Читать книгу Paradies im zweiten Anlauf - Gabriele Ketterl - Страница 6
2. Freunde und ein großer Irrtum
Оглавление„Er ist der Hammer!“ Leonies Meinung in Sachen Marcos stand dann schon mal fest.
Schmunzelnd kuschelte Alex sich in ihren Sessel. „Habe ich das am Telefon etwa nicht erwähnt?“
Leonies hochgezogene Augenbrauen sagten mehr als tausend Worte.
Alex griff nach ihrer Tasse mit dampfendem Zimt-Chai und nahm einen großen Schluck. „Ah, das tut so gut. Insbesondere nach dem Temperaturschock am Flughafen. Ich weiß nicht, wie Marcos das so leicht wegsteckt.“
„Leicht? Da bin ich mir nicht ganz so sicher. Immerhin steht er nun schon seit fünf Minuten unter der Dusche. Ich könnte ja schwören, dass er nicht kalt duscht.“ Leonie warf einen sehnsüchtigen Blick in Richtung Flur. „Ich könnte ja mal nachsehen.“
„Tu dir keinen Zwang an. Ansehen ist absolut in Ordnung. Aber du weißt ja …“
„Das Berühren mit den Pfoten ist verboten!“
Kichernd wie zwei Schulmädchen umarmten sie sich.
Leonie musterte sie neugierig. „Ich muss schon sagen, dafür, dass du am Telefon vor lauter Panik beinahe gestorben wärst, siehst du jetzt recht entspannt und vor allem verdammt happy aus.“
„Als ich im Panikmodus war, wusste ich auch noch nicht, dass Marcos mit mir fliegen würde. Ganz ehrlich, das habe ich nicht zu hoffen gewagt.“ Alex’ Hände schlossen sich fest um die bauchige Teetasse. „Hach, ist das schön warm.“
„Je länger ich darüber nachdenke, und vor allem, nachdem ich deinen Adonis jetzt gesehen habe, muss ich sagen, du hast das einzig Richtige getan, als du im September in den Flieger gestiegen bist. Du siehst total verändert aus. Deine Gesichtszüge sind entspannt, deine Augen strahlen, du wirkst um ein paar Jahre jünger und – sehr wichtig – dein Lächeln ist so … Ich weiß gar nicht, wie ich es nennen soll.“ Leonie runzelte die Stirn. „Glücklich trifft es ganz gut.“
Alex nippte gedankenverloren an ihrem Tee, während sie die Worte ihrer langjährigen Freundin Revue passieren ließ. Leonie lag schon richtig. Es war schön, am Morgen aufwachen zu können und nicht sofort daran denken zu müssen, dass um Punkt sieben Uhr der Kaffee und drei Scheiben Toast mit Käse, Parmaschinken und frisch gepresster Orangensaft auf dem Tisch stehen mussten. Einmal ganz abgesehen von den akkurat gebügelten Hemden, in denen kein Knitterfältchen sein durfte. Wie hatte sie es nur so weit kommen lassen können? Wann war ihre Beziehung dermaßen gekippt? Oder war sie das gar nicht, sondern war sie selbst nur so blind gewesen? Sie trank ihren Tee aus und stellte die Tasse zurück auf den runden Couchtisch.
„Das liegt einfach daran, dass ich rundum glücklich bin. Das Leben in der Casa Vista ist so herrlich unkompliziert, nicht einfach, nein, aber jeder hat stets ein Lächeln auf den Lippen. Dazu dann noch Marcos, der ein wunderbarer Mann ist und den ich um ein Haar verloren hätte, da ich ihn an Holger gemessen habe. Ein blöder Fehler.“
„Was ist mit mir und was habe ich falsch gemacht?“ Marcos war im Türrahmen erschienen und strich sich mit fragendem Blick die noch feuchten, langen Haare aus dem Gesicht.
