Читать книгу Flucht aus dem Augenblick - Gabriele Bärtels - Страница 6
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Montagnachmittag bei der alten Dame. Obwohl Marlene jetzt schon ein Jahr zu ihr ging, waren sie immer noch beim Sie. Am Anfang überhörte Marlene geflissentlich, wenn sich die alte Dame vertat und sie duzte. Sie überhörte es, weil die alte Dame trank. Sie schwankte, wenn sie die Tür öffnete, während sich der Schäferhund an ihren knochigen, alten Beinen vorbei drängte, der schlecht erzogene Schäferhund, viel zu jung und zu stark für so eine alte Frau. Sie roch aus dem Mund nach Likör, taumelte vor Marlene her ins Wohnzimmer und sank in ihren Stammsessel vor dem Fernseher.
Sie nuschelte: "Wenn ich meinen Hund nicht hätte."
Dabei hatte sie alles. Zwei Söhne. Ihr Mann war Chefarzt gewesen. Über fünftausend Euro Rente im Monat, Marlene hatte es auf einem Kontoauszug gesehen. Aber sie liebte Bargeld. Einmal zog sie sechs Tausend-Euro-Scheine aus dem Portemonnaie und Marlene erschrak. "Ich will mir was kaufen können", hatte die alte Dame geschnappt. Aber sie kaufte sich nichts. Marlene hatte den Verdacht, dass sie mit der EC-Karte nicht zurechtkam oder ihr nicht traute. Sie hatte überlegt, ob sie dem Sohn davon erzählen sollte, aber sie tat es nicht. Die alte Dame hätte es nicht ertragen, nicht allein über ihr Geld verfügen zu können. Marlene fragte: "Warum geben Sie das Geld nicht aus? Sie könnten jeden Abend mit einem Taxi ins Theater fahren, direkt in die erste Reihe." Aber die alte Dame war nie ins Theater gegangen, ihr Mann musste doch immer arbeiten, sie hatte nicht einmal viel gelesen, nur ein einziges Buch. Die Caine war ihr Schicksal.
Marlene hatte viel Zeit gehabt, ihre Geschichte aus ihr herauszufragen, und auch wenn die alte Dame zusammenhanglos erzählte, auswich und verschwieg, so erfuhr sie doch, dass der verstorbene Mann der alten Dame zwanzig Jahre lang eine Freundin gehabt hatte.
"Aber ich war seine Frau", hatte die alte Dame gesagt, und ihre schönen Augen schauten zufrieden durch die Brille, die sie nie putzte. "Daran hat er sich immer gehalten." Die Freundin war seine Assistentin gewesen, die alte Dame hatte sie gut gekannt. "Nur im Urlaub", sagte sie, "hat er sie nicht angerufen, aber er schickte ihr Postkarten."
Gesprochen hatte sie mit ihm nicht darüber, mit ihr auch nicht, mit niemandem.
Irgendwann drehten sich alle Geschichten im Kreise und die alte Dame war jeden Tag betrunken. Sie lallte, dass die Kollegen-Ehefrauen ihres Mannes sie nicht gemocht hatten, es waren so unglaublich bornierte Frauen. Typisch, dass keine von ihnen sie nach dem Tod ihres Mannes einmal eingeladen hatte. Wahrscheinlich hatten sie Angst um ihre Männer gehabt. Sie war ja immer die Schönste, darauf war ihr Mann auch so stolz gewesen, er hatte ihr in jedem Urlaub neue Kleider gekauft. Marlene hatte alte Fotos betrachtet. Es stimmte, die alte Dame stand da wie eine blonde Königin.
Dann kam der Tag, an dem Marlene der Leier nicht mehr lauschen konnte, jedes Wort kam daher wie ein ausgelatschter Schuh.
Sie sprang auf und schrie: "Sie sind arrogant, wissen Sie das? Sie träumen immer noch davon, eine Königin zu sein, aber Sie sind besoffen, Sie torkeln und stinken aus dem Mund nach abgestandenem Alkohol. Schämen Sie sich nicht? Sie sind eine Zumutung. Wieso tue ich mir das an? Muss ich ja nicht!"
Marlene war hinausgelaufen, hatte von Zuhause den ältesten Sohn der alten Dame angerufen, ihm gesagt, er möge sich um seine Mutter kümmern, sie würde es nicht mehr tun.
Am nächsten Morgen hatte die alte Dame angerufen, mit nüchterner, dünner und mutiger Stimme. "Ich habe mich nicht gut benommen. Dafür entschuldige ich mich. Würden Sie vielleicht doch wiederkommen?"
Damit hatte Marlene nicht gerechnet.
