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War es wirklich die Katze, der Marlene ein Versprechen gegeben hatte oder sich selbst? Marlene wurde sehr früh wach, um fünf, es war noch dunkel, der Großstadtlärm erst ein entferntes, kleines Rauschen. Sie schaute auf die leuchtenden Zeiger der Uhr, es war so schön warm hier, es kam ihr vor, als hätte sie Tage im Bett verbracht wie eine Kranke. Gut, sie hatte es versprochen, eine finstere Entschlossenheit stand vor ihr auf, schwang die Beine aus dem Bett, Marlene tat es ihr nach. Sie schaltete das Licht an, die Katze blinzelte und rollte sich auf den Rücken.

Marlene griff in das weiche Fell und fühlte den mageren Körper darunter: "Wir stehen jetzt auf, es ist gut, jede blöde Minute zu nutzen, bis wir bankrott sind."

In den letzten Jahren hatte sie sich angewöhnt, im Nachthemd zu frühstücken, sich ungewaschen an den Tisch zu setzen, erst mittags zu duschen und sich anzuziehen.

"Wir werden baden," beschloss sie. Während die Wanne volllief, füllte sie das Schälchen der Katze mit Dosenfutter, säuberte das Katzenklo, öffnete das Schlafzimmerfenster und schüttelte die Decken aus. Das Nachthemd fiel zu Boden. Sie ließ eine Kappe voll des billigen Schaumbades ins Wasser tropfen, rührte darin herum, bis sich Bläschenberge bilden, und streckte sich aus, soweit die schmale Wanne es zuließ. Sie griff nach dem Damenrasierer, fuhr damit über ihre Waden, fühlte zufrieden die glatte Haut. Sie tauchte den Kopf in das Wasser, schäumte Shampoo in den triefenden Haaren auf, rieb eine Kurpackung hinein, legte sich zurück und schaufelte mit beiden Händen Wasser über ihre Brüste.

Freitag war heute, die alte Dame würde Marlene erst Montag wiedersehen.

"Freitag," flüsterte sie, "entweder mache ich alles so wie sonst oder alles anders."

Sie stieg aus der Wanne, eine tropfende Nacktheit, stand lange vor dem Kleiderschrank. Schließlich griff sie nach der Hose, einer schwarzen Schurwollehose mit feinen, weißen Karos, die man nicht selbst waschen konnte. Sie hatte sie lange nicht getragen, sie für wichtige Anlässe aufgespart, aber die waren nicht eingetreten, und wenn das so weiterging, war die Hose unmodern und konnte ungetragen in die Altkleidersammlung.

Her mit der Unterwäsche, für die das gleiche galt, weiß mit Spitze: "Der Mann, für den ich sie gekauft habe, ist unbekannt," kicherte Marlene. Die Katze guckte an ihr hoch. "Davon verstehst Du nichts. Du trägst immer dasselbe Fell und Deine Geschlechtsorgane liegen offen."

Halb sieben Uhr früh, Marlene vor dem Spiegel. Lackstiefel, Seidenpullover, die Beine rasiert, das Haar frischgewaschen, der Mund rot, sie duftete. Plötzlich sackten ihr die Knie weg und das Elend stand vor ihr wie ein Geist, es hauchte: "Du spielst ein lächerliches Spiel."

Marlene drehte sich um. Hastig suchte sie nach ihrer Tasche, stopfte das Handy hinein, das Portemonnaie, die Schlüssel, sie verabschiedete die Katze nicht, ließ die Tür hinter sich zufallen, lief die Treppen hinunter auf die stille Straße, gegenüber wartete ein Handwerker in einem Hauseingang darauf, zur Arbeit abgeholt zu werden. Er vergrub die Hände in den Taschen seines weißen, mit Farbflecken übersäten Overalls, lehnte an der Wand, schaute zu Marlene herüber. An jedem anderen Morgen hätte Marlene die Augen gesenkt, wäre im Weggehen gestolpert, hätte seine Blicke zwischen den Schulterblättern gespürt, seine verachtenden Blicke.

