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3. Wo sie damals ihre Sommerträume feierten - Mühle Slupp, Schloss Peterhoff
ОглавлениеDas Mühlengut Slupp gehörte lange Zeit der Familie Goldnick. Nach dem Tode ihres ersten Mannes heiratete Therese Goldnick Wilhelm Rosenbaum. Dieser verkaufte es nach dem Tode seiner Frau Therese 1905.
Unser Vater, Georg Leberecht Zimmermann, schrieb von seinem Besuch der Mühle Slupp anlässlich seiner Westpreußenreise im Sommer 1990 gemeinsam mit seinem entfernten Vetter Carl Wüst:
„Wir hatten lange vergeblich nach der Mühle Slupp, - betrieben vom Wasser der Ossa -, gesucht. Sie ist das Elternhaus meiner Großmutter Wüst, geborene Goldnick. Nun erfuhren wir, dass das Gut Sallno dort mahlen lässt, die Frau nebst ihren beiden Töchtern fuhr mit uns hin. Der Müller war unfreundlich und erlaubte uns das Fotografieren nicht. Während des langen Palavers zwischen Carl und dem Müller habe ich aber unbemerkt einige Aufnahmen gemacht. Die Mühle arbeitet noch voll. Carl kennt diese Gegend sehr genau, da er hier in der Schlacht am Mellnosee in den allerersten Tagen des Polenfeldzuges als Bataillonsadjutant sehr aktiv mitwirkte.“
Dr. Ernst Leberecht Wüst (der spätere Schuldirektor in Osterode, unser Urgroßvater) berichtet in seiner Chronik über seine heimliche Verlobung mit Martha Goldnick aus der Mühle Slupp. Im Sommer 1867 kam Therese Goldnick (geb. Schnackenburg) aus der Mühle Slupp nämlich mit ihrer 16 Jahre alten Tochter Martha nach Berlin, wo Ernst L. Wüst seit 1865 studierte. Er kannte Martha aus seinen früheren Sommerferien in Orle.
„Ich war mehrere Tage der ständige Begleiter der beiden Damen, machte mit ihnen Besorgungen, führte sie zur Besichtigung von Sehenswürdigkeiten und eines Abends auch ins Königliche Opernhaus. Da war es, als wir beiden jungen Menschen während einer Ballett-Aufführung nebeneinander sitzend, uns bei der Hand fassten, um uns für alle Zukunft nicht wieder loszulassen. Es lag ein köstlicher Reiz darin, die Heimlichkeit unserer Liebe zu bewahren und keinem von unserem Versprechen etwas zu sagen. Erst im Herbst desselben Jahres 1867 bei der Hochzeit meiner Schwester Auguste, die in Orle stattfand, merkten schärfer blickende Verwandte, was die Glocke geschlagen, und es fehlte in der nächsten Zeit nicht an solchen, die mahnten und Vorstellungen machten und Ratschläge erteilten und drohten. Was sollte auch ein Einverständnis zwischen einem noch die Schule besuchenden Mädchen und einem Studenten bedeuten? War es überhaupt ernst zu nehmen? Wir aber, die wir uns einmal die Treue versprochen hatten, hielten fest, kümmerten uns nicht viel um das Gerede der lieben Verwandten, schrieben uns gute und liebe Briefe und warteten.“
Erst Weihnachten 1868, als Ernst Wüst seine erste Anstellung als Lehrer in Königsberg erhalten hatte, kam es zur offiziellen Verlobung. Die Hochzeit fand im Oktober 1870 statt.
Auch im Sommer 1871 besuchten Ernst Leberecht Wüst und seine Martha die Mühle Slupp. Diesmal blieb die junge Ehefrau länger dort, weil sie ihr erstes Kind erwartete und weil der Haushalt in Königsberg zur Übersiedlung nach Danzig aufgelöst werden musste. Das Verbleiben in Slupp war für die junge Frau und ihr bald darauf geborenes Kind Ernst ein Glück, denn in den Monaten August und September 1871 wütete in Königsberg die Cholera, eine Seuche, deren Schrecken man sich heute kaum mehr richtig vorstellen kann.
Unser Urgroßvater Ernst Leberecht Wüst, brauchte sich auch später während seiner Zeit als Schuldirektor in Osterode nicht um Ferienreisen zu kümmern. Die Ferienzeit verbrachte die große Familie mit den Kindern meist auf dem Mühlengut Slupp bei der Mutter, bzw. Schwiegermutter bzw. Großeltern. Davon schreibt Ernst Wüst, der älteste Sohn des Schuldirektors, unser Onkel Viva:
„In Slupp wurde jeden Abend musiziert. Meine Großmutter und meine Mutter spielten beide hervorragend Klavier, besonders Chopin, - und daher stammt meine Liebe für diesen Komponisten. Dazu gesellte sich ein sehr guter Geiger: Inspektor Panschowski, der mit meiner Großmutter in der Dämmerung ohne Noten klassische Musik spielte, oft sich nur die Tonart zurufend. Es waren unvergessliche stimmungsvolle Abende. Im Musiksaal, dessen Fenster auf den Park gingen, war nur ein schwarzer Flügel aufgestellt, und an den Wänden rot gepolsterte Bänke. Im Park plätscherte leise die Fontäne, und die Fama erzählt, dass die Nachtigallen auf der Schwelle der weit geöffneten Tür saßen und zuhörten. – Außerdem spielten wir Vettern Quartett, leichte Musik, Ouvertüren, Zampa, Dichter und Bauer und mehr. Für die Zuhörer wohl nicht immer ein reiner Genuss, aber wir selber waren begeistert von unseren Leistungen.