Sie war wieder hingegangen, was hätte sie auch sonst tun sollen. Die alte Dame trank nicht mehr. Wahrscheinlich hatte der Sohn ihr ins Gewissen geredet, vor dem sie Angst hatte, das wusste Marlene. Sie fürchtete, dass er sie ins Altersheim schaffen würde. Marlene hatte der alten Dame oft gesagt, dass es dazu keinen Grund gab. Sie war schließlich nicht entmündigt, sie konnte sich wehren. Aber sie hatte sich nie gewehrt und deswegen war ihre Angst vielleicht berechtigt.
Für Marlene war es leicht verdientes Geld. Sie musste nur Kaffee trinken, rauchen und ab und zu eine Überweisung ausfüllen. Sie begleitete die alte Dame im Schlurftempo durch den Park, den ungestümen Hund an der Leine, der geiferte und zerrte und seine Kräfte nicht loswurde. Sie musste nicht putzen, nur reden. Oft wurde sie entsetzlich müde. Halbherzig schlug sie der alten Dame einen Ausflug vor. Sie war froh, wenn diese Nein sagte und drängte nicht weiter, rutschte tiefer in den Sessel im überheizten Wohnzimmer und schaute mit schweren Lidern heimlich auf die Uhr. Eine halbe Stunde noch. Dann konnte sie gehen. Dreißig Euro verdient.
Als Marlene einmal die Küchenschränke geöffnet hatte und die Lebensmittel mit abgelaufenen Haltbarkeitsdaten aussortieren wollte, stand die alte Dame in der Tür und machte ein sehr böses Gesicht. "Was machen Sie da? Wie kommen Sie dazu, meine Vorräte wegzuwerfen?"
Marlene erschrak. "Das ist doch alles abgelaufen", sagte sie. "Ich will nicht, dass Sie sich vergiften."
"Bin ich ein Pflegekind? Ich weiß das selbst. Ich verbitte mir das. Räumen Sie das sofort wieder ein." Sie wies mit einem knochigen Finger auf eine Tüte Mehl.
Marlene wollte sich aufbäumen, sie der Uneinsichtigkeit bezichtigen, ihr erklären, dass es zu ihrem Besten war, aber als sie der alten Dame in die aufgebrachten Augen sah, begriff sie, dass es darum nicht ging. Eine heiße Welle überflutete sie.
"Entschuldigung", stotterte sie verwirrt und mit schwachen Knien. "Sie haben Recht. Ich hätte fragen sollen."
Die alte Dame nickte heftig und wackelte wieder ins Wohnzimmer. Marlene stand in der Küche, das Mehlpaket in der Hand, kleinlich und sehr beschämt.
Jetzt saß Marlene wieder in dem überheizten Raum, wippte mit dem Fuß, nippte an kaltem Kaffee, schaute die alte Dame an, die vor dem Fenster saß und nur eine schwarze Silhouette war. Sie hätte wirklich eine Königin sein können, immer noch diese Haltung, dieses schwer beschreibliche Damenhafte. Stickzeug kringelte sich auf ihrem Schoß und auf dem Couchtisch lag eine Arbeitsvorlage aus einer Handarbeitszeitung mit einem Weihnachtsmotiv, eine rote Glocke mit einer grünen Schleife oben. Auch im Schlafzimmer lag Stickzeug. Eine angefangene Arbeit auf Stramin, die Fäden hoffnungslos verwirrt.
Marlene versenkte ihre Hand in das Fell des Schäferhundes, der zwischen der alten Dame und ihr auf dem Boden schlief und im Traum leise jaulte und knurrte. "Warum haben Sie sich auf Ihrer Geburtstagsparty eigentlich so dumm gestellt?"
"Bitte wie?"
"Ich habe Sie nicht wiedererkannt. Sie waren wie ein Pflegefall. Als hätten Sie geschauspielert."
"Ach", sagte die alte Dame wegwerfend.
"Doch" sagte Marlene und beugte sich vor. "Mir gegenüber trumpfen Sie auf, aber in Ihrer Familie geben Sie die Idiotin."
"Manchmal fährt man besser so", sagte die alte Dame. "Möchten Sie noch Kaffee?"
Marlene schüttelte müde den Kopf und suchte nach einem anderen Thema. "Zeigen Sie mir doch mal die Kleider, ich habe sie noch nie gesehen. Vor mir laufen Sie ja immer in Hose und Sweatshirt rum."
"Hat doch keinen Sinn mit dem Hund."
Marlene kämpfte sich aus dem Sofa. "Los, zeigen Sie sie mir."
Im Schlafzimmer legte sie sich quer über das Bett und der Hund hüpfte auf die Wolldecke daneben. Alle Wände waren mit Einbauschränken verkleidet. Die alte Dame öffnete eine Tür, zog ein knallrotes Sommerkleid heraus, hielt es hoch und glättete die Falten.
"So kann ich nicht sehen, wie es Ihnen steht," sagte Marlene. "Sie müssen es anziehen."