Heute rief sie quer über die Straße: "Guten Morgen."

Der Maler nickte und lächelte und scharrte mit dem Fuß. Das hatte er dann doch nicht gewollt. Marlene ging zur U-Bahn.

Wohin? Sie wusste es nicht so genau. Frühstücken irgendwo anders als zu Hause, Kaffee und ein Brötchen würden nicht so viel kosten, sie erinnerte sich an ein eben eröffnetes Schnellrestaurant im S-Bahnhof Friedrichstraße, da fuhr sie jetzt hin, da gab es immerhin Leute zu gucken. Marlene schaute den U-Bahnsteig entlang, sie war um diese Uhrzeit schon ewig nicht mehr in der Stadt unterwegs gewesen. Die Menschen fuhren zur Arbeit und in die Schule, sie lasen Zeitung, und ihre Gesichter waren hatten unter dem Neonlicht einen Blaustich, sie rochen frischgeduscht, schauten nicht auf. Die Hälfte von ihnen würde ab zehn Uhr jeden mit "Mahlzeit" grüßen, das hatte sie immer schon gehasst. Plötzlich sprang eine Fröhlichkeit in ihr hoch, dem Anlass ganz unangemessen. Ich mache Ferien vom Unglück. Umsteigen, noch zwei Stationen, dann war sie da.

Das Restaurant lag ebenerdig, war gelb und blau dekoriert, Marlene fand einen Tisch, von dem aus sie die Straße und die Rolltreppen zur S-Bahn beobachten konnte. Hier lief man schnell rein, schnell raus, Marlene war offenbar die einzige, die sich die Zeit nahm, die Jacke auszuziehen. Sie angelte die Zigaretten aus der Tasche.

Geschirr klapperte, die Kaffeemaschine zischte, "Cappuccino und Käsesandwich," sagten die Kunden.

"Vier Euro achtzig," antwortete die Bedienung, eine blonde Fünfzigerin mit Schürze und einem praktischen Blick.

"Danke," sagten die Kunden und stellten die leere Tasse auf den Tresen.

"Tschüs," rief die Bedienung, und wandte sich dem nächsten zu: "Bitte sehr?"

Marlene trank den Kaffee in kleinen Schlucken, beobachtete Arbeiter mit Ledertaschen, Büroangestellte in kurzen Kostümen, Schüler in Hosen, die ihnen vom Hintern rutschten. So war es, immer guckte sie ihnen nur ihr Leben ab, entdeckte den Ehering am Finger, den kaputten Reißverschluss, las den Zeitungsartikel mit, auf den sie starrten, stahl ihnen die Wortfetzen vom Mund, verfolgte ihren Blick und ihren Gesichtsausdruck, wenn sie einen Fremden musterten, dechiffrierte die Beziehung, die zwei miteinander hatten, indem sie ihre Handbewegungen, die Stellung der Körper zueinander, ihr Lächeln zusammenrechnete.

Am Nachbartisch hatte sich ein Mann niedergelassen. Er schlug die Frankfurter Allgemeine Zeitung auf, fuhr sich mit der Hand über die Halbglatze, legte ein Bein über das andere und wippte mit der Schuhspitze in der Luft. Er schaute kurz hoch und musterte die am Tresen Stehenden genau. Er war frisch rasiert, sein After Shave wehte in Marlenes Nase. Er hatte breite Schultern, oder waren es nur die Polster seines Anzuges? Ich weiß gar nicht, wie man sich um Sex bemüht, dachte Marlene sehnsüchtig. Sie konnte nicht einfach aufstehen und fragen, er würde "Nein" sagen, und sie wäre lächerlich gemacht, müsste flüchten, und das konnte sie nicht, bevor sie die Rechnung nicht bezahlt hatte.

Marlene stand auf und reichte der Bedienung drei Euro. "Stimmt so," sagte sie.

Der Mann schaute auf, als sie an ihm vorüberging und lächelte, das veränderte sein Gesicht auf seltsame Weise.