Höhepunkt des Jahres waren Weihnachten und Neujahr. Im Saal standen drei riesige Tannenbäume, einer für die Familie, einer für das Gesinde, einer für die Hunde, mit Würsten behangen! Und Sylvester 24 Uhr erschienen alle Knechte vor dem Haus, und in der zauberhaften Kulisse des tief verschneiten Parks peitschten sie mit langen Peitschen das alte Jahr aus.“
Wenn man gleichzeitig Ziele in Raum und Zeit verfolgt, muss man früh aufstehen. Schlafen können wir zu Hause wieder. Um sechs Uhr klingelt der Wecker. Wir haben bei weit offenem Fenster prima geschlafen. Jetzt scheint schon die Sonne, so wie es sich für Sommer gehört, es ist windstill und warm. Vor dem Frühstück packen wir das Auto ein, Christoph und ich vertreten uns die Füße vor dem Hotel. Das Sträßchen scheint wie ausgestorben, wir sind die einzigen Gäste in der unauffälligen Siedlung.
Früh um acht Uhr sind wir wieder unterwegs. Was für riesige Dimensionen haben die Felder hier, die Landschaft ist so weit.
Und dann kommen wir an die Weichsel. Es gibt kaum Eindrucksvolleres als so mächtige, strömende Flüsse. Wir überqueren den Strom das erste Mal bei Thorn. Fahren langsam über die Brücke mit den hohen Stahlgerüsten. Das Wasser strömt silbergrau schimmernd unter dem hellen Sommerhimmel dahin.
Zum zweiten Mal sehen wir die Weichsel bei Graudenz, der Stadt mit dem geheimnisvoll düster klingenden Namen. Wieder gibt es so eine hohe Stahlbrücke. Wir sehen schon die Altstadt oberhalb der weiten Wiesen an der Uferböschung.
In den Weihnachtsferien 1870 besuchten die jungen Eheleute Ernst Leberecht Wüst und seine Frau Martha, (geb. Goldnick) Mühle Slupp, das Elternhaus der Martha. Von dieser ersten Reise als Ehepaar von Königsberg aus berichtet Ernst Leberecht Wüst in seiner Chronik:
„Eine Reise zur Winterzeit von Königsberg nach Graudenz und von Graudenz hinaus nach Slupp war dazumal mit erheblichen Strapazen und Fährlichkeiten verknüpft. Zwar die Bahnfahrt bis Warlubie an der Ostbahn war bald und leicht zurückgelegt, anstrengender und unbequemer war schon die Postfahrt von Warlubie bis zur Weichsel. Schlimm und gefährlich gestaltete sich erst die Überfahrt über den Weichselstrom, sobald dieser, wie es damals Weihnachten 1870 sich fügte, noch keine feste Eisdecke hatte, sondern „Eisgang“ herrschte. In großen und festen Booten, von starken und erfahrenen Fischern und Ruderknechten gerudert, mussten die Postreisenden Platz nehmen. Und nun begann zwischen den treibenden gewaltigen Eisschollen hin die Fahrt, bald gegen den Strom, bald der Strömung folgend, je nachdem eine Blänke, - also freies Wasser -, sich zeigte, eine Stunde und die zweite Stunde und dabei schneidende Kälte und eisiger Wind mit Schneetreiben. Wehe dem, der da nicht mit Pelzwerk und warmen Schuhen ausgestattet war.
Erst in der Nähe des Graudenzer Ufers war der Fluss zum Stehen gekommen, Bretter und Bohlen, hier bergauf, dort bergab führend, waren über die Schollen gelegt und bildeten eine Brücke, die nun betreten werden musste. Aus dem Kahn herausgehoben versuchte man festen Fuß zu fassen. Und siehe da, es glückte, und nun strebte man eilig dem festen Ufer zu, das endlich und mit Mühe erreicht wurde.
Graudenz
Mühle Slupp
Und bald war alle Gefahr wieder vergessen und in Tante Tinchens (das war eine vertraute Freundin der Rosenbaum-Familie, Schneiderin) Stube am warmen Ofen und bei einer Tasse heißem Kaffee wurde gefragt und erzählt, bis der Wagen aus Mühle Slupp vorgefahren war, der uns, die wir weiter noch in mitgebrachte Mäntel gehüllt wurden, aufnahm und uns nach weiteren drei Stunden von Graudenz über Salno und Orle an den Bestimmungsort brachte.“
Jenseits der Brücke und kurz unterhalb der historischen Altstadt finden wir einen Parkplatz. Wir gehen über Kopfsteinpflaster. Vor dem roten, hoch gemauerten Backstein-Stadttor, den hohen Häusern und den schon halb sichtbaren engen Gassen dahinter biegen wir aber über Betonplatten zum Wasser hinunter. Denn wir müssen natürlich mit den Füßen in den Fluss. Müssen die Weichsel hautnah zwischen den nackten Zehen spüren. Wir krempeln die Hosenbeine hoch, platschen über die dicken Steine und knietief ins Nass.
