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Ministermärchen

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Es war einmal ein König, der hatte sieben Minister. Jeden hatte er sorgfältig ausgesucht, denn er wollte die Belange seines Reiches in die besten Händen legen. Für die Bildung des Volkes und die Kunst ernannte er einen Mann, der insgeheim sein Lieblingsminister war, denn er besaß mehr Witz und Fantasie als die anderen.

Dieser Minister war außerdem fleißig und ein Meister seines Faches. Nicht nur dem König, sondern auch sich selbst hatte er versprochen, seine Aufgabe bestmöglich zu erfüllen. Und das tat er Jahr um Jahr. Morgens in seinem Amtssitz war er der Erste, arbeitete sich durch komplizierte Gesetzesparagrafen, leitete endlose Sitzungen und stand den Regierungsmitgliedern Rede und Antwort, wenn sie seine Entscheidungen kritisierten. Das taten diese gern, denn er war ihnen ein leises, dauerndes Ärgernis. Er weigerte sich nämlich, die Ministerperücke aufzusetzen, welche die anderen sechs Minister selbstverständlich trugen, obwohl sie auf der Kopfhaut kratzte und bei Hitze schier unerträglich war.

Das Volk müsse einen Würdenträger doch auf den ersten Blick erkennen können, warfen sie ihm vor. Und dass er durch seine Weigerung den nötigen Respekt vor seinem Amt und dem König vermissen lasse. Bei jeder Audienz beschwerten sie sich darüber, doch der König winkte ab und sprach: „Seine Aufgabe erfüllt er besser als Ihr Eure.“ Solche Worte machten den perückenlosen Minister bei den Würdenträgern natürlich nicht beliebter. Dieser fühlte sich durch das königliche Lob doppelt verpflichtet.

Wenn den Sekretären abends die Erschöpfung aus allen Poren drang, ließ sich ihr Dienstherr noch in seiner bronzenen Kutsche (Gold war dem König vorbehalten) durch das Land fahren. Er eröffnete Schulen und Feste, verlieh Preise und hielt Lobreden auf herausragende Künstler. Keinen Tag, auch am Wochenende nicht, kam er vor Mitternacht nach Hause, und kannte seine Frau eigentlich nur noch schlafend.

Wenn er sich neben sie legte, dachte er selten daran, dass er einmal ein anderes Leben geführt hatte, eines, in dem Zeit keine Rolle spielte, weil sie nicht fehlte. Es war ein Leben mit Familie, Freunden, Reisen, Musik, Büchern und seinem Steckenpferd, der Entwicklung eines Wagens, der nicht von Pferden gezogen, sondern von einer Maschine betrieben wurde. Aber diese Jahre waren so verblasst, dass ihm nicht einmal mehr einfiel, woher seine Maschine eigentlich ihre Energie beziehen sollte. Sie stand verstaubt in einem Schuppen und rostete vor sich hin, genau wie eine wertvolle Geige, auf der er einmal recht eindrucksvoll gespielt hatte.

Wenn der Minister sich morgens, immer noch müde, seine Amtstracht anlegen ließ, ging ein Ruck durch ihn. Er richtete sich auf und sprach: „Ich bin ein Diener des Landes.“ Irgendwelche Träume, die er in der Nacht gehegt haben mochte, waren im Tageslicht verdunstet. Schon in der Kutsche auf dem Weg zu seinem Amtssitz legte ihm sein Sekretär die Eingaben, Anträge, Beschwerden und Dringlichkeiten vor, die am Tag zuvor unbearbeitet geblieben waren. „Ich müsste mich verdoppeln und verdreifachen“, lächelte der Minister seufzend, denn er lächelte gern und war viel zu höflich, um sich zu beklagen.

Am Nachmittag dann hatte er drei Reden in drei verschiedenen Städten zu halten, anlässlich der Eröffnung einer Volksschule, der Eröffnung eines Museums und der Eröffnung eines Theaters. Und er hastete durch den Tag, um alle Aufgaben zu erledigen, bis die Kutsche vorfuhr, die ihn von einem Termin zum anderen bringen sollte. Dem Kutscher befahl er, die Pferde anzutreiben, und so ratterten sie in Höchstgeschwindigkeit über matschige Landstraßen und krumme Kopfsteinpflaster, und er schaute nicht aus dem Fenster, sondern versuchte, sich seine Reden einzuprägen, um sie nicht durcheinanderzubringen. Beim Theater kam er trotzdem mit Verspätung an.

