Читать книгу Das beste Versteck - Gabriele Bärtels - Страница 7
Trautes Heim
ОглавлениеIn Wirklichkeit war alles anders. Irgendwann hatte Suse begriffen, dass der Wald verstummt war. Kein Laut von den anderen. Tommi, Fritzi, Georg, Krücke, waren weg, und es hatte wenig Sinn, noch länger unter den Farnen zu hocken. Der Hexenwald, feucht, tropfend, knackend, schien ihr auf einmal unheimlich dunkel, und sie begann zu singen, um das Murmeln des Baches nicht zu hören, in dem ein Toter lag, ganz sicher. Ihr Herz schlug so schnell, dass sie rennen musste und so rannte sie den Weg bergauf, während das nasse Kleid zwischen ihren Beinen klebte und scheuerte. Sie trat aus dem Wald, sah die weite Wiese hinunter auf das Dorf, das Elternhaus am Rand des Neubaugebietes, ein Raubvogel kreiste im Himmel, die Erde duftete intensiv. Hoffentlich kam sie nicht zu spät, hämmerte ihr Herz.
Sie erreichte das Haus, ging an der Garage vorbei, die Kellertreppe hinunter, öffnete die Tür zur Waschküche, hoffte, dass Mama sie nicht sah, nicht hörte. Die Waschmaschine knackte und drehte sich dann immer schneller, davor lagen Handtücher, Bettlaken, Hosen in großen Wannen.
"Schuhe aus! Wie oft soll ich das noch sagen!“, schrie ihre Mutter vom Treppenabsatz herunter. "Und die Tür zu, es zieht!"
Suse zog die Sandalen aus und rieb hektisch den Schmutz zwischen den Zehen weg, schlüpfte in ihre Hausschuhe, stieg die Treppe hoch, betrat die Küche, eine große Wohnküche. Fritzi saß schon am Tisch, die drei kleinen Brüder auch. Tobias war fünf, die Jüngsten vier und ein Jahr alt und hatten alle blonde Haare. Unter dem Tisch hockte der Rauhaardackel, ein kräftiger, frecher Hund. Es war Mamas Rauhaardackel. Nachts schlief er neben ihrem Bett und manchmal, wenn Papa nicht da war, auch zu ihren Füßen auf der Matratze. Die Jungen fütterten ihn mit zusammengedrückten Brotkugeln.
Papas Platz war leer, er war auf einer Tagung, keiner der Kinder wusste, was das bedeutete, jedenfalls blieb er über Nacht weg, vielleicht auch zweimal.
Die Mutter stand am Herd und sah Suse nicht an, als sie eintrat. "Ach, die Gnädigste, wie wir uns freuen, dass Sie uns mit Ihrer Anwesenheit beehren. Hier, pass auf die Milch auf, dass sie nicht überkocht."
Suse stellte sich neben den Herd und schaute in den Topf.
"Los! Die Teller auf den Tisch. Muss ich denn alles alleine machen?" Mamas Kopf deutete zur Anrichte.
Suse hob die Augen vom Milchtopf und drehte sich zur Anrichte um. Sie nahm den Tellerstapel herunter und balancierte ihn vorsichtig zum Tisch.
Die drei kleinen Brüder schlugen mit Löffeln auf den Tisch. "Wir haben Hunger, Hunger, Hunger!“, riefen sie im Chor und der jüngste quiekte fröhlich mit.
Der Hund unter dem Tisch bellte und wedelte mit dem Schwanz. Fritzi malte mit dem Finger die Karos der Wachstuchtischdecke nach.
"Wenn ich das schon sehe", rief die Mutter. "Gib bloß die Teller wieder her, Du Trampel."
Suse erschrak, als ihr die Teller von hinten entrissen wurden, beinahe wäre der ganze Stapel auf den Boden gefallen.
"Spinnst Du?“, entfuhr es ihr. Gleichzeitig zog sie die Schultern hoch und ging zwei Schritte zurück, entgeistert über das, was ihr da entfahren war. In diesem Augenblick kochte die Milch über.
Die Mutter verwandelte sich in ein schwarzes Maul. "Bin ich Euer Hanswurst?“ Ihre Stimme gellte.