Augenblicke des Innehaltens, Atemholens, Umschauens den Strom entlang. Südlich seitwärts sehen wir die Brücke, dahinter eine Skyline von Hochhäusern. Vor uns die Altstadtkulisse mit wieder aufgebauten Backsteingemäuern und teilweise neuen, hellroten Ziegeldächern und sicher engen Gassen jenseits des Stadttors. Das lockt zwar, aber wir haben einen Zeitplan. Also schlüpfen wir wieder in die Sandalen.
Weiter geht es also nach Osten. Mengen von Störchen treffen sich zum Frühstück auf den ausgedehnten Wiesen.
In Grutta gibt es kein erkennbares Gasthaus mehr. Nur eine Kirche steht noch auf ihrem Hügel zwischen spärlichen Häusern. Vermutlich war auch hier das Gasthaus benachbart, gemäß der Regel, dass „K + K“, - Kirche und Kneipe -, zusammengehören. Hier also speiste die Familie, von Graudenz unterwegs nach Peterhoff in die Sommerfrische, zu Mittag. Auf dem Kirchhügel ist der alte Friedhof ordentlich angelegt, unterhalb ein großer, neuer. Die vielen Heiligenfiguren und hohen, gemauerten Grabmäler sind natürlich von der heutigen, katholischen Bevölkerung.
Wieder sehen wir Störche auf der Weiterfahrt zum Orla-Besitz. Der gehörte zum Schloss Peterhoff. Das dazugehörige Gutshaus ist noch vorhanden. Dort waren früher also die Waisenjungen als Stipendiaten untergebracht. Es gibt ein verlandetes Seeufer mit herrlich wilder Blumenpracht. Und ringsum verwilderter Wald, ungepflegte, halb zugewachsene, holprige sandige Feldwege, Gebüsch und Gestrüpp.
Dann kommen wir aber erstmal den Mühlen auf die Spur. Mühle Schwetz ist ein beeindruckend großes, dreistöckiges Gebäude aus roten Ziegeln und schwarzem Fachwerk. Mühle Slupp erweist sich als eine noch größere Mühle, ebenfalls aus rotem Ziegelmauerwerk und schwarz gestrichenem Fachgebälk. Wir steigen aus und gehen zögernd näher. Das herrschaftlich anmutende Wohnhaus liegt weiter hinten separat, umgeben vom gepflegten Garten mit alten Obstbäumen und seitwärts dem schilfgrünen Wasser der Ossa, mit dichten Laubbäumen und Wiesen am anderen Ufer. Das Haus ist bewohnt. Hier also wurde unsere Urgroßmutter und Gromos Mutter Martha Goldnick geboren. Beim Anblick heute zwingt sich die Vorstellung einer verwunschen-romantischen Kindheit auf. Die Mühle scheint fast wie
aus dem Märchenbuch, und das Wasser rauschend, wie aus historischer Tiefe in unsere Gegenwart hinein.
Ein Hund bellt in der warmen Sommerluft. Holger kehrt sofort um.
Und dann begeben wir uns auf die schwierige Suche nach den Resten des Schlosses Peterhoff (oder auch „Peterhof“ geschrieben).
Peterhoff ist ein Ort und früherer Familientreffpunkt, der von zahlreichen Vorfahren einhellig begeistert, gefühlsträchtig und geradezu paradiesisch beschrieben wird.
Eine alte Postkarte zeigt das Schloss als eindrucksvoll schneeweißes Gebäude. Die Front hat mittig einen flachen Giebel über einer Uhr und dem Eingangsportal des Haupttraktes, seitlich zwei langgestreckte Trakte, flankiert von zwei eckigen Türmen. Diese zweistöckige Front liegt nach Norden hin mit einer großartig fürstlichen Einfahrt davor und zwei großen Laubbäumen.
Auf einem anderen Foto ist die Gartenseite zu sehen mit Garten, zum Haus hin Kübelpflanzen, vielleiht Lorbeer, und weißen Statuen. Weiter hinten schließt sich die ländliche Umgebung mit Heu auf den Wiesen an.
In der (etwa 1938 geschriebenen?) Chronik der Therese Skowronski, geborene Rosenbaum (deren Eltern: Walter und Jenny Rosenbaum), heißt es:
„In Westpreußen, bei Graudenz, liegt ein Stück Land, das die Heimat meiner Familie ist. Jeder, der dort seine Kindheit verlebt hat, wird es nie vergessen können. Auch ich hänge mit ganzem Herzen an diesem Fleckchen Erde und versuche darum gern, seiner Geschichte nachzugehen.