Sofort schaltete Alex auf Spanisch um. „Du hast gar nichts falsch gemacht. Wir sprechen gerade von meinem verqueren Männerbild.“
Ratlos huschte Leonies Blick von ihr zu Marcos. „Jetzt wird’s kompliziert.“
Marcos zog eine amüsierte Grimasse. „Kommunikationsprobleme? Wie wäre es mit Englisch?“
Der Abend war gerettet. Wie sich rasch zeigen sollte, war das auch notwendig, denn Leonie wusste einiges zu erzählen. Unter anderem, dass Holger mehrmals bei ihr in der Boutique aufgetaucht war, um sie zunehmend ungehalten darüber auszufragen, wo Alex sich aufhalte. Er war sich nicht zu schade gewesen, ihr massiv zu drohen. „Jeder hat Leichen im Keller, auch du, liebe Leonie. Sollte ich welche finden, bestünde durchaus die Möglichkeit, dass du dich von deiner geliebten Boutique verabschieden kannst.“
Leonie schüttelte sich wie ein junger Hund. „Der Kerl ist das Letzte. Kann er denn nicht mit Anstand verlieren? Muss das jetzt sein?“
Marcos schüttelte sehr bedächtig den Kopf. „Das ist typisch für diese Art Mann. Sein Eigentum muss funktionieren. In dem Augenblick, in dem ihm etwas entgleitet, beginnt er, um sich zu schlagen. Das ist auch der Moment, in dem er richtig gefährlich wird.“ Er wandte sich an Alex. „Ich weiß, es ist schon spät, aber bitte tu mir den Gefallen und hol dieses Schreiben von seinem Anwalt. Ich möchte es mir noch einmal durchlesen, damit ich nichts übersehe. Winkelzüge von Anwälten kenne ich zur Genüge.“
Sie saßen bis lange nach Mitternacht über dem Brief, den Robert von Heiden verfasst hatte, und Marcos ließ ihn sich bis ins kleinste Detail übersetzen. Erst als sie ihn zwei Mal komplett durchgekaut hatten, schien er einigermaßen zufrieden.
„Gut, ich denke, ich weiß, worauf er hinauswill.“
„Weihst du mich ein oder darf ich weiterhin Albträume haben?“ Alex war angespannt.
Er aber wehrte ab. „Nein, bitte hab einfach Vertrauen. Wann genau ist der Termin?“
„Übermorgen, in der Kanzlei von Heiden.“
„Also haben wir noch etwas Zeit, um uns wirklich gut vorzubereiten.“ Immerhin schien Marcos sich seiner Sache sicher zu sein.
„Kommst du mit in die Kanzlei?“ Sie wagte es zwar kaum zu hoffen, aber fragen konnte man ja.
„Was denkst du denn? Natürlich komme ich mit. Beginnen wir doch damit, dass wir vorab ankündigen, dass die Gespräche auf Englisch geführt werden müssen. Hat der gute Herr Anwalt seine E-Mail-Adresse auf dem Briefbogen stehen?“
Sie suchten und fanden Roberts Mailadresse, und so erhielt die Kanzlei noch in derselben Nacht eine Nachricht, in der Marcos mitteilte, dass darum gebeten werde, sich auf eine auf Englisch geführte Unterhaltung einzustellen.
Schon am nächsten Tag kam die nicht sehr freundliche Antwort, dass man sehr erstaunt über dieses Anliegen sei, jedoch angesichts der Wichtigkeit gerne zustimme. Alex kannte Robert lange genug, um zu wissen, dass diese sehr förmlich gehaltene Nachricht höchste Verwunderung ausdrückte.
Um sich ein wenig abzulenken, zeigte sie Marcos die Stadt und das Viertel, in dem sie einst gewohnt hatte. Es war ein seltsames Gefühl, wieder durch die alten Straßen zu laufen. Nach nur wenigen Monaten auf Gran Canaria erschienen sie ihr bereits nicht mehr als ihr Zuhause. Sie sehnte sich nach der Wärme und der Sonne, nach den fröhlichen Insulanern und der Herzlichkeit, die einem überall in Puerto de Mogán begegnete.
Als sie am späten Nachmittag Leonie in ihrem Laden besuchten, erwartete sie eine freudige Überraschung. Inga von Mahnstein kam mit großen Schritten auf sie zu. „Na, wenn das nicht meine Schwester im Geiste ist. Ich brenne darauf, alles zu erfahren, was ich auf Gran Canaria bewirken konnte.“ Die große, ausgesprochen gut aussehende blonde Frau strahlte Alex herausfordernd an. „Natürlich erst, nachdem ich diesem interessanten Mann vorgestellt wurde.“
Lachend stellte Alex ihr Marcos vor und berichtete haarklein von ihrem bühnenreifen Auftritt im Gran Mogán, der Sebastian vor der liebestollen Millionärsgattin gerettet hatte. Inga wischte sich atemlos die Lachtränen von den Wangen.
„Ei der Daus, ich wusste ja gar nicht, dass ich – oder wohl eher du – solche schauspielerischen Talente habe. Ich muss schon sagen, das war absolut genial. Sollte ich jemals wieder zu Diensten sein können, so stehen ich oder auch gerne mein Name jederzeit zur Verfügung. Ich glaube, ich mag diese Familie.“ Sie schenkte Marcos ein schelmisches Lächeln, ehe sie sich wieder an Leonie wandte, um ihren wie immer umfangreichen Weihnachtseinkauf zu tätigen.
Sie halfen Leonie später beim Aufräumen und waren sprachlos, als Marcos sie in ein sehr schönes italienisches Lokal entführte, das ihm auf dem Hinweg aufgefallen war.