Dort wartete das neugierige Volk in Scharen auf ihn, wie überall, wo er auftauchte, denn das Land war groß und Minister selten. Doch gewöhnlich erkannte das Volk ihn nicht, bevor er an das Rednerpult trat, denn er trug ja keine Perücke. Deswegen hatte sich sein Sekretär angewöhnt, drei Schritte vor ihm herzulaufen und zu rufen: „Platz da! Der Minister kommt!“, obwohl das jenem nicht recht war. Doch heute war der Sekretär zufällig heiser und konnte gar nichts rufen.

Theaterleute sind bekanntlich ein buntes Volk. Unter ihnen gab es jugendliche Liebhaber, Harlekine, Prinzessinnen, sogar Artisten und Zauberer. Als der Minister sich unerkannt seinen Weg durch die wartende Menge bahnte, trat er versehentlich einem Paradiesvogel auf den Fuß. Dieser schaute überrascht auf und wollte schon „Du Depp!“ schimpfen, doch als er in die Augen des Ministers blickte, meinte er, in dem Fremden einen vertrauten Artgenossen zu erkennen, denn die Wimpern des Ministers waren derart lang geschwungen, dass sie gut und gern als Flügel durchgehen konnten. Unwillkürlich drang aus dem Schnabel des Paradiesvogels eine kurze Flötenmelodie, von der er gar nicht wusste, dass er sie beherrschte.

Den Minister durchfuhr bei diesen Tönen ein kleiner, schöner Schrecken, den er sich nicht erklären konnte. Für seine Ungeschicklichkeit entschuldigte er sich vielmals bei dem schillernden Vogel, bis der Sekretär ihn weiter drängte, hinein in das neu errichtete Theater, hinauf auf die Bühne, an das Rednerpult. Dort fasste er sich wieder und hielt genau die richtige Ansprache, wurde bejubelt und von den örtlichen Amtsinhabern gepriesen, denn für die hiesige Gastronomie war die Eröffnung ein Gewinn, zudem kamen zahlreiche Theaterleute in Lohn und Brot. Nur einen einzigen suchenden Blick nach dem Paradiesvogel mit den dunkelschimmernden Augen und dem Regenbogen-Gefieder erlaubte er sich. Er meinte, ihn im Halbdunkel an einer Wand gelehnt zu erkennen, doch es mochte auch eine Täuschung sein. Zehn Minuten später musste der Minister weiter, die dampfenden Kutschpferde waren gar nicht ausgespannt worden, sein Sekretär wies dreimal auf den Zeitverzug hin, und so hörte er zwar noch das Klatschen des Publikums, aber da war er schon an der Stadtgrenze, schneller, schneller zum nächsten, verspäteten Termin.

Der Paradiesvogel hatte allerdings im Halbdunkel an der Wand gelehnt, noch ganz im Bann des Augenblicks von eben und sehr verwirrt, dass der Artgenosse, den er zu erkennen geglaubt hatte, keiner war, sondern ein Mitglied der königlichen Ministerschaft. Er lauschte dessen witziger, fantasievoller Rede, lachte mit der Menge, beobachtete aber, dass der Redner sekundenlang so grau wurde wie die Mauer hinter ihm und so müde wie ein alter Hund. Er sah auch, mit welcher Entschlossenheit er sich wieder aufraffte.

Während das Theatervolk Wein trank und tanzte, weil es nun eine Heimat hatte, flatterte der Paradiesvogel nach draußen. Es begann schon dunkel zu werden, doch die Reifenspuren der ministrablen Kutsche erkannte er noch im Matsch. Rollen für Paradiesvögel waren in Theaterstücken selten, daher war er der Einzige, der hier keine Heimat finden würde. So breitete er die Flügel aus und flog zurück in sein Nest.

Dieses Nest befand sich hoch in einem Baum und war nur mit dem Nötigsten ausgestattet. Das einzige, was der Paradiesvogel im Übermaß besaß, war Zeit, Fantasie und eine ihm selbst manchmal unheimliche Gabe der Erkenntnis. Er schaute an seinem Gefieder herab und fand, dass es einmal stärker geglänzt hatte, und hier und da einige Federn fehlten. Er fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis er einem gerupften Huhn glich. „Ich müsste gerettet werden“, flötete er so leise, dass es unten auf der Erde kaum noch zu hören war. Früher hatte er mal laut gesungen, denn auf seine Weise wollte er auch ein Diener des Landes sein, doch darüber hatten sich zu viele Leute beschwert. Früher hatte er außerdem öfter gesagt, was er erkannte, das mochten die Leute ebenfalls nicht, obwohl solche Wahrheiten ihnen womöglich weitergeholfen hätten. Sie hatten Beweise gefordert, die ein Paradiesvogel allein nicht erbringen konnte. Eine gewisse Trauer bemächtigte sich seiner, die schluckte er sofort herunter. Es war besser, sich ein fröhliches Lied auszudenken.

