Читать книгу Der chinesische Vogelhändler - Gabriele Bärtels - Страница 4
Auf den Dächern
ОглавлениеDie menschenverlassene Innenstadt schläft, ihre Fenster sind schwarz, und auf den Dächern, an den Fassaden ihrer klassizistischen Universitätsgebäude, ihrer roten Türme, Renaissance-Kirchen und Museen aus dem 18. Jahrhundert wachen reglose Figuren aus Stein, Alabaster und Bronze.
Der Schein der Straßenlaternen zehn oder zwanzig Meter unter ihnen erreicht sie kaum noch, aber es ist Vollmond und darum glänzen grün angelaufene Rücken von Löwen, die sprungbereit auf einem Vorsprung sitzen, blinken in den Ausbuchtungen der Rathausfassade Speere von seit dreihundert Jahren erstarrter Feldherren auf, steht der dunkle Umriss einer Quadriga auf einem Stadttor, das schon lange keine Grenze mehr markiert, in halber Helligkeit. Ein Laserstrahl, der nächtlich von einem Giebel aus rotiert, huscht über den Himmel und sticht sein Grün in eine Wolke.
Auf der Dachkante des Historischen Museums hocken fünfzehn überlebensgroße graue Adler in genau gleichem Abstand voneinander und schauen scharf auf die Parkanlage herab, in der ein großer Springbrunnen steht, oder eigentlich ruht, denn die Fontäne wird nachts abgestellt. Auf dem Grund des Wassers glitzert ein goldenes Mosaik aus Meerestieren. Eine Reihe Gelehrter, jeder auf einer schmalen Säule, blickt vom Landgerichtsgebäude mit leeren Augen auf eine große Straßenkreuzung, vor der ein paar Autos parken, aber ohne zu verkehren. Dahinter beugt sich eine Brücke über einen Fluss, der am Stadtschloss vorbeiführt. Alles steht still, nur eine Ratte rutscht durch das Bild.
Wer weiß, warum es gerade in dieser Nacht geschah, vielleicht war Ostern oder Silvester, oder es ist überhaupt nicht passiert, aber jedenfalls regte sich der Fächer einer Königin, die über dem Hauptportal des Schlosses auf einem steinernen Thron saß, umgeben von Hofdamen, einem Vogelkäfig und einem Wappen, auf dem eine lateinische Jahreszahl aus lauter Buchstaben neben einer Tulpe stand. Der Wind kann es nicht gewesen sein, der den Fächer der Königin bewegte, denn die Fahne auf dem Dach wehte nicht. Als sie auch noch ihren Fuß vorschob, der beinahe ganz unter ihrem steinernen Rock verborgen war, und ein leises Schlurfen erklang, darauf das Rascheln von Seidenstoff, konnte man nicht mehr von Sinnestäuschung sprechen.
Und gleich darauf breitete der fünfzehnte steinerne Adler ganz rechts auf dem Museum seine Schwingen aus, lockerte sie flatternd, beugte sich leicht nach vorn über den Sims, stieß sich ab, segelte lautlos durch die Nachtluft, schwang sich in ihr empor und landete auf dem Dach des Theaters, auf dessen Ecke ein mit Taubendreck bedeckter Harlekin hockte. Der trug eine Maske vor dem Gesicht, die er jetzt herunternahm, um den riesigen, steinernen Vogel erstaunt zu betrachten, dabei zerriss ein staubiges Spinnennetz, das sich in seiner Armbeuge gebildet hatte.
„Wenn Du schon einmal hier bist“, sagte er in einem altertümlichen Italienisch, „kannst Du mich zu der königlichen Dame dort hinübertragen, die ich schon Jahrhunderte betrachte und täglich schöner finde.“
Der Adler antwortete nicht, er stieß nur einen schreienden Laut aus, der an den Fassaden und Giebeln, Säulen und Vorsprüngen widerhallte. Dann stieg der Harlekin auf seinen Rücken, krallte sich in den grauen Federn fest und flog über den Platz, den Springbrunnen, die Kreuzung, die Brücke hin zum Schloss, hoch auf das Dach, denn auf dem schmalen Sims, auf dem die Königin saß, raschelte und scharrte, konnte der Adler mit dem Harlekin nicht landen.
