichen geben, wenn sie ihn erwartete.
Ihr Nachname auf dem Klingeltableau fiel so wenig auf wie das G. + H. Wagner darunter. Er unterdrückte ein Lachen, denn er kannte das Geheimnis. Der Platz war leer, die Fontäne im Brunnen sprühte nicht, ein Mofa knatterte vorbei. Winfred klingelte überall, doch niemand öffnete. Der Boden unter seinen Schuhen brannte. Wie oft hatte ihr leichter Fuß darauf gestanden. Er streichelte den Türknauf, ihre Klingel, hätte sich gern eng an die Haustür gepresst, aber es konnte jederzeit ein Passant um die Ecke biegen.
Es fiel ihm schwer, zurückzutreten. Er umklammerte seine Tasche, überquerte die Straße, die sich um den Platz zog. Nicht weit entfernt vom Brunnen stand ein Denkmal, drei einander zugewandte Spiegel, in deren Mitte man treten konnte. Er tat es, als wäre er ein Tourist. Die Inschriften zu seinen Füßen las er nicht, starrte sich ins Spiegelgesicht und auf den haarumkränzten, kahlen Hinterkopf, selbst seinen leicht gekrümmten Rücken konnte er ganz überblicken. Er richtete sich auf, um groß genug für sie zu sein.
Es wurde langsam dunkel, und das Licht der Straßenlaternen schaltete sich mit leisem Knacken an. In einem Baum am Bürgersteig saß eine reglose Taube. In ihrem Haus war kein Fenster erleuchtet.
Eilige Männerschritte näherten sich und echoten an den Hauswänden. Winfred zog sich zwischen die Spiegel zurück. Im Laufen griff der Mann in seine Hosentasche, es klirrte, als er einen Schlüsselbund herausfummelte. Er hielt direkt auf ihr Haus zu. Winfred vor das Denkmal und steuerte in die gleiche Richtung. Als er den Mann erreichte, schloss dieser gerade auf.
„Das trifft sich gut“, sagte Winfred in seinen Rücken.
Der Mann drehte sich ruckartig um, seine Absätze scharrten dabei.
„Bitte?“, fragte er von oben herab, als habe Winfred ihn angebettelt.
Winfred packte seine Tasche fester und sagte mit einem Seitenblick auf das Klingelschild: „Ich bin mit Wagners verabredet, sie sind wohl noch nicht da. Ich würde lieber drin warten.“
Der Mann ließ Winfred den Vortritt, ging geradewegs in den Hof zum Gartenhaus, während Winfred den Aufzug ansteuerte, dann aber doch die Treppe wählte, die mit einem roten Teppich überzogen war.
Er musste sich am Geländer festhalten, so ergriffen war er. Er stieg langsam empor, bis er die oberste Etage erreichte. Nur ihr Nachname stand auf dem glänzenden Emailschild an der Tür. Der Fußabtreter war nagelneu. Winfred bückte sich und schob vorsichtig den Briefkastenschlitz auf. Er sah nichts, ahnte nur Parkettfußboden, aber er roch sie zum ersten Mal. Aus dem Schlitz strömte Fliederduft. Winfred berauschte sich daran.
Er zog die Videos und den Aktenordner mit seinen Briefen heraus, stapelte sie sorgsam auf ihrer Türschwelle, so dass sie alles sofort entdecken würde, gleich, ob sie vom Aufzug kam oder über die Treppe. Er keuchte. Ihre Nähe brachte ihn fast um. Er spürte, wie sehr er sie liebte.
„Komm, Vögelchen, komm“, sang er leise und war sich dessen wieder nicht bewusst.
Im Haus blieb es still.
Er hatte gehen wollen, doch er konnte nicht. Die Treppe führte noch höher zum Dachboden. Er stieg die Stufen hoch und setzte sich auf den Absatz, sah von hier nur noch die oberen Ecken ihrer Wohnungstür. Das Licht erlosch. Winfred streckte seine Beine aus, rutschte nach hinten, lehnte sich gegen die Wand, verschränkte die Arme, schloss die Augen.
Das Licht ging wieder an und ihm kam es vor, als habe man ihm die Decke weggezogen. Er hörte den Aufzug nach unten sausen, er hielt, ächzte, fuhr wieder hoch. Im vierten Stock stiegen die Wagners aus. An ihren Stimmen erkannte er, dass es alte Leute waren. „Wo hast Du den Schlüssel?“, herrschte die Frau den Mann an. Die Tür schlug zu und Ketten rasselten.
Sie kam erst gegen Morgen.
Als die Aufzugtür sich öffnete, schreckte Winfred zusammen. Etwas schlug gegen die Metallwände, er hörte ein Keuchen, Fluchen, Stolpern. Das Flurlicht klackte.
„Was ist das hier für eine Scheiße?“, krächzte eine lallende Stimme, das konnte sie unmöglich sein. Im selben Augenblick erreichte ihr Fliederparfüm seine Nase. Es polterte. Winfred drückte seinen Rücken gegen die Wand. Er war ihr Schutzengel. Er lächelte selig.
Sie schlug die Wohnungstür hinter sich zu. Er schlich die Stufen herunter und stieß mit dem Fuß an eine Videokassette. Daneben rutschten seine Briefe aus dem schiefen Aktenordner. Sie hatte achtlos darauf herumgetrampelt. Das konnte nur ein Irrtum sein.
Winfred bemühte sich, das Hecheln zu unterdrücken, das in seiner Kehle saß. Sein Vögelchen lebte hinter dieser Tür. Auf Knien rutschte er näher heran, führte seinen zitternden Zeigefinger an den Briefkastenschlitz, hob ihn millimeterweise hoch. Wieder dieser betörende Duft. Er erkannte einen Streifen Parkettboden und hörte, dass sie telefonierte. So spät in der Nacht, so früh am Morgen, wie Vögelchen es eben tun. Er lächelte verständnisvoll, er war ja beinahe ihr Bruder.
Während des Telefonates lief sie umher, der Boden knarrte bei jedem Schritt. Sie stritt sich mit einer fremden Person, entfernte sich tiefer in die Wohnung hinein, und ihre Stimme wurde dumpf. Es schien Winfred, als ob sie stöhnte. Dann verstummte sie abrupt. Sie trug keine Schuhe mehr, als sie nun in ein anderes Zimmer ging, ihre Füße tappten über das blanke Holz. Einmal meinte Winfred sogar, durch den Schlitz ihre Bewegung gesehen zu haben. Das Licht ging aus. Er hörte das leise Gluckern einer Flüssigkeit, mehr nicht.
Endlich schlief sie, und Winfred lächelte. Leise ließ er den Deckel des Schlitzes sinken. Er würde sie nun wachküssen und von da an jeden Morgen. Soweit der Flur es zuließ, trat er zurück, warf seine ganze Schwere gegen das Letzte, was ihn noch von ihr trennte.