Man weiß, dass die Chomses Hugenotten waren und schließlich in Westpreußen ihre zweite Heimat fanden. Zur Zeit Friedrichs des Großen lebte in Graudenz ein reicher, kinderloser Kaufmann: Peter Chomse. Er kaufte von einem Major von Vieregge das 5500 (Morgen?) große Rittergut Orle mit den Vorwerken Peterhoff und Bergaus und gründete ein Majorat. Um das neu erworbene Westpreußen zu germanisieren, hat Friedrich d. Gr. Hier eine Ausnahme gemacht. Auf besonderen Antrag gestattete er auch Bürgerlichen den Erwerb von Rittergütern. Peter Chomse verpflichtete sich dafür, in Orle ein Internat zu unterhalten, wo ständig zwölf Knaben, möglichst Familienangehörige, ernährt, bekleidet und unterrichtet wurden. Nach Befund der Würdigkeit erhielt später einer dieser Knaben ein Stipendium von 200 Talern jährlich für Studienzwecke. Internat und Stipendium haben bis 1920, wo Orle polnisch wurde, bestanden. Meine Mutter erzählt noch, dass Lehrer und Lehrersfrau gemeinsam die Kinder betreuten, die in einem sehr einfach eingerichteten Raum des kleinen Dorfschulhauses wohnten. Später war jährlich zum Todestag des Stifters ein Schulfest für die Kinder.
Peter starb unverheiratet 1802. Sein Großneffe Peter erbte das Majorat, starb aber selbst schon 1803. Der nächste Erbe, Peters Bruder Christian war Bauer. Er hat nie auf die Möglichkeit gerechnet, Majoratserbe zu werden. Man erzählt sich, dass Christian aus tiefem Schlaf auf seiner Ofenbank von einem Boten geweckt wurde mit den Worten: „Stehen Sie auf, Sie sind Majoratsherr!“
Christian heiratete Amalie Schiemann, eine Tochter des Besitzers vom Hotel Adler in Graudenz. In dieser Ehe gab es endlich einen Sohn, der 1818 als neunjähriger Junge durch den Tod seines Vaters Erbe wurde. Wahrscheinlich hat bis zu seinem 18. Lebensjahr sein Vormund das gut bewirtschaftet. Rudolf Chomse, mein Urgroßvater mütterlicherseits, heiratete 1834 Franziska von Prondzinska, Tochter eines preußischen Hauptmannes Jakobus von Prondzinski aus polnischem Adel, der nach seiner Pensionierung vollkommen verarmte.
Er bezog (laut Familienchronik Prondzinskis) nur 114 Taler Pension jährlich. Franziska ist sehr einfach und streng erzogen worden, und ihre Heirat ist, wie ihr Vater schreibt, eine große Freude und Entlastung für die Familie. Während Rudolf zur Verschwendung neigte, war sie fast zu sparsam und kleidete ihre Kinder sehr einfach, sodass sie deswegen in Graudenz bekannt war.
Rudolf fuhr oft nach Graudenz. Er liebte es aber nicht, seine Kinder mitzunehmen. Nicht selten krabbelte dann bei seiner Ankunft eins von seinen acht Kindern aus einem Kasten unterm Kutscherbock hervor. Es brauchte gerade eine neue Mütze oder neue Schuhe. Die Mutter, die wusste, dass ihr Mann das Gemüse nicht gerne um sich hatte, hatte es dort versteckt. Rudolf war gutmütig und gab sich knurrend in sein Schicksal. Rudolf war ehrgeizig und verschwenderisch, er wollte dem waldreichen Gut ein schönes Jagdschlösschen bauen. Dazu verkaufte er einen etwa 2000 Morgen großen Besitz Annaberg, der nicht zum Majorat gehörte. Aus dem Erlös baute er Schloss Peterhoff, das, dicht am Walde gelegen, heute Wohnhaus der Besitzer des Majorats ist. Viele Familienangehörige haben seither dort ihre Feri8en verlebt, viele sind im Wald und in der freien Natur groß geworden oder haben dort Erholung gefunden.
Als ihr Mann 1852 starb, zog Franziska mit sieben Kindern nach Graudenz, da die Kinder dort bessere Bildungsmöglichkeiten hatten. Der älteste Sohn Max erbte das Majorat. Er war sehr gutmütig wie fast alle Chomses und ermöglichte seinen vier Brüdern eine gute Ausbildung, und seinen Schwestern gab er reichlich Aussteuer. Immerhin waren seine Geschwister sehr abhängig von ihm, und Franziska betont diese Abhängigkeit sehr in ihren Briefen an ihren Sohn Ernst: „Wenn Du Geld brauchst, wende Dich an Max.“
Seine jüngste Schwester Catharina Chomse ist meine Großmutter mütterlicherseits, sie heiratete einen Fotografen Schnackenburg aus Görlitz. Max hatte eine schlechte Eigenschaft, er war leicht jähzornig. Dann verprügelte er nicht selten einen seiner Knechte. Hinterher tat es ihm dann leid, und er schenkte ihm Geld.