Seine Augen glitzerten, und Marlene zögerte und trat vor ihn hin: "Wollen Sie mit mir schlafen?“, fragte sie und sagte es laut genug, dass ein paar Leute sich nach ihr umdrehten.

In ihr tobte ein Tumult, sie bemerkte die Blicke nicht. Sie bemerkte nur die Augen des Mannes, der seine Zeitung noch immer hochhielt. Die Augen changierten ernst, amüsiert, musterten Marlene, der Mund blieb geschlossen, nun legte er die Zeitung zusammen.

"Nehmen Sie doch Platz," sagte er halblaut und mit einer angenehmen Stimme.

Marlene haute ab.

Sie lief die Friedrichstraße hinunter in Richtung Unter den Linden, sie ging sehr schnell, drehte sich nicht um. Wenn er hinter ihr herlaufen sollte, würde sie der Schlag noch früh genug treffen. Marlene bog um eine Ecke und blieb schwer atmend stehen. Da konnte sie sich nie wieder blicken lassen, das war verbotenes Gebiet, sie kicherte: "Werde ich auch nicht."

Im Weitergehen fantasierte sie. Ich hätte es tun sollen. Ich hätte mich setzen sollen. Ich habe nichts zu verlieren. Keinen Ruf, keine Zeit. Es wäre eine Sensation gewesen. Eine Sensation, die in großen Lettern auf die erste Seite der Tageszeitung meines Kopfes gepasst hätte. Mit weiteren Einzelheiten auf Seite drei und einer kurzen Mitteilung am nächsten Tag: Marlene sprang über ihren Schatten.

Sie war aber nicht gesprungen. So wie im Sommer, auf dem Drei-Meter-Brett, auf dem sie zitternd stand, ihr ganzer Körper in Aufruhr und beschämt, rückwärts wieder hinuntergekrochen war, und eine Frau sagte laut: „Das gibt's doch nicht. Die traut sich wirklich nicht.“ Sie hätte mit dem Finger auf Marlene zeigen können. Und Marlene trug nichts als einen Badeanzug.

Es war immer noch früh am Morgen und so viel Zeit auszufüllen. Sie hatte nie gelernt, Zeit auszufüllen, hatte auf Order gewartet. Nun fürchtete sie sich vor den Leerstellen, die wie Bombenkrater in ihren Tagen lagen, und manchmal fiel sie in einen hinein, der Himmel war weiter weg als eben noch, und sie lag auf dem Bauch im Dreck. Manchmal machte sie einen Versuch, wieder hinauszukommen, kroch an den steilen Wänden hoch, krallte ihre Hände in die Erde, und dann begann es zu regnen. Aus der Erde wurde Matsch. Hier war wieder so ein Bombenkrater.

Marlene passierte das Kaufhaus Lafayette, die Edelboutiquen, es war ruhig um diese Zeit, sie öffneten nicht vor zehn, sonst hätte sie hineingehen können, so tun, als hätte sie eine goldene Kreditkarte in der Tasche, sich von den Verkäuferinnen anlächeln lassen, kritisch und sorgfältig den Sitz eines Kleides begutachten, es mit gekrauster Stirn auf den Bügel hängen und den Laden verlassen, mit dem Standardsatz auf den Lippen. Damit hätte sie eine Stunde gewonnen und ein schlechtes Gefühl vermehrt, hätte Wünsche geweckt, die wie schlafende Hunde auf dem Boden ihres Bewusstseins lagen, eine Traumfrau wollte sie sein, noch immer, mit vierzig Jahren war eine Traumfrau eine lächerliche Figur.

Marlene bog rechts ab, nach wenigen Schritten stand sie auf dem Gendarmenmarkt. Wenn sie jetzt Rollerskates gehabt hätte, sie würde sausen, ohne Rücksicht auf pikierte Blicke morgendlicher Berufsmenschen, sie wäre um den französischen Dom gesaust und hinüber bis zum Hilton, sie liebte diesen Platz, man konnte die Arme ausbreiten, man konnte fliegen. Ihr Herz kroch die Kehle hoch, es wollte explodieren, rennen, bis das Blut in den Haarwurzeln pumpte. Aber sie trug die falschen Schuhe, der Schweiß wäre ihr die Arme heruntergelaufen, sie hätte zum Duschen nach Hause gemusst. Marlene drängte alle seltsamen Anwandlungen zurück.