„Du bist aber schon echt, oder? Einen Zwillingsbruder hast du nicht zufällig? Käme mir gerade sehr gelegen.“ Leonie mochte Marcos offenbar wirklich.
„Wenn du auf ganz junge Kerle stehst, könnte ich mit einem passabel aussehenden Exemplar dienen, ansonsten leider nicht.“
„Och, ich sehe mir den Kleinen mal an und dann reden wir weiter.“ Leonie hakte sich bester Laune bei Alex unter und gemeinsam strebten sie dem festlich geschmückten Eingang der edlen Trattoria entgegen.
Sie bekamen einen gemütlichen Ecktisch und es schien ein schöner Abend zu werden, bis sich erneut die Eingangstür öffnete und eine junge, sehr schlanke, stark geschminkte Blondine das Restaurant betrat. Alex erkannte sie sofort. Marissa! Super, musste das denn jetzt sein? Dass es immer schlimmer kommen konnte, wusste Alex in dem Augenblick, in dem sich der schwarze Samtvorhang vor dem Eingang erneut bewegte und ihr zukünftiger Exmann sich neben Marissa stellte.
„Darf ich aus deinem fassungslosen Gesichtsausdruck schließen, dass das dein Mann ist?“ Marcos verfügte über eine ausgesprochen gute Beobachtungsgabe.
Sie wandte sich ruckartig um, sodass sie den Neuankömmlingen den Rücken zuwandte. „Das darfst du. Das ist Holger, samt Barbie, oder vielmehr Marissa. Die Dame, mit der er sich auf Gran Canaria in der Beach Bar vergnügt hat.“
„Ärgert es dich, dass er mit ihr hier auftaucht?“
Sie musste nicht über Marcos’ Frage nachdenken. „Nein, es ärgert mich, dass seine Anwesenheit mir die Laune verdirbt. Ansonsten ist es mir vollkommen egal, was und mit wem er was auch immer tut.“
Sie sah Marcos an, um festzustellen, dass alleine sein Anblick genügte, um aufsteigenden Groll sofort zu vergessen: der schwarze Rollkragenpullover zu den schwarzen Jeans, dazu ein richtig cooler Mantel von Desigual mit bunten Knöpfen, der im Moment über der Stuhllehne hing, und grobe schwarze Boots, all das gekrönt von einem leicht süffisanten Lächeln. Er lief Holger einfach in jeder Beziehung mühelos den Rang ab. Als Marcos seine Hand beruhigend auf ihre legte, wusste sie, dass sie gemeinsam mit ihm alles würde meistern können.
„Ich bin so froh, dass du da bist.“ Sie drehte ihre Hand und verschränkte ihre Finger mit den seinen.
„Und ich erst! Können wir dann bitte bestellen, ehe ich hier den Hungertod erleide, umweht von Pizzaduft?“ Leonie wedelte herausfordernd mit der Speisekarte.
Lachend griff Alex danach. „Verzeih, aber manches muss einfach gesagt werden.“
Sie orderten ihre Speisen und Getränke und unterhielten sich angeregt über Alex’ Pläne auf der Kanareninsel, als Marcos plötzlich eine amüsierte Grimasse zog.
„Dein Ex scheint die Situation mit weitaus weniger Gelassenheit zu sehen, als du das tust. Kann es sein, dass er unter Bluthochdruck leidet? Seine Gesichtsfarbe scheint mir sehr ungesund zu sein.“
Alex verschluckte sich beinahe an ihrer Mangoschorle. „Ja, er hat ein, wie soll ich sagen? Na ja, Aggressionsproblem. Nennen wir es ruhig beim Namen. Wieso, sieht er aus, als würde er demnächst platzen?“
„Ich hoffe doch, dass sich das vermeiden lässt. Lass es mich so ausdrücken, er sieht sehr aufgebracht aus.“
Lachend beugte Alex sich zu ihm. „Du verstehst es einfach, dich sehr gewählt auszudrücken.“ Sie küsste ihn liebevoll auf die Wange und konnte es sich nicht verkneifen, diese noch rasch zärtlich zu streicheln.
Nun war es Leonie, die sich sichtlich das Lachen verbiss. „Mach so weiter und er explodiert wirklich. Barbie hat alle Hände voll damit zu tun, ihn im Zaum zu halten.“
Der schwer beladene Kellner lenkte sie von ihren Überlegungen zu Holgers Allgemeinzustand ab, und schnell richtete sich die Aufmerksamkeit auf angenehmere Dinge. Die Tagliatelle waren ein Gedicht, die Pizza dünn und knusprig und Marcos genoss seinen Seebarsch.
Was Alex nicht verhindern konnte, war der Umstand, dass sie Holgers Blick in ihrem Rücken zu spüren glaubte.