Unterdessen war der Minister in seinen Amtssitz zurückgekehrt. Dort saß er bei flackernden Kerzen über den Akten, bis der Abendstern aufging. Obwohl er alles bei sich hatte, was er für seine Amtsgeschäfte brauchte, konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, am heutigen Tage einen Verlust erlitten zu haben. Doch ihm fehlte wirklich nichts, und so strich er diese lächerliche Anwandlung aus dem Protokoll.

Trotzdem drehte er sich in den folgenden Wochen immer mal wieder um. „Habe ich etwas verloren?“, fragte er seine Sekretäre. Die zuckten verständnislos die Achseln. Und weil er ohnehin keine Zeit hatte, darüber nachzudenken, tat er es auch nicht. Nur eine kurze Flötenmelodie ging ihm partout nicht aus dem Kopf.

Als er wieder einmal in einer Sitzung saß, in der seine Widersacher monotone, gänzlich unwitzige Reden schwangen, spürte er, wie seine Gesichtszüge nach unten sackten und er in einem Meer aus Mattigkeit versank. Um wach zu bleiben, kritzelte er mit seiner Feder auf das Pergamentpapier mit den Widersprüchen verschiedener Landesfürsten: „Ich bin ein stolzer Diener dieses Reiches.“ Und ohne, dass er es beabsichtigt hatte, entstand daneben das Bild eines Vogels mit Regenbogen-Gefieder und darunter ein paar musikalische Noten. Da erkannte er, dass sein anhaltendes Verlustgefühl etwas mit diesem Paradiesvogel zu tun haben musste. Ich müsste ihn aufsuchen, sagte er sich. Vielleicht kann er mir zurückgeben, was ich verloren habe, und dann bin ich wieder der Alte.

Wie er den Vogel finden sollte, wusste er allerdings nicht, und konnte auch niemanden fragen, denn dies vertrug sich nicht mit seiner Ministerwürde. Auch wollte er seinen Kollegen keinen Anlass geben, sich über ihn zu wundern. Allzu schnell wären solche Irritationen dem König zugetragen worden. Nach stundenlanger Sitzung erhob er sich schwer. Er hatte über die Jahre Gewicht zugelegt und Spannkraft verloren, denn er war zwar stets in Eile, bewegte sich selbst jedoch kaum noch, weil er mit der Kutsche schneller war.

Dem Paradiesvogel waren noch ein paar Federn ausgefallen. Man hatte ihn gebeten, auf einem Jahrmarkt aufzutreten, und er tat es, obwohl die Zuschauer betrunken grölten. Er trug ihnen seine Flötenmelodie vor, doch die kam nicht gut an.

„Lauter!“, brüllte das Publikum. „Schneller! Die Federn sind ja schön bunt, aber wo bleibt das Amüsement?“ Ein kleines Mädchen, das entzückt gelauscht hatte, wurde von seiner Tante fortgezogen.

Als der Paradiesvogel abends wieder in seinem Nest landete, dachte er, dass er schon deswegen keiner mehr sein konnte, weil es mindestens eine Person auf der Welt geben musste, die ihn als solchen erkannte. Es wurde höchste Zeit, sich in einen Spatzen zu verwandeln. Von denen gab es viele, sie wurden geduldet und im Winter von barmherzigen alten Mütterchen mit Sonnenblumenkernen durchgefüttert.

Der Minister hastete weiter durch seine Regierungsgeschäfte, unterschrieb Gesetze und dachte sich neue aus.