Sie riss den Topf vom Herd, die schäumende Milch spritzte über den Boden, sie griff nach einem Lappen. Die drei Jungen saßen starr und auch Fritzi rührte sich nicht. Der Hund hatte sich unter die Eckbank verzogen.
Suse stand in der Mitte der Küche, und etwas Angstvolles, Trauriges wollte hoch, ausbrechen, aber sie drückte es herunter, mit aller Gewalt.
"Du entschuldigst Dich sofort bei mir, sonst gehst Du ohne Essen ins Bett", schrie die Mutter und wischte sich die milchigen Hände an der Schürze ab. Ihre Augen waren eine kohlrabenschwarze Glut.
Papa, Papa, dachte Suse. Sie blieb einfach stehen, die Augen auf den Steinfußboden gerichtet, betrachtete die schwarzen und grauen Punkte, dazwischen die gelben, von denen es nicht viele gab. Das war nicht gerecht, das war nicht gerecht. Ihr Körper wurde ein gespannter Bogen.
"Ach, Madam wird trotzig." Jedes Wort ein Zubeißen. "Mach, dass Du vor die Haustür kommst, ich will Dich erst wiedersehen, wenn Du Dich entschuldigen willst."
Suse wandte sich um und rannte in Hausschuhen aus der Küche und vor die Haustür. Sie ließ sie hinter sich zufallen und stieg drei Stufen herunter. Draußen überfiel die Nacht den Tag mit unnachgiebiger Weichheit. Suse fürchtete sich vor Dunkelheit. Oft, wenn sie nicht einschlafen konnte, lag sie im Bett und traute sich nicht, auch nur einen kleinen Finger unter der Decke herauszuschieben, weil überall auf dem Boden hässliche, haarige, spinnenbeinige Ungeheuer lauerten, die gerade bis zur Bettkante reichten. Sie konnte sich noch so oft einreden, dass das Quatsch war - es war kein Quatsch. Um sie nicht zu hören, schlug sie rhythmisch mit dem Kopf gegen die Wand, der Rhythmus, der Stoß, wiegten sie, verdrängten die Unruhe und füllten den Kopf mit leichtem Schwindel und leisem Schmerz.
Sie wandte sich nach rechts, zur Gärtnerei, wo die großen Gewächshäuser standen, dort leuchteten die Neonröhren die ganze Nacht. Sie rannte schnell, denn ein Wind bewegte die Sträucher und sie wollte, WOLLTE über die Gestalten nicht nachdenken, die sich hinter ihnen verbargen. Außer Atem erreichte sie das Gewächshaus und setzte sich mit dem Rücken an seine Glaswand. Als ihr Herzschlag sich beruhigte, wurde die Stille immer lauter, und die Nacht außerhalb des Lichtkreises immer schwärzer. Sie begann leise zu singen, aber dann stieg das Traurige wieder hoch. Wo war Papa? Warum kam er nicht?
"Nicht weinen", flüsterte sie, "nicht weinen."
Sie dachte an ihre toten Katzen und ihr kleiner Körper wurde von Schluchzern gebeutelt. Sie hielt mit aller Macht ihre dünnen Arme um sich geschlungen, damit sie nicht umkippte.
Eines Tages war sie aus der Schule gekommen, war wie seit Wochen zuerst zu dem alten Luftschutzbunker gelaufen, der unter dem Wohnzimmerfenster lag. Hier hatte eine Katze Junge geworfen, fünf Stück. Suse hatte sie im Mai beim Spielen gefunden und seitdem als ihr Eigentum betrachtet. Zuerst waren die Augen noch geschlossen gewesen, winzige, blind sich wälzende Fellbündelchen. Die Mutterkatze hatte Suse angefaucht, wenn sie sich näherte, gezischt wie eine Schlange, alle Haare aufgeplustert, bis sie doppelt so groß war. Aber Suse konnte sich nicht zurückhalten, sie konnte einfach nicht. Zu weich, zu süß, zu rührend waren die piepsigen Tierchen. Sie hockte mit zwei Metern Abstand im Halbdunkel des staubigen Bunkers und starrte entzückt das Wunder an. Tag für Tag rückte sie ein bisschen näher. Dann sprang ihr das Muttertier ins Gesicht und schlug ihre Krallen in Suses Schultern, riss ihr die Stirn auf. Suse fuhr blutend zurück, lief ins Haus und verriet nicht, woher sie die Kratzer hatte. Am nächsten Tag war sie wieder da.