Ihrer Stimmung tat das allerdings keinen Abbruch, zumindest so lange, bis wie aus dem Nichts Holger an ihrem Tisch erschien.
„Sieh da, meine ach so treue Ehefrau. Hast du dich alleine nicht mehr zurück getraut? Musstest du dir Verstärkung mitbringen? Es war mir so klar, dass du alleine lebensunfähig bist. Glaubst du denn, der Schönling will dich deinetwegen?“
Holgers Blick zeigte überdeutlich, dass er nicht mehr nüchtern war. Er zeigte ihr aber noch etwas anderes: Wut! Sie kannte seine Reaktionen nach all den Jahren einfach zu gut und wusste, dass er stinkwütend war. Es war aber auch zu dumm. Da saß sie hier doch tatsächlich bestens gelaunt, braun gebrannt und für jedermann sichtbar glücklich, anstatt als verängstige, panische und hilflose Frau in der Kanzlei aufzutauchen. Den Gefallen tat sie ihm nicht.
Alex atmete tief durch, um sich dann lächelnd an ihren Noch-Ehemann zu wenden. „Ich freue mich auch, dich zu sehen, Holger. Und ja, du liegst richtig, ich bin nicht alleine. Auf Gran Canaria habe ich schneller Freunde gefunden, als man denken könnte. Was aber am erstaunlichsten ist, in einer angeblichen Welt voller spanischer Machos finden sich tatsächlich die wundervollsten Männer.“
Holger lachte böse auf. „Ja, klar. Der will dich wegen deiner ausschweifenden Intelligenz.“
Alex schüttelte nachsichtig den Kopf. „Aber Holger, wollen wir denn jetzt persönlich werden? Sei froh, dass er dich nicht versteht. Marcos mag mich aus vielen Gründen und ich mag ihn, so ist das nun einmal. Davon abgesehen bin ich nicht nur körperlich, sondern auch geistig auf den Kanaren angekommen. Das aber dürfte dich jetzt ebenso wenig interessieren, wie es das während der ganzen Zeit unserer Ehe getan hat. Kann ich sonst noch etwas für dich tun? Marissa sieht ein wenig ungehalten aus, du solltest dich dringend um sie kümmern.“
„Wir sehen uns in der Kanzlei und ich darf dir schon jetzt empfehlen, dich warm anzuziehen. Wenn du ernsthaft glaubst, dass du mit der Show, die du gerade hier abgezogen hast, durchkommst, dann hast du dich aber gewaltig getäuscht.“ Holgers Blick fiel auf Marcos. „Genieß deinen Gigolo, solange du kannst. Wenn der merkt, dass du keinen Cent von mir zu sehen bekommst, dann ist der ganz schnell bei der nächsten Touristin, die genauso bescheuert ist wie du.“ Ohne Alex’ Antwort abzuwarten, drehte er sich auf dem Absatz um und rannte zurück zu seinem Tisch, an dem ihn seine Begleiterin sichtlich verärgert erwartete.
„So ein Riesenidiot. Ich weiß noch immer nicht, wie du es so lange mit diesem gefühllosen Arschloch aushalten konntest.“ Leonie schien fassungslos.
„Ob du es glaubst oder nicht, die ersten Jahre waren gar nicht so übel. Erst als er anfing, die Karriereleiter nach oben zu klettern, ging das los. Und ehe du weiter ausholst, heute stelle ich mir exakt die gleiche Frage.“ Alex wandte sich wieder ihrer Pizza zu. „Immerhin habe ich meine Lektion gelernt und nun einen absoluten Traummann an meiner Seite.“ Dass sie den letzten Satz wieder auf Englisch sagte, war durchaus begründet. Marcos sollte es hören, er sollte wissen, wie sie für ihn empfand. Nicht nur ihre Gefühle, auch ihr Vertrauen in ihn wuchs von Tag zu Tag.
Der musterte sie sehr ernst. „Dein Mann ist nicht ganz bei Trost, dich so zu behandeln. Und über das mit dem Traummann reden wir bei Gelegenheit. Aber es tut sehr gut, es zu hören.“
Da Holger und Marissa das Lokal sofort nach dem Essen verließen, wurde es doch noch ein wunderschöner Abend. Das Thema Scheidung wurde wissentlich ausgespart, stattdessen schmiedeten sie gemeinsam Pläne für die Finca. Leonie platzte schier vor Neugierde, sie konnte es kaum erwarten, Alex’ neues Domizil in Augenschein zu nehmen.
„Sobald ich das Chaos einigermaßen überblicken kann, musst du kommen. Deine Fähigkeiten als Innenarchitektin sind unbezahlbar.“ Alex schenkte der Freundin ein strahlendes Lächeln.