Zu seiner Zeit fuhr man immer vierspännig und bei festlichen Gelegenheiten sogar achtspännig. Er lud oft Graudenzer Schauspieler nach Peterhoff ein und gab große Gesellschaften. Einmal unternahm er mit acht Schauspielern einen Ritt nach Italien. Max war verheiratet mit Mathilde Wüst, einer Pfarrerstochter aus Güttland im Danziger Werder, die sehr streng und fromm erzogen war. Die Ehe blieb kinderlos, und nach Max‘ Tod 1880 erbte sein Bruder Ferdinand das Gut, der Arzt in Briesen war. Er war ein guter Arz7t, hatte aber kein Interesse an der Bewirtschaftung des Gutes und verpachtete Orle auf 20 Jahre an einen Herrn Wannow. Ferdinand hat in Berlin studiert und den Krieg 70/71 mitgemacht. Verheiratet war er mit der Schwester von Mathilde Wüst, Auguste, mit der er glücklich in Peterhoff lebte. Leider hatten auch sie keine Kinder.
Meine Mutter Jenny und ihre Generation wissen noch aus dieser Zeit zu erzählen. Im Sommer und auch im Winter waren meine Mutter und andere junge Verwandte im gastlichen Peterhoff. Man fuhr und ging im Wald spazieren, man kegelte, sp0ielte Tennis oder das beliebte Crockett. Im Winter machte man Schlittenpartien, im Sommer war man schon so fortschrittlich, getrennt von den Männern in der Ossa zu baden. Die Ossa ist ein Flüsschen, das durch den Orler Wald fließt. Von Hause zog man mit pompösem Badezeug und einem Eimer zum Füße-Spülen zur Ossa. Das ist etwa eine halbe Stunde Weg durch den Wald. In einer aus Brettern gebauten Bude, der Badehütte, zog man sich um. Man tauchte ängstlich und lernte sogar etwas schwimmen. Nur die Sonne vermied man, damit der zarte Teint nicht litte. Die männliche Jugend badete im Salnoer See, in dem wir auch heute baden. Damals galt es als gefährlich und für Frauen unschicklich.
Onkel Ferdinand liebte vor allem die Musik und hatte besonders gern, wenn Jugend um ihn war, die sang oder Instrumente spielte. Große Geselligkeiten, wie sie damals auf den Gütern üblich waren, liebte er nicht. Im Winter wurde viel gelesen, auch Dramen mit verteilten Rollen, und man rodelte. Damals lag ja noch viel Schnee, und die Verkehrsmöglichkeiten waren geringer. Tante Gustchen, Onkel Ferdinands Frau, war sehr fröhlich und verstand es besonders gut, mit der Jugend umzugehen. War irgendein kleiner Stre8it zwischen einer Nicht und der älteren Generation gewesen, so fand das Nichtchen abends als Trost an ihrem Bett etwas Brot, Zucker und Wein. Dadurch ließ ihr Tante Gustchen sagen, dass sie innerlich auf der Seite ihrer Nichte stand. Waren die Ferien zu Ende, und der Besuch fuhr wieder ab, gab es jedes Mal ein kleines Abschiedsfest mit Feuerwerk, einer Bowle und einem Tänzchen. Tante Gustchen als Pfarrerstochter hatte eine tiefe echte Frömmigkeit. Zur Kirche in Grutta fuhr man selten, Tante Gustchen hielt jeden Sonntag am Gewölbe, dem Erbbegräbnis im Walde, eine kleine Andacht.
Die Schulfeste am 12. Oktober sollen immer sehr nett gewesen sein. Die 12 Kinder kamen mit ihrem Lehrer zum Mittag anmarschiert. In ihren Uniformen sahen sie aus wie kleine Kadetten. Es gab Suppe, Hasenbratgen mit Schmorkohl, wovon Berge vertilgt wurden. Dann waren draußen Spiele, bei denen Preise verteilt wurden. Zwischendurch war Kaffeetafel mit viel Kuchen, und die Kinder sangen. Nach dem Abendbrot ging es wieder singend nach Hause.“
Zum Rittergut Orle und dem Majorat und den daran gebundenen besonderen Verpflichtungen heißt es in der Chronik Leopold Schnackenburg ergänzend:
„“Er (der Majoratsherr) musste im Dorf Orle ein Schulhaus bauen lassen und darin 12 Waisenknaben erziehen und unterrichten lassen. Das Lehrerehepaar musste die Knaben beköstigen und in allem versorgen. Diese Waisenkinder wurden im Lauf der Jahre aus mit der Familie Chomse verwandten Häusern aufgenommen und hatten eine gute Jugend. Orle lag wunderschön, direkt am Walde, auch ein riesiger Obstgarten gehörte zur Schule. die Jungens konnten, wenn sie es zum Studenten gebracht hatten, je ein jährliches Stipendium von 600 Mark vom Majorat beziehen. Alle vier Jahre wechselten die Stipendiaten.“
Über Besuche in Orle berichtet „Tante Jenny“ Jenny Rosenbaum, verheiratet mit Walter Rosenbaum (die Mutter von obiger Therese Skowronski) aus ihrer Kindheit:
„Diese Zeit in Orle war für uns Kinderganz wonnevoll. Ein langgestrecktes, behagliches Gutshaus, Vorderfront in den Garten, Hinterfront Wirtschaftsräume nach dem Hof. Viel Geflügel dort hinten, die Küche mit der „Mamsell“, die kochen und bakcen musste, und mehrere Hausmädchen. Der Orler Garten war unser Spielp0latz, zwei Fontänen gab’s vor dem Haus, ringsum mit Blattpflanzen geziert. Wenn ich heute noch an ähnlich duftenden Pflanzen vorbeigehe, steht mir der Orler Springbrunnenvor der Nase. Wir mussten in dem größeren Springbrunnen täglich baden, was uns nie sehr angenehm war, denn unten am Boden und auch auf dem Wasser schwammen Wasserkräuter, d8ie zwar weich, aber unheimlich anzufühlen waren. Später hat mir Vetter Ernst erzählt, dass er und seine Brüder sich immer in den Sträuchern versteckt hatten und uns beobachteten. Wir wären so reizende Kinder gewesen.