Neben dem Eingang des Französischen Doms hing ein Schild, Besichtigungen jeden Tag von zehn bis achtzehn Uhr, es war kurz vor zehn, sie trat näher. Drückte eine Schwingtür auf, stieg eine Treppe hoch, da saß eine Frau an einem Tisch und schloss eben eine Geldkassette auf, holte einen Stapel Eintrittskarten aus einem Plastikkorb, stellte eine Thermoskanne daneben.

"Guten Morgen," sagte Marlene. "Kann man schon auf den Turm?"

Die Frau schaute auf, es ist eine Hausfrau, dachte Marlene, ihr Leben spielt sich daheim ab, nicht hier, sie wird ihrem Mann Brote geschmiert haben, sie macht diesen Job, damit sich die Familie den Wohnwagen leisten kann, nachmittags wird sie schnell einkaufen und keinen Gedanken mehr an den Turm verschwenden.

"Es sind zwar noch fünf Minuten," antwortete die Frau, "aber gehen Sie ruhig. Ein Euro fünfzig. Haben Sie es passend?"

Marlene hatte und bekam einen Papierschnipsel in die Hand gedrückt. Sie stieg und stieg über Stufen, immer rund um den Turm herum, an vergitterten Fenstern vorbei, immer höher, und endlich war da eine Tür, Marlene trat heraus und atmete sofort auf. Sie hielt sich dicht an der Wand, nur nicht zu nahe ans Geländer, sie schaute auf eine Figur aus Bronze herab, der Rücken mit Taubendreck überzogen. Sie hob den Kopf. Die Stadt war uferlos, Baukräne ragten aus dem Dunst, die goldene Kuppel der Synagoge, Hochhäuser, Marlene stand da und versuchte, die Weite in ihr Herz zu ziehen. Ich will sie mit hinunternehmen, sie soll länger halten als nur diesen Augenblick, ich war noch nie auf einem Aussichtsturm in dieser Stadt, wieso eigentlich nicht. Nur Tauben hier und der Wind und der Dunst und darüber das matte Blau. Die Tür quietschte und ein Touristengrüppchen keuchte, lachte und lärmte und Marlene wurde wütend. Sie lächelte und nickte und sagte Guten Morgen, und während sie die Stufen wieder herunterstieg, fühlte sie, wie die Weite aus ihrem Herz verschwand, ausgetauscht wurde vom Halbdunkel des runden Treppenhauses, sie nickte der Frau zu, die in einer Zeitung blättert. Draußen auf dem Platz war sie kleiner als zuvor. Sie trat zurück und schaute hoch und konnte sich kaum noch vorstellen, dass sie eben dort oben gewesen war, die taubendreckbedeckte Figur, war es ein Löwe?, neigte sich zu ihr herab, nahm die Pfoten ans Maul, formte einen Trichter, rief: "Ami, go home," und selbst wenn das nur Einbildung war, was hatte das mit Marlene zu tun? Gar nichts.

Elf Uhr. Sie hätte sich mehr Zeit lassen sollen da oben, dann wäre es schon zwölf. Vier Euro siebzig hatte sie schon ausgegeben, so ging das nicht weiter, sonst war sie schon morgen blank. Marlene musterte die Hauseingänge, Buchhandlungen und Hotels, welche Richtung, welches Ziel, welche Absicht. Ich habe keine Lust mehr, dachte sie entmutigt und damit sie nicht in zehn Minuten zurück in ihrer Wohnung war, entschloss sie sich, zu Fuß zu gehen, trotz der falschen Schuhe, immer langsam, der Rückzug, noch fühlte sie sich wohl, sie wusste es genau: wenn sie die Tür aufgeschlossen hatte, würde die Stille sie erwürgen.