Die lehnte sich sehr entspannt zurück, drehte das Glas, in dem der Rotwein im Schein der Kerze funkelte, nachdenklich in den Händen und antwortete: „Mit dem allergrößten Vergnügen. Wer weiß, vielleicht eröffne ich ja eine Dependance in deiner Nähe.“
München City, Kanzlei von Heiden
Mochte sie sich ihrer Sache auch noch so sicher sein, mochten sie alles gefühlte tausende Male durchgegangen sein – sie fühlte sich plötzlich wieder wie ein kleines Kind. Unsicher und auf dem Prüfstand. Gemeinsam mit Marcos betrat sie die Kanzlei und alleine seine Gegenwart verhinderte, dass sie auf dem Absatz kehrtmachte. Wie viel war eigentlich in ihr während dieser Ehe zerbrochen? Auf jeden Fall ihr Selbstbewusstsein, so viel stand schon einmal fest.
Alex spürte, wie Marcos nach ihrer Hand griff und sie fest drückte. Er schien zu jeder Minute genau zu wissen, wie sie sich fühlte. Er war unglaublich.
„Nun beruhige dich. Ich bin bei dir und was soll bitte passieren? Er kann dir nichts anhaben, vertraue mir in der Beziehung einfach, ja?“ Aus Marcos’ Blick sprachen Sorge und Zuversicht zugleich. Eine interessante und gleichzeitig beruhigende Mischung, die es dennoch schaffte, ihr ein wenig von ihrer Angst zu nehmen.
Die junge Empfangsdame blickte ihnen neugierig entgegen.
„Frau Stahl, habe ich recht? Die Herren erwarten Sie bereits, bitte folgen Sie mir.“
Sie liefen hinter der Frau her, die auf hochhackigen Pumps voraneilte. Alex war froh, Leonies Rat in Sachen Kleidung gefolgt zu sein. Ihr schwarzer Hosenanzug samt silbergrauem Rollkragenpullover wirkte ausgesprochen edel und gab ihr das Gefühl, nicht als graue Maus anzutreten. Dass Marcos in einem dunkelgrauen Designeranzug und italienischen Markenschuhen unterwegs war, verwunderte sie kaum mehr. Der Mann steckte voller Überraschungen.
Kaum öffnete die Sekretärin die Tür zum Besprechungsraum, erklang auch schon Robert von Heidens Bariton. „Wie schön. Pünktlich. Ich argwöhnte schon, dass Sie spanische Gepflogenheiten angenommen hätten.“
Ah, das war interessant, man war also wieder per Sie. Ihr sollte es nur recht sein, es war eine willkommene Möglichkeit, sich gegen ihn und Holger abzugrenzen.
„Keine Angst, meine Pünktlichkeit hat nicht unter meinem neuen Leben gelitten.“ Hoch erhobenen Hauptes trat sie Robert entgegen.
Sie wusste sofort wieder, warum sie den Anwalt noch nie hatte ausstehen können. Seine aalglatte Art spiegelte sich in seinem gesamten Erscheinungsbild wider. Robert von Heiden war das, was man landläufig als attraktiv bezeichnen mochte. Groß, schlank, kantiges Gesicht, graue Augen, die schrecklich unpersönlich wirkten, und hellblonde, kurze Haare, die stets zu einer leicht verwuschelten Frisur gestylt waren. Wüsste Alex nicht, wie eiskalt und berechnend dieser Mann war, sie hätte ihn gewiss nicht als abstoßend empfunden. Dem Himmel sei Dank kannte sie ihn lange genug, um zu wissen, dass bei Robert alles, aber auch wirklich alles inszeniert war.
Holger wiederum saß lässig zurückgelehnt am lang gezogenen Glastisch. Seine Rechte ruhte auf der Lehne des schwarzen Lederstuhles, die Linke auf der Tischplatte. Er spielte unruhig mit einem Kugelschreiber. War es möglich, dass Holger Stahl nervös war? Mochte er auch noch so ruhig wirken, sie kannte ihn einfach zu gut. Der Stift wanderte so schnell durch seine Finger, dass sie dem hektischen Spiel kaum zu folgen vermochte.
Mit großer Genugtuung bemerkte Alex Roberts Blick, als er Marcos begrüßte. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie Holger Marcos beschrieben haben mochte. Wahrscheinlich hatte Robert einen schmierigen Gigolo erwartet und nun stand ihm ein durchaus ebenbürtiger Mann gegenüber. Der Punkt ging dann wohl schon einmal an sie.