Einmal fuhr uns das Orler Fuhrwerk nach Peterhoff, dem vom Großvater erbauten Jagdschloss, das leer stand. Ich besinne mich noch auf große Räume, mit nichts möbliert als mit grau gestrichenen und mit rotem Kattun gepolsterten Sitzbänken an den Wänden. Aber herrlich war der Wald davor und daneben.
Von Orle aus gingen die Erwachsenen oft in den Wald. Zu Anfang fanden wir unter hohen kiefern oft Champignons, nachher tiefer auf der „Linie“ Steinpilze und andere. Wir Kinder durften die Pilze nicht abreißen, da kam einer der Onkel und schnitt den Stiel ab, damit die Wurzel nicht verletzt wurde. Die einfachsten Pilze waren Rehfüßchen (Pfifferlinge), die in Gruppen zusammenstanden und nicht zu verwechseln waren. Auch viele Erdbeeren gab’s im Wald, die den Gartenerdbeeren aus dem Orler Gutsgarten vorgezogen wurden.
Dieser Orler Garten hatte versteckt eine Kegelbahn, auch Schießscheiben, wo sich die Herren amüsierten. Er führte bergab an den Orler See, ein grünlich schimmerndes, klares Wasser, wo die Groen badeten und schwammen. Weitere Seen waren der Sallnoer See, zur Hälfte zu Orle gehörend, der Gruttaer See, zu dem Kirchdorf Grutta gehörend. Dort lag dicht an der Kirche der Urgroßvater Jakobus von Pradzinski, der seine letzten Lebensjahre in Orle zugebracht hatte und katholisch war, wie seine Söhne auch.“
Ernst Wüst, ältester Sohn von Dr. Ernst Leberecht Wüst (dem Schuldirektor in Osterode) schreibt von Schloss Peterhoff als Mittelpunkt der Familien Chomse, Wüst und Schnackenburg zur Zeit des Besitzers Dr. Ferdinand Chomse:
„Wir ritten oft von Mühle Slupp nach Peterhoff durch die herrlichen Wälder und fanden dort stets eine Menge von Verwandten vor, die auf dem Majorat ihre Ferien verlebten. Ich bin öfter wochenlang dort gewesen. Mein Onkel Ferdinand und meine Tante Guste (siehe Gustchen oben) waren vorbildliche Wirte, die die zahlreichen Gäste glänzend bewirteten, oft 30 Personen und mehr. Im Ersten Stockwerk waren zwei große Säle, in deren einem die Jungen, in dem anderen die Mädchen schliefen. Es herrschte immer viel Leben und Heiterkeit.“
In den Aufzeichnungen der „Tante Jenny“ heißt es dazu:
„In den großen Schulferien wurden wir alle zwei Jahre zu Onkel Ferdinand nach Peterhoff eingeladen. Mit welch zitternder Vorfreude wir das Herannahen des Juli erwarteten, kann man sich kaum vorstellen. Vater besorgte die sechs Fahrkarten (er selbst kam manchmal nach) und abends ging’s dann vom Hallenser Bahnhof ab nach Posen, Jablonowo, Melno, wo wir gegen Mittag ankamen. Das Fuhrwerk mit dem Lewanstowski stand in Melno parat und fort ging’s über Dorf Grutta, an Kirche und See gelegen. Am Gasthof wurde Halt gemacht, der war ja Majoratseigentum, erst vom Zerfofski gepachtet, mit dem unser Vater im Kriege war, nach dessen Tod von Taube, der eine Krebs zur Frau hatte. Im Schwung bogen dann die Pferde nach der Chaussee ab, über Annaberg nach dem Sallnower See. Von dort sah man den Peterhöffer Wald, die geliebte Lindenallee und das Schloss Peterhoff, ein weißer Kasten mit je einem Turm rechts und links. An der Auffahrt hinten standen Chomses, Onkel Ferdinand und Tante Gustchen, stürmische Begrüßung.