Ich berühre nichts, sagte Marlene mit jedem Schritt. Ich halte nichts fest. Einmal hatte sie eine Freundin besucht, es war ein Feiertag. Marlenes Freundin und ihr Mann hatten sich Turnschuhe angezogen und einen Waldlauf gemacht, nur Tina war noch da, die fünfjährige Tochter. Sie kniete vor dem Wohnzimmerglastisch, beugte ihren Kopf über kariertes Papier, ihre Hand umklammerte einen grünen Buntstift, ihre Locken verhängten ihr Gesicht, sie malte ein schiefes Osterei, legte den Stift aus der Hand und wählte einen roten, punktete und strichelte, lehnte sich zurück, um ihr Werk zu betrachten. Plötzlich sah sie hoch, zu Marlene, die auf dem Sofa saß, dem Kind zuschaute, rauchte, die Zeitschrift auf ihrem Schoß ungelesen.

"Liebst Du irgendwen?“, fragte Tina und ihre Augen waren riesig, blau und tief.

Das war keine der üblichen Fragen, auf die man dies und das antworten konnte, jedenfalls Marlene nicht. Eine ehrliche Antwort konnte und wollte sie nicht geben, sie fragte zurück: "Wen liebst Du denn?"

Tina punktete noch mehr rote Flecken in das grüne Osterei und erzählte von Petra, ihrer Freundin aus dem Kindergarten, von Olaf, von ihrer Mama, von ihrer Puppe und von ihrer Lieblingshose. Erst einen Tag später, auf der Autobahn, hatte Marlene sich Tinas Frage erneut gestellt. "Ich liebe niemanden." Was für eine scheußliche Antwort, schlimmer als ein Aspirin, das sich vorzeitig im Mund auflöst. Da hatte Marlene noch ein Auto gehabt, jetzt nicht mehr.

Marlene hob die Augen vom Straßenpflaster, zog die Blicke von den Schaufensterauslagen ab, lenkte sie auf die Passanten. Lieferanten, Gammlern und Geschäftsleute, Alte und Mittelalte strömten an ihr vorbei, Gleichgültigkeit im Gesicht, Erstaunen, Erschrecken, Ausweichen, Langeweile, Desinteresse. Zurückweisung. Ein Zwinkern. Ein Lächeln, eine angeekelte Grimasse. Wie gut, dass Marlene lief und alles wieder wegrutschte. Die grünen, braunen, blauen, grauen Augen. Unter Ponys, Glatzen, Hüten, Locken. War sie die einzige ohne roten Faden? Wussten die anderen alle, wohin sie wollten, woher sie kamen und wo sie morgen sein würden? Marlene lehnte sich an eine Schaufensterscheibe.

Sie wühlte in ihrer Handtasche nach der Zigarettenschachtel, führte einen Stängel zum Mund, das Feuerzeug flammte auf, und noch immer strömten die Passanten, aber jetzt waren sie etwas weiter weg.

Das war die letzte. Marlene knüllte die Schachtel zusammen und warf sie in einen grünen Mülleimer. Am besten schmiss sie ihr restliches Geld auch noch hinterher. Oder auch gleich die Wohnungsschlüssel. Das war dann fast eine Reise in ein fremdes Land. Marlene hielt ihr Portemonnaie fest. Bin ich verrückt? Ich bin eine Verliererin ohne Handlungsmacht.

Wenn sie einen Schwanz gehabt hätte, er wäre eingekniffen, so wie Marlene jetzt nach Hause zurückschlich, am frühen Vormittag, ein Gefangener, der freiwillig ins Gefängnis zurückkehrte, zu lange in Haft, er fand sich im fremden Draußen nicht mehr zurecht. Die Zeiten waren andere geworden, die Werte auch, es zählten andere Kräfte, es sind Erfindungen gemacht worden, von denen er keine Ahnung hatte und Marlene auch nicht.