Beinahe gleichzeitig stießen sich die vierzehn anderen ab und kurvten in verschieden hohen Kreiseln an den Hauswänden hoch über die Dächer, Kuppeln und Türme. Überall, wo ihre Schwingen die Luft aufrührten, begannen sich große und kleine Fassadenfiguren zu bewegen, manche waren nur ein halbes Fabeltier, das den Hals reckte, eine Schlange mit sieben Köpfen, die sich um einen Wanderstab wandt, die Büste eines griechischen Philosophen, dessen Vollbart zitterte. Auf dem Schlossplatz schnaubte ein Reiterstandbild, und ein vierzig Zentimeter hoher, eiserner Jugendstilengel, dessen Flügel das Brückengeländer stützten, trat aus dem Gitter heraus auf das Kopfsteinpflaster, hinterließ seinen Ausschnitt, aber drehte sich nicht danach um. In kleinen Schritten strebte er über die Brücke in den Park, auf den Springbrunnen zu. Seine langen Haare endeten in Wellen.
Der Harlekin legte sich bäuchlings auf das Dach des Schlosses und schaute von dort auf die Königin herab, die sich noch immer kühlende Nachtluft zufächelte. Ihre Hofdamen hatten sich schon herumgedreht und waren die Sandsteinwand herunter geklettert. Dabei hatten sie mit ihren zierlichen Füßchen auf die Köpfe der Vertreter der Zünfte getreten, die eine Etage tiefer ein Band um die Fassade zogen. Einer ließ vor Schmerz seinen Zirkel fallen, der andere senkte seinen Schmiedehammer und lächelte schief. Die Hofdamen entschuldigten sich tuschelnd, rafften ihre Röcke und machten die ersten Schritte auf den Vorplatz, in dessen Mitte das schnaubende Reiterdenkmal stand. Sie liefen noch steif, aber sie kicherten, denn das Pferd war von seinem schwarzen Marmorsockel heruntergesprungen und bockte mit bronzenen Hinterläufen, während der Pickelhelm des Reiters, der ein Kaiser war, hin und her rutschte.
Der Harlekin spitzte die Lippen und pfiff. Die Königin hob ihr Kinn und entdeckte einen Kopf über der Regenrinne, keine zwei Meter entfernt. Der Harlekin sagte: „Schöne Dame, Sie gefallen mir schon eine Weile.“
Die Königin senkte das Kinn wieder und antwortete: „Ich habe Sie noch nie gesehen.“ Sie sprach Französisch, aber das war kein Problem. Dann klappte sie ihren Fächer zu und steckte ihn in ihr Ridikül aus Stein.
Der Harlekin lachte laut, und das Echo tanzte über den Platz. Für einen Augenblick hielten alle Figuren, die sich über Mauervorsprünge und Säulen hoch und herunter tasteten, still und sahen sich nach dem Lachen um. Doch es hatte sich schon in Luft aufgelöst, und so wandten sie sich wieder ab und balancierten die Balustraden entlang. Bald konnte man einen von Autoabgasen schwarz gewordenen Marmordichter, der sich durch ein Buch auswies, auf dem Rand des Springbrunnens neben dem Jugendstilengel sitzen sehen, im Begriff, die Füße ins Wasser zu stecken. Er war aus einem Winkel der Bibliothek herabgestiegen. „Ich wollte schon immer mal baden“, zirpte der Jugendstilengel, „aber nicht im Fluss.“ Er sprang vor den Füßen des Dichters in das Becken, und das Mosaik auf dem Grund wurde unscharf und wellte sich golden.
„Sie lügen“, sagte der Harlekin auf die Königin herab: „Wir stehen uns seit Jahren gegenüber.“
„Davon weiß ich nichts“, antwortete sie und griff mit beiden Händen in ihr hochaufgetürmtes Haar.
„Ich komme herunter“, sagte der Harlekin, und in seiner Stimme war ein dunkles Raunen.
„Unterstehen Sie sich“, sprach scharf die Königin. Sie sah nicht, wie er grinste, als sie die Hände wieder in den Schoß legte.
Ihr Blick ging hinaus auf den Schlossplatz, wo es nun von Figuren wimmelte. Zwei Putten hatten sich des Pferdes bemächtigt, das den kaiserlichen Reiter längst abgeworfen hatte, und jagten es über die Kreuzung. Sie hielten direkt auf einen vor der Ampel parkenden, rostigen Renault zu, in dessen Seitenscheibe ein Schild klebte, dass er zu verkaufen stand, aber der Hengst scheute vor dem Hindernis und stieg und wieherte, bis die Putten ihre kleinen Flügel wie Kolibris rotieren lassen mussten, um wenigstens noch die fetten Händchen am Zügel zu halten. Die Königin lachte.
„Ich möchte hinunter“, sagte sie, „warum hilft mir niemand?“ Sie sah sich nach ihren Hofdamen um, aber entdeckte nur noch die Vertiefungen, die deren Steinfüße in den schmalen Sims gedrückt hatten. Sie schob das Wappen zur Seite – eine schwere Platte, stand auf, schüttelte ihre Röcke aus, Kiesel und Sand rieselten herab und eine halbverweste Zigarettenkippe. Sie senkte ihren Blick, fünf Meter zum Boden, schwankte, hielt sich an einer Rosette fest. Kein Laut entfuhr ihr.