Schloss Peterhoff, etwa 1910
Gutshofsgebäude Peterhoff, etwa 1902
Das Ferienlebgen war äußerst frei. Morgens nach dem Aufstehen unten im großen Verandazimmer Kaffeetrinken mit Landbrot, Butter oder Honig. Dann taten sich die Gruppen zusammen, gingen in den Wald, die Herren spielten Kegel rechts an den großen Buchen, die Mädels machten Handarbeiten auf der herrlichen Veranda oder halfen Kirschen aussteinen, bohnen schnitzeln, Rebhühner rupfen unten im Freien, Erdbeeren und Pilze suchen.
Zur großen Mittagstafel waren wir dann wieder alle zusammen. Nach Tisch allgemeines Ausruhen.
Nach dem Kaffee wurden dann die Badeanzüge geholt, die Herren und Knaben gingen zum Sallnoer See, die weiblichen Gebilde an die Ossa. Dorthin führte der Weg an Gewölbe vorbei, Ruhestätte von Großvater Rudolf Chomse. Ein sehr geschmackvolles Grabmal unter hohen Buchenkronen. Hier standen auch zwei Bänke aus Bi8rgenstämmen und am Sonntag las dort vormittags Tante Guste oder Tante Hermine eine Predigt vor, an der wir jungen Mädchen uns immer beteiligten. Vom Gewölbe geradeaus ging’s dann eine primitive Treppe mit Birkengeländer und Birkenstämmen als Stufen die Parowe hinunter nach dem Ostrow. Rechts an diesem führte ein reizender Fußweg den Berg entlang bis zur Badestube. Dies war eine Holzbude mit Türen nach dem Ostrow und der Ossa hin, von dort führte eine kleine Holztreppe mit Geländer ins Wasser.
Die Ossa ist ein entzückendes Flüsschen, das kurz vor Graudenz in die Weichsel mündet, rechts und links von bewaldeten Hügeln begrenzt. Die Strömung an der Badestelle war schwach, und die Tiefe nur in der Mitte so, dass man schwimmen konnte. Mühle Slupp und
Mühle Klodtken wurden von dem Flüsschen getrieben, beide wunderschöne Wohnsitze. Nach dem baden erkletterten wir oft die rechte Ostrowhöhe, wo oben eine Rasenbank in halbrundr Form eine gute Aussicht bot über den Orler Wald, Karasseck und bis zum halben Sandweg nach Mühle Slupp. Was wir an Erdbeeren, Himbeeren und mehr unterwegs fanden, wurde in den Mund gesteckt. Oft gab es damals Krebse zum Abendbort. Der gute Onkel Ferdinand musste uns erst zeigen, wie man die zerteilte, das hat mir im Leben später gut genützt. Abends durften wir jungen Leute oft an den Sallnoer See gehen, um mit Kienfackeln nach Krebsen zu greifen, das war ein großer Spaß. Auch durften wir nach dem Abendessen auf den großen Strohstaken klettern hinten auf dem Hof, dort wurden wir von den Vettern Ernst und Theodor in die Sternkunde eingeweiht, immer eine herrliche Unterhaltung. Draußen dufteten die Linden aus der großen Allee, vor dem Hause Peterhoff im Rondell standen blühende Orangen in Kübel n. Es war zauberhaft, diese Luft zu atmen.
Zum Abschluss des Ferienaufenthaltes in Peterhoff gab’s dann ein Abschiedsfest, das wir mit traurigem Herzen feierten. Bowle, Feuerwerk, Tanz auf der Wiese vor dem Haus, wozu Tante Gustchen Harmonika spielte."
Leopold Schnackenburg ( geb. 1909 in Spandau und wie unser Vater ebenfalls ein Enkel des Ernst Leberecht Wüst) erlebte die Spätzeit des Schlosslebens in Peterhoff und schreibt darüber in seiner Chronik. Otto Chomse (1882 -1939) war der letzte Majoratsherr nach Ferdinand Chomse. Otto und seine Frau Charlotte hatten acht Kinder, der älteste Sohn Kuno war im Alter von Leopold Schnackenburg, die Schwestern Herta und Eva etwas jünger, dazu noch fünf kleine Geschwister.
„Das war die Familie, in deren Zeit ich mit meinen Eltern (seine Mutter Dorothea war eine Tochter Ernst Leberecht Wüsts) oder auch nur mit meinem Vater Peterhoff mehrmals besucht habe. Es war für uns eine andere Welt. Der klassizistische, weiß leuchtende Bau mit dem großen Buchenwald dahinter wirkte wie ein romantisches Bild aus vergangenen Zeiten. Im dichten Wald, auf einem Hügel an der Ossa, befand sich die Familiengruft, die in der Stille und unter den hohen Buchen besonders feierlich wirkte.