Auf dem Rückweg kam sie an ihrem Tabakladen vorbei, lieber gleich noch ein Päckchen Zigaretten kaufen, damit sie ihren Adlerhorst heute auf keinen Fall mehr verlassen musste. Die dicke Frau hinter dem Tresen lächelte, man kannte sich seit Jahren.

„Oh,“ sagte Marlene, „Sie waren beim Friseur!“ Sie arbeitete sich durch eine Unterhaltung über den Sinn und Unsinn von Frisuren. Entweder eine akkurate Kurzhaarfrisur oder langes, glattes Haar, nur nicht jeden Morgen vor dem Spiegel stehen und föhnen, einlegen und frisieren, fand die Tabaks-Frau.

„Sie hätten auch die Zeit nicht,“ sagte Marlene, als sei das ein gewichtiges Problem, „Sie stehen jeden Morgen um halb fünf auf."

Ich hätte die Zeit, dachte sie, Turmfrisuren könnte ich bauen bis in den Himmel, aber was habe ich davon, mit dem Ding auf dem Kopf vor dem Spiegel zu sitzen. Sie griff nach der ZEIT, wenigstens viel zu lesen, lieber nicht den Tag entlang sehen, lieber nicht.

Zuhause zog sie die schöne Hose aus, die alte Leggins an, schloss die Tür ab. Die Katze lag auf ihrem Sessel, eine Katzenkugel, sie hob den Kopf nicht einmal, sie träumte mit zitternden Barthaaren.

Marlene setzte sich neben den Sessel auf den Boden, schlug die Zeitung von hinten auf, kleine überflüssige Texte, nichts Bedrohliches, und ehe sie es sich eingestand, studierte sie die Kontaktanzeigen, große, wortreiche Kontaktanzeigen von Männern Anfang fünfzig, erfolgreich, kosmopolitisch, hedonistisch. So einen müsste man haben, einen, der genug Geld hat, um sich einen Schmetterling zu leisten, einen schönen Schmetterling wie sie, das wäre die Lösung. Marlene hatte einmal auf so eine Anzeige geantwortet. Drei Wochen hatte sie von der Antwort geträumt, so wie man träumt, wenn man einen Lottoschein ausgefüllt hat. Aber es war keine Antwort gekommen, und das war schlimmer, als die falschen Zahlen angekreuzt zu haben: Irgendein Mann, irgendwo in Deutschland, ein reicher, einflussreicher, erfolgreicher Mann hatte sie gewogen und für zu leicht befunden, sie nicht einmal für wertgehalten, ihr eine Absage zu erteilen, das tat weh. "Ich kotze mich dermaßen an!“, sagte Marlene laut.

Sie ließ die Zeitung sinken. Es war auch falsch, die Anzeige eines Mannes zu beantworten, das war schon biologisch falsch. Ein Mann musste sich um eine Frau bewerben, nicht umgekehrt. Marlene angelte nach einem Stift und einem Block. "Wir fordern das Unmögliche, Katze", sagte sie, "sonst macht es keinen Spaß". Sie schrieb: Schöne Frau sucht Millionär, 38, 1,75, tänzerisch, gepflegt. Bitte mit Bild. Zwei Zeilen, einspaltig, siebenundneunzig Euro. Das gab das Konto zwar nicht mehr her, aber die Kreditkarte. Und was im nächsten Monat war, wer wusste das schon.

Marlene riss das Formular aus der Zeitung, füllte Buchstabenkästchen aus, trug ihre Adresse ein, beschriftet einen Briefumschlag. Wenn ich es heute abschicke, könnte die Anzeige nächste Woche in der Zeitung sein, vielleicht übernächste. Heute abschicken bedeutete: Aufstehen, wieder anziehen, wieder die Treppe herunter, zur Bank, mit der Kreditkarte einen Hunderter abzapfen, direkt in den Briefumschlag legen, sollen die in der Anzeigenabteilung doch sehen, wie sie das Geld verbuchen. Einen Scheck konnte Marlene nicht beilegen, den hätte die Bank nicht eingelöst.

Flucht aus dem Augenblick

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