„Man hat das Gefühl, immer denselben Tag zu durchlaufen, denselben Berg abzutragen, aber irgendwie vergeht dabei doch alle Zeit“, sagte er einmal zu einem Sekretär, dem er eine Botschaft übergab, die dieser mit einer der ministrablen Brieftauben in den Königspalast senden sollte. Der Sekretär sah ihn verständnislos an, während er der Brieftaube die Botschaft in den Schnabel steckte und weil noch mehr Post zu erledigen war, vergaß der Minister sofort wieder, was er gesagt hatte. Stattdessen starrte er auf die Brieftaube und das Verlustgefühl kam wieder hoch. „Bringen Sie mir eine davon“, befahl er, „dann können Sie nach Hause gehen.“

Lange saß er vor dem gurrenden Tier, das der Sekretär in einem kleinen Käfig hereingetragen hatte, viel zu lange, dann griff er nach Pergamentpapier und schrieb: „Sehr verehrter Paradiesvogel, ist es möglich, dass Sie etwas haben, das mir verloren gegangen ist?“

Eigenhändig öffnete er das Fenster und ließ den Vogel frei. Danach schalt er sich für seine dumme Idee. Der Vogel wusste ja gar nicht, wohin er fliegen sollte, und er selbst nicht, wonach er überhaupt fragte.

Man soll Vögel nicht für dumm halten und Brieftauben schon gar nicht. Diese schwang sich in den Himmel und ließ sich von den Luftströmungen tragen, die sie geradewegs zum Baum führten, in dem der Paradiesvogel wohnte. Weil sie eine Hochleistungsbrieftaube war, ließ sie ihre Botschaft zielgenau in das Nest fallen, oder besser: dem Paradiesvogel auf den Kopf. Dann flog sie eine Kurve, landete auf dem Nachbarbaum, wo eine hübsche Ringeltaube gurrte, mit der sie die Nacht verbrachte.

Der Paradiesvogel las die kurzen Zeilen der Botschaft wieder und wieder und konnte es nicht fassen. Nein, natürlich besaß er gar nichts, aber was der Minister verloren hatte, war offensichtlich. „Er müsste auch gerettet werden“, flüsterte er, wobei sein Schnabel klapperte. Die ganze Nacht lang überlegte er, ob er ihm das schreiben sollte, doch dann kam er davon ab. Zu oft hatte er die Erfahrung gemacht, dass Leute Fragen stellten, ohne die Antwort wissen zu wollen. Die kannten sie häufig ohnehin selbst, wollten aber die Konsequenzen nicht ziehen, die sich daraus ergaben, die durchaus umstürzlerisch sein konnten. Und wenn ihm die Antwort auch im Schnabel brannte, es nützte nichts. Der Minister musste selbst darauf kommen, er konnte ihm bestenfalls einen Anstoß geben.

So drehte er das Pergamentpapier um und feilte an der Antwort, die er hinten drauf schrieb, und zwar nicht mit Tinte, weil er so etwas Wertvolles nicht besaß, sondern mit drei Tropfen seines eigenen Blutes. „Sehr verehrter Herr Minister, was Sie verloren haben, ist nicht bei mir, aber falls Sie mir nicht glauben, sind Sie herzlich eingeladen, sich davon zu überzeugen.“ Darunter setzte er seine Adresse.

Als der Morgen anbrach und die Tauben auf dem Nachbarbaum nicht mehr miteinander schnäbelten, gurrte er lockend, denn er beherrschte viele Sprachen. Die Brieftaube flog sofort auf, pickte nach der Botschaft und trug sie durch die Lüfte zurück zum Sitz des Ministers, über die Köpfe der Wächter und Sekretäre, direkt in das Amtszimmer, wo der Empfänger sich schon über die ersten Depeschen beugte und Einsparpläne ausbrütete.

Als die Botschaft auf seinen schweren Eichenschreibtisch fiel, durchfuhr den Minister derselbe kurze, schöne Schrecken, den er schon einmal empfunden hatte. Selbstverständlich kam es überhaupt nicht in Frage, dass er dem Paradiesvogel einen Besuch abstattete, trotzdem steckte er den Brief unter sein Hemd, als wenn er etwas Verbotenes enthielt. Dort behielt er ihn drei Monate, während eine Regierungskrise die andere jagte. Dass es ihm immer schwerer fiel, gut gelaunte Reden zu halten, konnte er vor sich selbst verbergen, denn ihm fehlte sogar für Unlust-Gefühle die Zeit. Außerdem hatte er dem König einen Eid geschworen und war ein ehrenwerter Mann. „So einer gibt nicht auf. Da müsst Ihr mich schon aus dem Amt jagen“, knurrte er, als die Ministerkollegen im Kabinett wieder darauf pochten, dass er keine Perücke trug. Einen Anlass würde er ihnen nicht liefern.