„Ach Gott!“, stöhnte die alte Dame, aber sie hob schon ihren Pullover hoch.
Nach einer Stunde hatte sie zehn Kleider anprobiert und sich in jedem vor dem Spiegel gedreht. "Mit den richtigen Schuhen ist es natürlich noch ganz anders." Die Kleider waren alle von derselben Modemacherin. Extravagante Kreationen, deren Farben und Muster manche Frau erschlagen hätten. Nicht die alte Dame.
"Ihnen fehlt nur noch ein Fächer", sagte Marlene.
Sie hatte ihre Blicke über den Körper der alten Frau wandern lassen. Die Taille war in trockene, faltige Haut gelegt. Die Brüste baumelten leer im weißen Baumwoll-BH, die Beine waren nur Knochen. Über die Unterhose und alles, was sich darin verbergen mochte, glitt sie schnell hinweg. "Sie sind viel zu dünn."
"Ach was, ich war immer schlank", sagte die Königin und zog mühsam ein grün-blau-gestreiftes Kleid über den Kopf. Ihr Haarknoten löste sich auf und ein dünner, weißer Zopf fiel herab. "Das habe ich nie getragen."
"Aber warum denn nicht? Es sieht klasse aus."
"Meinem Mann war es zu auffällig. Die Arzt-Gattinnen hätten mich scheel angesehen."
"Kann ich es mal probieren?"
"Sicher."
Marlene streifte die Jeans ab, das T-Shirt. Zog das Kleid über den Kopf, das die alte Dame ihr reichte. Strich es glatt, besah sich im Spiegel.
"Nicht übel." Marlene hoffte, die alte Dame würde es ihr schenken. Sie trug es sowieso nicht mehr, hatte es nie getragen.
Aber die alte Dame sagte nur: "Es ist fünf, der Hund wird unruhig."
Marlene räumte alle Kleider wieder ein, während die alte Dame sich ächzend bückte, um die Schuhe zu wechseln.
Regenschirm, Leine, Hund. Eine Runde um den Block. Marlene sagte: "Ich habe eine Kontaktanzeige aufgegeben." Sie sagte es nur so probeweise in die feuchte Luft.
Die alte Dame sagte: "Aha?", und dann lange nichts. Sie blieben stehen, weil der Hund von einem Baum nicht wegzuziehen war. "Was haben Sie denn geschrieben?"
Marlene erzählte es ihr.
"Soso. Na, dann mal viel Glück."
Marlene ärgerte sich.
Sie brachte die alte Dame nach Hause, wartete, bis diese ihr Portemonnaie gefunden hatte, was jedes Mal enervierende zehn Minuten dauerte, nahm das Geld entgegen. Das war ein Moment, der Marlene peinlich war. Sie sah die alte Dame nie an, wenn sie sich bedankte.
Eigentlich will ich weg von ihr, dachte sie jeden Abend, wenn sie das alte Haus verließ.
"Ich habe eine Kontaktanzeige aufgegeben", sagte Marlene zu dem schwulen Nachbarn, der Tür an Tür mit ihr wohnte. Manchmal trafen sie sich im Flur, beide keuchend, weil sie im fünften Stock wohnten und es keinen Aufzug gab. Johannes hatte dauernd eine neue Frisur, jetzt war es gerade eine Glatze. Er war zehn Jahre jünger als Marlene, arbeitete in einem schicken Möbelgeschäft und las gern amerikanische Möbelmagazine. Den jährlichen Ikea-Katalog im September entfernte er mit spitzen Fingern aus seinem Briefkasten und warf ihn sofort in den Müll.
"Willst Du´s jetzt noch mal wissen?“, fragte Johannes, während er seine Einkaufstüten vor seiner Wohnungstür abstellte.
"Was seid Ihr alle so blöd?“, fauchte Marlene.
"Was hast Du denn geschrieben?"
Marlene steckte den Schlüssel in ihre Wohnungstür und öffnete sie. Die Katze maunzte im Türspalt und schlich vorsichtig auf den Flur. Johannes hockte sich neben seine Tüten, um sie zu streicheln.
"Werd ich Dir noch erzählen, was ich geschrieben habe", sagte Marlene leicht beleidigt, aber sie blieb stehen.
"Erzähl schon."
"Schöne Frau sucht Millionär", verkündete Marlene.
Johannes Kopf senkte sich über die schnurrende Katze. Sein Nacken wurde rot, seine Glatze auch, seine Schultern zuckten.
"Lachst Du etwa? Katze komm! Mit dem wollen wir nichts mehr zu tun haben."
An diesem Abend entdeckte Marlene ein graues Schamhaar unter den braunen.
"Ich muss mich in eine andere Liga katapultieren", sagte Marlene laut zur Katze, um den Schreck zu verdauen. "Ich kriege Spinnweben zwischen den Beinen."