„Sie sollten lieber zu mir hochkommen“, flüsterte der Harlekin in Bühnenlautstärke. „Sehen Sie die Rosengirlande? Die hängt schon so lange hier zu Ihrer Verzierung. An der können Sie wie an einer Leiter emporsteigen.“
Er sah ihr Gesicht nicht, nur ihren Haarkranz, sie schien ihn nicht gehört zu haben. „Es ist schön hier oben“, lockte er, „glauben Sie mir. Ein herrlicher Ausblick, auch wenn die Dächer momentan etwas in Unordnung sind.“
Ein Wetterhahn flog dicht an seinem Kopf vorbei, und der Harlekin duckte sich.
Die Königin sah hilfesuchend nach ihren Hofdamen und entdeckte sie unten am anderen Ende des Platzes. Die eine legte im Schein einer Laterne dem vom Pferd gefallenen Kaiser ein steingraues Taschentuch auf die Stirn, das sie in eine Pfütze getaucht hatte, die andere stand staunend vor der Ampel und sah zu, wie gelb, rot und grün sich abwechselten. „Sie hat immer gegen die Schlossmauer gucken müssen“, sagte die Königin entschuldigend.
Dann schwieg sie, und auch der Harlekin schwieg, und ein Luftzug regte sich und ließ die Fahne auf dem Schloss hochwehen, und ein Mathematiker, der an der Universität schräg gegenüber klebte, hieb dem Theologen neben sich sein Dreieck über den Kopf. Dabei bröselte etwas Putz herunter.
„Also gut“, sagte die Königin und gab damit zu verstehen, dass sie den Harlekin von jetzt an zur Kenntnis nahm. „Wie soll ich es machen?“
„Einen Fuß nach dem anderen, die Röcke stecken Sie besser hoch.“
Die Königin drehte ihr Gesicht schräg zu dem Kopf, der über der Dachrinne hing. Dazu gesellte sich ein Arm. „Ich werde Sie halten.“
„Aber bitte nicht an den Haaren ziehen“, sprach die Königin von oben herab, was ein Kunststück war. Dann umklammerten ihre Handgelenke die steinige Rosengirlande, die gab etwas nach, doch hielt im Großen und Ganzen und schlängelte sich an der Mauer hoch, sodass die Königin ganz bequem emporklettern konnte. Auf dem letzten Meter kam ihr der Harlekin entgegen, griff ihr unter die Schulter, zog sie über die Rinne, den Rand. Dabei riss eine Steinschleife an ihrem Busen, und sie verlor an Haltung, als sie ein Bein über die Kante schwang, doch sie richtete sich gleich wieder auf.
Herrlich war es hier oben, und die Fahne klirrte leise gegen den Mast. Sie blickte über das kiesbedeckte, flache Dach, der Wetterhahn fehlte auf der stuckverzierten Kuppelspitze, die noch höher lag, als dort, wo sie jetzt standen. Der Harlekin war einen Schritt zurückgetreten und versuchte, etwas Taubendreck von seinem Ärmel zu streifen.
Unten am Brunnen war der Jugendstilengel neben den Füßen des Marmordichters aufgetaucht und hatte ihm verkündet, dass er ab jetzt ein Fisch sein wolle und nie wieder ein Brückenengel, und ob der Dichter wisse, dass an dessen Füßen je zwei Zehen zusammengewachsen seien, was ein Zeichen dafür war, dass er auch ein Meerestier sein musste. Das interessierte den Dichter nicht, dessen Blick lange Zeit auf diese Füße gerichtet gewesen war. Er legte sein Buch zur Seite und sah versonnen zu der Quadriga auf dem Tor hoch, die wie ein Lichtschein vorwärtsdrängte. Sein Blick wurde von dem grünen Laserstrahl gekreuzt, und er riss erstaunt die Augen auf. Weil der Engel keine Antwort erhielt, tauchte er wieder unter, schlug mit den Flügeln und zog seine langen Haare in Wellen durch das Springbrunnenbecken.
„Erkennen Sie mich nun?“, fragte der Harlekin auf Altitalienisch, und die Königin nickte auf Französisch mit dem Kopf. „Tatsächlich“, sagte sie kühl, „Sie sind vom Theater.“
Sie schritten Seite an Seite am Dachfirst entlang, wobei der Kies knirschte und Steinchen über den Rand rollten, aber die trafen die kupfergrünen Löwen nicht, die im Mondschatten der Schlosswand entlang schlichen. Sie kamen von der Orangerie und waren auf Taubenjagd, und sie brüllten nicht, weil sie sie schlafend erwischen wollten.