Als ihm seine Termine für die nächste Zeit vorgelegt wurden, war einer dabei, der ihn in der Stadt führte, in der er das Theater eröffnet hatte. Und schon spielte wieder diese Melodie in seinem Kopf, und er spürte dieses Loch im Herzen. „Das muss ein Ende haben!“, sprach halblaut und beschloss, sich einmal, nur ein einziges Mal, eine Handvoll Zeit zu stehlen, um den Paradiesvogel aufzusuchen, von dem er nur hoffen konnte, dass es ihn überhaupt noch gab.

Als er in der Stadt angekommen war und seinen Termin absolviert hatte, sagte er beiläufig zu seinem Sekretär: „Sie sehen dermaßen müde aus, dass ich es nicht verantworten kann, gleich wieder loszuhetzen. Gehen Sie doch in das Wirtshaus dort drüben und machen Sie eine halbe Stunde Pause. Ich werde mir inzwischen die Beine vertreten, das schadet ja nicht.“ Der erschöpfte Sekretär ließ sich das nicht zweimal sagen und verzichtete ausnahmsweise darauf, mahnend nach der Kirchturmuhr zu schauen.

Weil die Stadt klein war, fiel es dem Minister nicht schwer, das Wäldchen zu finden, das der Paradiesvogel als Adresse angegeben hatte. Unerkannt überquerte er die Hauptstraße und stand kurz darauf vor einem gewaltigen Baum, auf dem er hoch oben ein Nest ausmachte. Nun wollte er nicht rufen, um auf sich aufmerksam zu machen, da kam ihm die Melodie wieder in den Sinn. Er spitzte die Lippen und pfiff sie.

Minutenlang rührte sich nichts. Dann fiel ihm ein Zweig vor die Füße, er legte seinen Kopf zurück und entdeckte den schillernd gefiederten Paradiesvogelkopf über den Rand seines Nestes blicken. Obwohl er ihn nur kurz gesehen hatte und dies Monate her war, erkannte er ihn sofort. Was er nun sagen sollte, wusste er nicht, also winkte er nur.

Der Paradiesvogel breitete seine Flügel aus, stieß sich ab und segelte zu Boden. Wie sehr sein Herz klopfte, war durch sein Gefieder nicht zu erkennen. Als er gelandet war, blickte er auf und schaute dem Minister gerade in die Augen. Er las darin eine gewisse Hilflosigkeit, aber auch eine gewisse Wiedersehensfreude. Das gleiche erkannte der Minister in den dunkelschimmernden Augen des Paradiesvogels.

„Wollen wir ein Stück laufen?“, fragten beide gleichzeitig und hatten somit den besten Grund, die Augen abzuwenden, die sonst von einigem gesprochen hätten, dass jeder für sich zu peinlich fand, um es zu offenbaren.

In höflicher Konversation war der Minister geübter als der Paradiesvogel, also machte er den Anfang: „Ein schöner Tag, nicht wahr?“

Der Paradiesvogel nickte und versuchte, das Stück bloße Haut zu verbergen, wo ihm die Federn ausgegangen waren. Der Minister lächelte und versuchte zu verbergen, dass er sich auf einmal federleicht fühlte, als hätte es nie einen Verlust gegeben.

Sie wanderten Seite an Seite durch das Wäldchen, sprachen über das Wetter, die Ernte und die schönen Künste. Es war eine Plauderei ohne Absicht und Ziel. Als sie nach einer großen Runde wieder an dem gewaltigen Baum angekommen waren, sagte der Minister: „Ich dürfte hier gar nicht sein, deswegen muss ich jetzt auch fort.“

„Das müssen Sie wohl“, bestätigte der Paradiesvogel. Viel lieber hätte er bemerkt, dass er sich lange nicht mehr so gut unterhalten hatte. Und dass Männlichkeit mehr Facetten hatte, als der Minister meinte. Und dass man seinem Land auf verschiedene Weisen dienen kann. Und der Minister eindeutig ein Artgenosse war. Doch das alles schien ihm sehr zusammenhanglos und dazu noch aufdringlich.

„Sie sind ein selten schöner Vogel, bleiben Sie, wie Sie sind“, sagte der Minister noch, dann wandte er sich zum Gehen. Er ahnte nicht, dass er mit diesen wenigen Worten den Paradiesvogel davor gerettet hatte, ein Spatz zu werden.