Irgendwann hatten die Kätzchen die Augen geöffnet. Suse hatte ihnen Namen gegeben. Sternchen hieß eine, sie war grau getigert, mit einem kleinen, weißen Stern über der rosaroten Nase. Pascha nannte sie die schwarze. Stundenlang saß sie bei ihnen, betrachtete gerührt die rosa Pfötchen, berührte sie zum allerersten Mal, das Muttertier fauchte warnend, aber sprang sie nicht mehr an. Suse strich mit dem Finger über die kleinen Bäuchlein, das hohe Schnurren brachte sie fast um, gleichzeitig hätte sie am liebsten laut gelacht und getanzt. Sie tat es nicht, sie wollte sie nicht erschrecken.
Einen Monat später standen die Kätzchen auf ihren Beinen, wagten sich zum ersten Mal aus dem Bunker heraus, kugelten über den Rasen. Suse brachte immer neues Spielzeug. Wollfäden mit Papierschnipseln dran, Gummibällchen. Nun waren die Katzen kein Geheimnis mehr. Der Dackel hasste sie, aber er bellte nur und wagte nicht, sich ihnen zu nähern. Eines Tages war das Muttertier verschwunden und kehrte nicht zurück.
Und dann kam der Tag im Juli, kurz vor den Sommerferien. Suse warf ihre Schultasche auf das Bett, rannte gleich hinaus. Keine Katze kullerte über den Rasen, keine lag zusammengerollt in der Sonne und schlief. Suse kroch in den Bunker und horchte. Nichts rührte sich. Sie rief die Kätzchen bei ihren Namen, laut, leise, lockend, versuchte die Dunkelheit des Bunkers mit den Augen zu durchdringen.
"Das kann nicht sein", murmelte sie. In ihrem Magen braute sich ein furchtbares Gefühl zusammen.
Schließlich wandte sie sich ab, lief um das Haus herum, zum offenen Küchenfenster. Angst in der Stimme: "Mama, Mama, meine Katzen sind weg."
Der Kopf ihrer Mutter beugte sich aus dem Fenster, über ihrer Schulter lag ein Geschirrtuch. "Ja, das weiß ich. Heute Morgen war der Tierarzt hier, wegen des Hundes. Da habe ich ihn gleich gebeten, die Katzen einzuschläfern. Ich hatte die Nase voll. Hab´s Dir ja schon immer gesagt. Sie kriechen durch das Wohnzimmerfenster und sauen alles zu. Als wenn ich nicht genug zu tun hätte. Jetzt hör auf zu heulen. Hier -", sie reichte Suse die große Milchkanne nach draußen, "hol mal beim Bauern drei Liter."
Suse war mit der leeren Blechkanne über die Kopfsteinpflasterstraße gelaufen.
Die Insekten tanzten im Neonlicht. Dahinter wurde die Nacht immer dunkler und lauter. Suse sehnte sich nach dem mageren Sternchenkörper, nach dem kleinen Fleck Wärme, den sie ihrem Schoß hinterließ, wenn sie dort zusammengekugelt eingeschlafen war. Sie dachte daran, wie wehrlos die kleinen Tiere gegen die tödliche Spritze gewesen waren. Und sie war nicht da gewesen, um das zu verhindern.
Sie hörte ihre Mutter rufen. Nicht antworten. Wenn sie antwortete, würde ihre Mutter glauben, sie wollte sich entschuldigen.
Da tauchte sie schon im Lichtschein auf. Groß und grell beleuchtet stand sie da. "Ach, hier bist Du. Los, komm jetzt rein." Ihre Stimme war nicht mehr so böse.
Suse rührte sich nicht. Sie starrte auf einen Punkt im Nichts.
"Soso, wir trotzen. Na, dann trotz mal weiter. Und merk Dir", der Zeigefinger der Mutter wurde zum Speer, "ich will eine Entschuldigung."