Der Marmordichter hatte seine Füße aus dem Springbrunnen gezogen und war durch die Parkanlage geschlendert, an einer alabasterweißen Aphrodite vorbei, die sich rekelte, der er aber keinen Blick schenkte. Er sah nun am Historischen Museum hoch, von dem die Adler abgeflogen waren. Ein paar Jagdhunde, die aus dem Relief eines Frieses gestiegen waren, hatten sich des Daches bemächtigt, sie jagten einander über die grauen Schindeln, und wenn sie die Richtung wechselten, sah man sie nur noch als flache Platten.
Aus welchem Jahrhundert sie stammten, fragte sich der Dichter, dessen Leben sich nur um sich selbst gedreht hatte, aber das war schon lange her. Er schlenderte über den Platz auf die Universität zu, auf der Suche nach einem Gelehrten aus dem Giebel, der ihm diese Frage beantworten konnte.
Die Königin lehnte sich an den Fahnenmast und sah weit über die Stadt. Der Fernsehturm blinkte, und hinter ihm standen Häuser, die das Schloss in der Höhe weit überragten, doch ihre Fassaden waren glatt und gerade und in ihren quadratischen Fenstern brannte elektrisches Licht. „Das war mal mein Zuhause“, sagte sie, und trat mit dem Fuß in den Kies, damit der Harlekin begriff, was sie meinte. „Ich kenne jeden Gang und jeden Saal und jedes Ahnenporträt, und jetzt schaue ich zu, wie viele Menschen Eintritt bezahlen, um durch mein Leben zu laufen.“ Sie wandte ihren Kopf nach dem Harlekin, der auf der anderen Seite des Fahnenmastes lehnte, und sie tauschten dicht voreinander Blicke.
„Ich hatte solch ein Zuhause nie“, sagte der Harlekin und sah sie weiter an.
Vom Museum klang Hundekläffen herüber und irgendwo im Park hatte sich eine Gruppe steinerner Musikanten zusammengefunden, ein Gerippe spielte Leier, ein Papst Harfe, ein Feldherr schlug eine Trommel. Eine Hofdame tanzte dazu, aber ein wenig ungeschickt, während die andere noch immer vor der Ampel stand. Der Bronzekaiser ging breitbeinig und mit der Pickelhaube unter dem Arm zu seinem Sockel zurück, schwang sich mühsam hoch, hockte sich in seiner Rüstung in die Mitte des Marmorblocks und hoffte, dass sein Pferd den Weg nach Hause fand.
Die Königin lächelte, und etwas Moos platzte von ihren Wangen ab. „Wollen wir uns lieben?“, fragte sie den Harlekin und sah dabei weit weg.
„Wir lieben uns doch schon“, antwortete der Harlekin und griff mit seiner Hand um den Nacken der Königin. „Es ist das Beste, das man tun kann in dieser Nacht.“ Es knirschte, als sie sich umwandte.
Der Mond zog seinen Bogen über die Kuppel des Schlosses, und als der erste Sonnenstrahl den Wetterhahn traf, der sich auf ihrer Spitze quietschend drehte, war doch wohl alles nur eine Sinnestäuschung gewesen, denn die fünfzehn Adler saßen in regelmäßigen Abständen auf dem Historischen Museum, genauso, wie sie seit seiner Erbauung darauf gesessen hatten, der Kaiser hielt sein Bronzeross stolz zwischen den Beinen, der Dichter lehnte in einem Fassadenwinkel der Bibliothek, sah auf seine Füße, hielt ein Buch in der Hand, und die Hofdamen reichten der Königin auf dem Schlossportal Früchte. Nur auf der Wasseroberfläche des Springbrunnens im Park trieb ein ertrunkener Jugendstilengel aus Eisen, denn er war doch kein Fisch und hatte sich beim Tauchen übernommen. Am Morgen fand ihn der Handwerker, der die Fontäne anstellen wollte, auf dem goldenen Mosaikgrund; man schrieb die Tat einem Verrückten zu.
Fünfzig Jahre dauerte es, bis ein Fassadenrestaurator bemerkte, dass der Harlekin auf dem Dach des Theaters einen Fächer in der Hand trug, der aus einer ganz anderen Zeit stammte. Dass dieser Fächer in der Hand der Königin im Schlossportal fehlte, fiel erst zehn Jahre später auf. Ein Kind, das mit einem Fernglas spielte, entdeckte das Loch in der steinernen Hand der Königin. Aber niemand interessierte sich dafür, es war Krieg, das Schloss wurde bald darauf ganz zerstört, und den Harlekin hatte eine Granate getroffen.