Robert bat sie, sich zu setzen, und begann umgehend damit, die bedrohlich vor ihm ausgebreiteten Papiere sehr geschäftsmäßig zu sortieren. Gütiger Himmel, war sie wirklich einmal von all dem beeindruckt gewesen? Hatte sie sich tatsächlich so sehr blenden lassen? Betrachtete sie dieses inszenierte Schauspiel, musste sie sich fragen, ob sie wirklich mit Blindheit geschlagen gewesen war. Alleine Holgers geradezu ultracooler Blick hätte sie um ein Haar zum Lachen gebracht.
Leider drohte ihr dieses Lachen im Hals stecken zu bleiben, als Robert mit seinen Ausführungen begann. Tatsächlich kam er ihrem Wunsch entgegen und hielt seine Rede auf Englisch. Marcos saß vollkommen ruhig und entspannt neben ihr und trug enorm dazu bei, dass auch sie vergleichsweise ruhig bleiben konnte.
„Da Sie, Alexandra, meinen Mandanten gänzlich überraschend für ihn verlassen haben, muss ich Sie nun leider über die daraus resultierenden Folgen aufklären. Nicht nur, dass Sie grundlos und ohne ihm die Möglichkeit einer Klarstellung zu geben, die eheliche Wohnung verließen, Sie fügten ihm mit Ihren darauffolgenden übereilten Aktionen auch noch enormen Schaden zu. Alleine Ihr Auftritt in der Filiale der Bank, in der Ihr Ehemann eine gehobene Position einnimmt, erfüllt, so zumindest meine Meinung, den Tatbestand des Rufmordes. Sie stellten Ihren Ehemann als rachsüchtig, herrschsüchtig, ja, so wie ich das einschätze, als geradezu gewalttätig dar. Können Sie annähernd ermessen, welchen beruflichen Schaden Sie ihm mit dieser Vorgehensweise zugefügt haben?“ Robert nahm den Papierstapel und ließ ihn demonstrativ auf die Tischplatte fallen. „Ich muss leider sagen, dass ich meinem Mandanten empfohlen habe, Klage wegen Rufmords zu erheben. Hätte er nicht über einen exzellenten Leumund in seinem Unternehmen verfügt, sähe seine Lage nun recht dramatisch aus. Holger kann von Glück sagen, dass sein Vorgesetzter bedingungslos hinter ihm steht, denn die Fragen, die er sich nach Ihrem bühnenreifen Abgang gefallen lassen musste, waren schlicht eine Unverschämtheit.“ Erneut griff er nach den Papieren und schob sie etwas von sich. „Sie werden sich auf einen Prozess einstellen müssen. Ich bedaure diese Entwicklung wirklich sehr. Insbesondere, da mir zu Ohren gekommen ist, dass Sie sich in Spanien eine neue Existenz aufbauen möchten. Da dürfte ein Rechtsstreit eher kontraproduktiv sein. Von den entstehenden Gerichtskosten und möglichen Schadensersatzzahlungen wollen wir einmal gar nicht reden.“ Robert legte eine Kunstpause ein, wahrscheinlich, um das soeben Gesagte entsprechend auf sie wirken zu lassen.
Diese Pause nutzte jedoch Marcos, der sich, sehr zu Alex’ Überraschung, nach vorne beugte, beide Unterarme auf der Tischplatte abstützte und Robert mit leicht schräg gelegtem Kopf musterte.
„Sie verzeihen, wenn ich hier kurz einhake? Sie drohen Alexandra allen Ernstes mit einer Rufmordklage? Es sollte Ihnen beiden bewusst sein, dass Sie damit nie und nimmer durchkommen. Nicht nur das, Sie sind ein versierter Anwalt, zumindest setze ich das voraus, also wissen Sie ganz genau, dass die Punkte, die Sie gerade aufgezählt haben, lächerlich sind. Jeden einzelnen widerlege ich Ihnen binnen weniger Augenblicke. Dazu muss ich nicht einmal auf mögliche Zeugen zurückgreifen. Diese Farce hier dient doch alleine dazu, Alexandra einzuschüchtern. Ich brauche keine hellseherischen Fähigkeiten, um zu wissen, dass Sie im Folgeschritt mit der Möglichkeit aufwarten, dass Alexandra eine Verzichtserklärung in Bezug auf das ihr im Falle einer Scheidung zustehende Vermögen unterzeichnen soll. In diesem Fall würde Ihr Mandant großzügig auf eine Klage verzichten.“ Marcos lehnte sich mit breitem Grinsen wieder zurück. „Na, habe ich recht?“
Roberts vollkommen verblüfftes Gesicht sprach Bände, ebenso das sich langsam verfärbende ihres Noch-Ehemannes. Robert fasste sich als Erster wieder.
„Ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihnen hier wohl leider die rechtliche Fachkunde fehlt. Das, was Ihre neue Freundin sich herausgenommen hat, war für meinen Mandanten regelrecht existenzbedrohend. Wir können von Glück sagen, dass es keine weiteren Kreise gezogen hat.“
Marcos schüttelte betont langsam den Kopf, während Alex aus dem Staunen nicht mehr herauskam. „Von Glück kann hier keine Rede sein. Worauf Sie beide bauen, ist doch lediglich Ihre Hoffnung auf Alexandras Unwissenheit. Darauf, dass die Klageandrohung sie einschüchtert und sie um des lieben Friedens willen alles, was Sie ihr vorlegen, unterzeichnet, nicht wahr?“
Robert öffnete bereits den Mund, um zu antworten, als Holger es wohl nicht mehr aushielt. Es hätte Alex auch sehr gewundert, wenn er sein cholerisches Wesen im Zaum hätte halten können.
„Was bildest du seltsamer Insulaner und Frauentröster dir eigentlich ein? Wer hat dich überhaupt etwas gefragt? Nur weil du meine treulose Ehefrau vögelst, die dumm genug ist, zu glauben, dass du tatsächlich an ihr Interesse hast, gibt dir das nicht das Recht, dich in unsere familiären Angelegenheiten einzumischen. Mann, ich kenne deine Sorte zur Genüge. Ihr wartet doch da auf euren Touristeninseln nur auf solche dummen Opferlämmer wie meine vollkommen verblödete Frau Gemahlin. Was du eigentlich willst, ist doch ihre Kohle, sobald sie geschieden ist.“ Holger holte tief Luft und schien nach Worten zu suchen. Die fand er offenbar rasch. „Glaub mir, du Gigolo, so nicht. Das Miststück sieht von mir keinen Cent! Mal sehen, wie viel sie dir dann noch wert ist. Dann kannst du dir die Maßanzüge von der nächsten gutgläubigen Touristin finanzieren lassen.“
Alex war zu erschrocken über Holgers Ausbruch, um überhaupt reagieren zu können. Ja, das war sein Stil. So und nicht anders. Beleidigen, um sich schlagen und pauschalisieren – so kannte sie ihn. Dass er aber Marcos angriff, der in keiner Weise beleidigend gewesen war oder eine derartige verbale Attacke herausgefordert hatte, das war unerträglich.
Marcos schien das entspannter zu sehen. „Sind Sie damit fertig, mich zu beleidigen? Wobei ich das, was Sie über Ihre zukünftige Exfrau von sich geben, noch wesentlich schlimmer finde. Ich rate Ihnen dringend, sich zu mäßigen.“
Alex sah zwar, dass Robert versuchte, Holger zum Schweigen zu bringen, nur gelang es ihm nicht. Wenn Holger einmal in Fahrt war, dann bremste ihn so schnell nichts mehr.
„Ich soll mich mäßigen? Ich? Sag mal, geht es dir noch gut? Ich lasse mir doch nicht von einem dahergelaufenen, wahrscheinlich professionellen Heiratsschwindler den Mund verbieten. Siehst du deine Felle wegschwimmen? Siehst du meine Ex plötzlich mit anderen Augen, oder wie? Was hattest du denn so geplant? Was sollte sie dir denn alles finanzieren? Eine neue Luxuskarosse, eine neue Wohnung? Vertrau mir, ein Holger Stahl ist nicht so blöd, dass er den Geliebten seiner lebensunfähigen Frau sponsert.“
Alex war sprachlos ob solch geballter Unverschämtheit. Endlich besann auch sie sich wieder darauf, dass sie einen Mund hatte. Allerdings brachte Marcos’ fester, beruhigender Griff um ihre Hand sie dazu, vorerst zu schweigen. An ihrer statt wandte er sich an Holger und Robert, der seinen Mandanten sichtlich unzufrieden ansah.
„So, meine Herren, ich glaube, ich habe mir nun mehr als genug Beleidigungen angehört. Ich habe etwas Mühe, mir jede einzelne zu merken, aber ich verfüge auch ohne Protokollführer über ein recht gutes Gedächtnis. Daher denke ich, dass ich Ihre Litanei gegebenenfalls gut wiedergeben kann. Möglicherweise habe ich bei unserer Begrüßung vergessen, mich angemessen vorzustellen. Ich möchte das der Ordnung halber rasch nachholen. Mein Name ist Marcos da Silva, ich arbeite als Anwalt in allen politischen und geschäftlichen Bereichen im Auftrag der Regierung der Kanarischen Inseln. Da es mir schon früher ein Anliegen war, auch familiäre Streitigkeiten vernünftig in den Griff zu bekommen, betreut meine Kanzlei in Las Palmas auch den Bereich Familienrecht. Meine Dependance in Madrid kümmert sich um die Belange der Kanaren auf dem spanischen Festland. Da wir das nun geklärt hätten, muss ich Ihnen zu meinem allergrößten Bedauern mitteilen, dass Ihre versuchte Klageandrohung von meiner Seite aus als böswilliger Einschüchterungsversuch auf meine Mandantin angesehen wird. Ich rate Ihnen beiden dringendst, Ihre Strategie zu überdenken. Das, was Sie in den vergangenen Minuten aufgeboten haben, dient lediglich dazu, dass die Chancen meiner Mandantin vor Gericht, vollumfänglich erfolgreich zu sein, hervorragend sind. Von weiteren Beleidigungen meiner Mandantin und gegebenenfalls auch meiner Person rate ich Ihnen dringend ab.“ Lächelnd wies Marcos auf den Papierstapel vor Robert. „Und ich weiß ehrlich gesagt nicht, inwieweit die internationale Gebrauchsanweisung für einen Beamer in dieser Sache zielführend sein könnte.“
Oh verflixt. Mal ganz davon abgesehen, dass er wohl über die Augen eines Adlers verfügte – was war das gerade gewesen? Anwalt für die Regierung der Kanaren? Anwalt für Familienrecht? Eigene Kanzlei?