Noch lange, nach dem die Mutter sich umgedreht hatte und in der dörflichen Dunkelheit verschwunden war, bewegte sie sich keinen Millimeter. Es kostete sie Mühe, wieder mit dem Denken anzufangen und die Arme von den Knien zu lösen. Sie wollte weg. Aber ihre Schultern sackten zusammen. Ein Kind konnte nicht von zuhause weggehen. Suse bewegte den Oberkörper und begann zu schaukeln. Ihre Augen standen offen, aber es spiegelte sich kein Bild in ihnen.
Irgendwann fing sie an zu zittern, obwohl die Luft noch warm war und das Kleid fast getrocknet. Wie lange saß sie hier schon? Ihre Mutter fiel ihr wieder ein und sie konnte fühlen, wie ihr Herz ein Stück herunterfiel.
Nur noch in wenigen Häusern brannte Licht. Dahinter lagen die Felder und der schweigende Wald. Kein Auto, kein Vogel, kein Muhen. Fritzi schlief bestimmt schon und die Brüder auch. Und Tommi und Georg und Krücke. Jeder bei sich, in seinem Bett, bei seiner Familie.
Wie ein Gespenst erschien die Mutter. Ihr Gesicht weiß und verkrampft. "Entschuldigst Du Dich endlich, oder willst Du die ganze Nacht hier sitzenbleiben? Ich werde Dich in ein Kinderheim stecken müssen. Du bist so verstockt, mit Dir wird man ja nicht fertig. Aber pass auf, die Erzieher werden es Dir schon beibringen, das kann ich Dir sagen." Sie wartete.
Suse schaute in die Nacht.
"Deinen Hochmut habe ich satt! Du glaubst wohl, das mache ich nicht? Wenn Du nicht in zehn Minuten im Haus bist und Dich bei mir entschuldigst, kommst Du dahin!"
Die Mutter wurde von der Nacht verschluckt. Ihre Schritte knirschten auf dem Weg.
Sollte sie doch, dachte Suse. Denen im Kinderheim würde sie es schon zeigen. Sie würde ihnen nicht den Gefallen tun, zu sprechen.
Die zehn Minuten mussten um sein, die Mutter kam entschlossen den Weg entlang, blieb vor Suse stehen, mitten in dem Insektenschwarm, sie bückte sich, riss Suse am Arm hoch.
"So, ich habe im Kinderheim angerufen. In einer halben Stunde kommt jemand und holt Dich ab. Deine Sachen sind schon gepackt, ich mache Dir jetzt noch was zu essen, dann wasche ich Dich, damit Du wenigstens anständig aussiehst, wenn Du es schon nicht bist." Sie zerrte Suse hinter sich her.
Suse stolperte beim Laufen. Papa, sie bringt mich weg.
Durch das Sausen im Kopf hörte sie die Stimme ihrer Mutter: "Du kannst Dich immer noch entschuldigen." Ihr Griff um Suses Handgelenk ließ nicht locker.
Suses ganzer Kopf presste das Wort zurück, das in ihr hochstieg. "Entschuldigung", sagte Suse und schnappte nach Luft.
"Na, endlich", sagte das Böse und ließ ihren Arm los. "Jetzt reichst Du mir die rechte Hand und ich verzeihe Dir. Wenn wir im Haus sind, rufe ich im Heim an und sage denen, dass sie nicht kommen müssen."
Suse hob den Arm, der Mutter entgegen. Er war schwer. Als die Mutter ihre Hand ergriff und sie schüttelte, war Suse voller Dankbarkeit, dass sie nicht wegmusste, obwohl sie so schlecht war. Dann schüttelte sie sich.
"Kein Wunder, dass Dir kalt ist, wenn Du stundenlang draußen hockst."
Ein alter Mann, der zu später Stunde durch das schlafende Dorf spazierte, weil er nicht mehr richtig schlafen konnte, blieb vor Suses Elternhaus stehen und sah durch die erleuchteten Küchenfenster ein kleines Mädchen im Bademantel am Tisch sitzen und eine hübsche Frau, die einen Teller vor das Kind stellte und mit der anderen Hand ungeschickt über den kleinen Kopf streichelte.