Der Paradiesvogel schwieg, denn er war viel zu bewegt, um etwas zu erwidern. Er schaute dem Minister auch nicht hinterher, den er längst zu seinem Freund ernannt hatte, selbst wenn er ihn nie wiedersehen würde, doch darauf kam es nicht an. Er flatterte hoch in sein Nest und begann zu flöten, ganz neue Töne entrangen sich seiner Kehle, perlten von seinem Schnabel, es waren so viele, dass er damit eine ganze Oper hätte komponieren können. „Das kann ich doch tun!“, sprach er sich zu. Frischer Mut floss durch seine Adern.

Währenddessen rumpelte die bronzefarbene Kutsche über Stock und Stein. Der Minister klopfte an das Kutscherfenster: „Schneller Mann, schneller!“ Doch so eilig, wie sein Herz schlug, konnten die Pferde ihre Hufe nicht schwingen. In einer Kurve neigte sich die Kutsche gefährlich nach links, kam aus dem Gleichgewicht und kippte langsam in einen Misthaufen. Der Sekretär, der links gesessen hatte, landete mit dem Gesicht in der weichen, warmen Masse. Der Minister hatte Glück, denn er landete auf dem Sekretär. Die Käfige der ministrablen Brieftauben, die auf der Gepäckablage mitgeführt wurden, zerbrachen, und die Tiere flatterten panisch davon. Die Radachsen waren gebrochen. Der Kutscher weinte bitterlich, denn er liebte sein Dienstgefährt mehr als jeden, den er darin transportierte.

Das Volk, das in einer anderen Stadt auf den Minister gewartet hatte, drängte sich vergeblich auf dem Marktplatz. Der Bürgermeister, der wie in Trance auf das unbesetzte Rednerpult gestarrt hatte, räusperte sich jetzt und erhob die Stimme: „Die königliche Regierung hat uns im Stich gelassen. Dann muss ich wohl selbst eine Stegreif-Rede halten.“ Dies gelang ihm viel besser, als er befürchtet hatte. Er platzierte sogar einen wackligen Witz, das Volk klatschte begeistert, und den Minister vermisste keiner mehr.

Der stand inzwischen auf der Landstraße und schaute in beide Richtungen. „Niemals“, warf er sich vor, „hätte ich ausscheren dürfen!“ Ein Haus, ein Dorf, eine Stadt war nirgends zu sehen. Ein einsamer Reiter galoppierte vorbei, und der beschmutzte Sekretär versuchte, ihn aufzuhalten. „Geben Sie das Pferd her, der Minister braucht es!“ Der Reiter jedoch vermutete eine Falle und gab seinem Pferd die Sporen.

Es wurde dunkel, und kein Licht erhellte die Umgebung. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich für die Nacht hier einzurichten. Aus Gründen der Hierarchie bot der Sekretär dem Minister die einzige Wolldecke an, die dieser ablehnte. Von seinen beiden Untergebenen etwas getrennt, suchte er sich ein Lager im Straßengraben und schlang die Arme um sich selbst.

So viel Zeit zum Nachdenken hatte er Jahrzehnte nicht gehabt. Es war fast schon zu viel, denn nicht alle aufkommenden Gedanken waren schmerzlos. Lebte er überhaupt noch? Wen und was liebte er eigentlich? Brachte sein Einsatz das Land wirklich voran? Um nicht ganz elendig zu werden, summte er die Flötenmelodie vor sich hin, und tappte mit dem Fuß den Takt dazu. Wie würde sie auf einer Geige klingen? Im Gebüsch schrie eine Eule. „Uhuuu!“, antwortete der Minister, und fand das derart komisch, dass er kichern musste. Ohne sein Zutun wanderten seine Gedanken weiter zu einer rostigen Maschine, die irgendwo in seinem Schuppen lagern musste. Hatte er nicht einst versucht, damit ein revolutionäres Transportmittel zu betreiben? „Brmm, brmm“, machte der Minister.

Dass wenige Meter entfernt der Kutscher den Sekretär anstieß, bemerkte er nicht. Aber die Nacht war zu still und trug Geräusche zu weit, als dass er überhören konnte, was seine Untergebenen einander zuflüsterten: „Aus dem wird nie ein Würdenträger.“ „Das sieht ja jeder schon von Weitem, weil er partout seine Perücke nicht aufsetzen will.“

Und als am Morgen die erste Amsel ihre Arie anstimmte, begriff der Minister, was er seit Langem wusste.

Der chinesische Vogelhändler

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