In einer Remise gab es noch einige alte Kutschen und Schlitten, die allerdings nur noch selten benutzt wurden. Im Esszimmer, aus welchem man über die Terrasse in den Park bis zum Wald sehen konnte, war jeden Morgen eine große Frühstückstafel gedeckt mit selbstgebackenem Brot, Butter und Honig (in großen Schüsseln). Dort habe ich auch das erste und einzige Krebsessen meines Lebens mitgemacht. Jeder bekam eine Suppenterrine mit Krebsen! Die Tiere stammten aus dem Sallnower See, dessen eine Hälfte ja zum Gut gehörte.
Meinen letzten Besuch in Peterhoff – August 1928 – habe ich in besonderer Erinnerung. Ich war 19 Jahre alt, Eva Chomse drei Jahre jünger. Wir beide waren besonders viel zusammen und ich verliebte mich etwas in sie. Wir spielten Tennis, richtiger: wir versuchten es. Das war nämlich etwas mühselig, denn die als Tennisplatz dienende Rasenfläche im Park war sehr uneben. So war die Flugbahn der Bälle nie abzuschätzen. Dabei haben wir mehr gelacht als Tennis gespielt. Auch Abendspaziergänge in den Wald gab es. Leider wollten meist einige der jüngeren Geschwister dabei sein, so dass Eva und ich kaum ungestört waren. Der romantischen Schwärmerei tat dies aber keinen Abbruch. In diesem Sommer besuchte auch Esther Kalmukow Peterhoff. Sie war eine Schwester von Lotte Chomse und in Graudenz als Klavierlehrerin tätig. Im Eckzimmer von Peterhoff stand ein Flügel. Auf diesem spielte Esther häufig, vor allem Chopin und Liszt. Eva und ich haben oft dabei gesessen und zugehört. Gerade diese Musik bildete mit dem Charakter des Schlosses, mit der Aussicht in den Park und zum Wald, also mit der ganzen Stimmung einen so vollendet harmonischen Gleichklang, dass ich dieses Musikerlebnis nie vergessen werde.
Aber die Glanzzeit von Peterhoff war damals schon vorbei. Das Gut und Peterhoff selbst machten einen etwas verwahrlosten Eindruck. Der frühere Wohlstand war vergangen. Wie meine Tante Jenny in ihren Lebenserinnerungen schreibt, drückten auch Schulden, die Otto Chomse aufgenommen hatte.
1939 wurde Peterhoff bei den ersten Gefechten des Zweiten Weltkrieges beschossen und schwer beschädigt. Otto Chomse war vorher in Richtung Osten verschleppt worden und dabei umgekommen. Sein ältester Sohn Kuno hat Gut Orle mit Peterhoff nach Kriegsende verkauft, wie mir seine Schwester Hertha berichtete. So endete dieser Familienbesitz. In den jetzigen polnischen Landkarten ist Peterhoff nur noch als „Ruine“ verzeichnet.
Zunächst hatte ich von alldem nichts erfahren. Während meines Einsatzes als Funker in Narvik sah ich 1941 eines Tages im Kino den Film „Reitet für Deutschland“, dessen Anfang mit dem zerschossenen Schloss Peterhoff als Kulisse gedreht worden war. Welcher Schock mir da versetzt wurde, als mich diese Bilder unvermittelt ansprangen!“
Schloss Peterhoff steht nicht mehr. Das wussten wir vorher, aber gerade das macht die Suche nach einer Vergangenheit dort nicht einfacher. Vergleiche früherer und heutiger Messtischblätter lassen uns einen verwachsenen Feldweg finden, der zwischen einer noch dichteren Wildnis am Waldrand endet. Hier ist aber, so sieht es aus, der Beginn der ehemaligen Linden-Allee erkennbar, welche sich schnurgerade in West-Ostrichtung durch die leicht gewellte Wiesen-Wald-Brachlandschaft zieht, besser gesagt: zog. Früher war das Land natürlich bewirtschaftet und gegliedert. Heute ist der vermutete, ehemalige Weg fast zugewachsen. Halb verlandet sind auch die Seen zwischen Wiesenbrache und Waldwildnis, - ein Storchenparadies auch hier.
Wir unternehmen einen ausgedehnten Spaziergang bis zur Ossa hinunter, begleitet von den Vorstellungen der früher hier herumspringenden, badenden Jugend. Wie mögen ihre Stimmen geklungen haben? Wie sahen sie aus, wie benahmen sie sich? Wie redeten sie miteinander? Nach dem legendären Grabgewölbe suchten wir vergeblich, obwohl wir meinten, dessen Ort im Gelände ausfindig machen zu können. Aber alle möglichen, halb erwarteten Stein-, Mauer- oder Grabplattenreste sind entweder weggebracht worden oder überwuchert. An einem wackligen Holzsteg endet der Pfad. Unter uns fließt, träge und braun, die alte Ossa, überhangen von Zweigen und Gestrüpp.
Hätten die damals jugendlichen Vorfahren von uns gewusst, hätten sie gesehen, wie wir hier von uns Vieren, - auch schon in fortgeschrittenem Alter -, ein Foto aufnehmen… Was für eine merkwürdige Vorstellung.