Allmählich verstand Alex, woher das Haus mit dem herrlichen Pool kam oder das Geld zum Kauf des Künstlercafés, ganz zu schweigen von dem Geld, das er stillschweigend in ihre Finca investieren konnte. Darüber würden sie noch reden müssen. Vorerst aber war erst einmal die Tatsache interessant, dass Robert und Holger offenbar eine Strategie verfolgten, die auf Alex’ Naivität abzielte. Dumm nur, dass sie damit wahrscheinlich auch noch erfolgreich gewesen wären. Mit Marcos hatten sie nun ja nicht rechnen können. In grob einer Minute ihre Finte auffliegen zu lassen, wäre ihr selbst gewiss nie gelungen. Es grämte sie, dass sie sich eingestehen musste, ohne Marcos wirklich darauf hereingefallen zu sein. Alleine das Wort „Rufmord“ hätte schon gefruchtet, und das, obwohl es frei aus der Luft gegriffen war. Was hatte sie denn schon getan, außer dafür zu sorgen, dass Holger sie nicht mit gänzlich leeren Händen dastehen ließ?
Ehe sie weiter grübeln konnte, fuhr Marcos fort.
„Da wir nun die Tatsachengrundlagen, zumindest annähernd, geklärt haben, darf ich Ihnen nahelegen, sich neu zu positionieren. Dieses Mal bitte mit Fakten und basierend auf den Vorgaben der deutschen Rechtsprechung. Meine Mandantin befindet sich mitten im vorgeschriebenen Trennungsjahr. Fakt ist ferner, dass Ihr Mandant, verehrter Herr von Heiden, meine Mandantin betrogen hat. Er war derjenige, der keinerlei Bereitschaft an den Tag legte, diese Ehe zu retten. Für ihn war meine Mandantin zuletzt lediglich Mittel zum Zweck. So bedauerlich dies auch ist, er sah sie nur noch als diejenige, die ihm in jeder Situation den Rücken freizuhalten hatte, um seine Ziele zu erreichen. Dass eine Ehe eine gleichberechtigte Partnerschaft darstellen sollte, scheint Ihr Mandant nicht zu wissen. Ein Verbleiben in der ehelichen Wohnung war meiner Mandantin zuletzt nicht mehr zuzumuten. Sich beleidigen zu lassen hat sie schlicht nicht nötig, sich bedrohen zu lassen schon gar nicht. Ich wage anzunehmen, dass Sie die aktuellen Urteile des Bundesgerichtshofes kennen. Daher darf ich Sie auffordern, zur Realität zurückzukehren und weitere Einschüchterungsversuche ab sofort zu unterlassen, wenn Sie die daraus unweigerlich folgenden Konsequenzen vermeiden möchten. Legen Sie uns ein vernünftiges Angebot vor und wir können weiterverhandeln. Für heute ist dieses Gespräch von unserer Seite aus beendet.“
Wie schon so oft zuvor im Leben wusste Holger einfach nicht, wann er besser schweigen sollte.
„Du drohst mir? Mir und meinem Anwalt? Was bildest du dir ein? Glaubst du allen Ernstes, dass ich mich von einem spanischen Winkeladvokaten einschüchtern lasse? Das Miststück will doch nur mein Geld. Geld, das ihr nicht zusteht, da sie nichts dazu beigetragen hat. Wer hat es denn verdient? Jawohl, ich und nicht sie. In den ganzen Jahren habe ich gearbeitet wie ein Verrückter und nun soll ich die Frau aushalten, die mich abserviert hat? Ja denkt ihr denn, ihr kommt damit durch? Was hat dieses hinterhältige Weib denn in all den Jahren geleistet?“ Die hektischen roten Flecken in Holgers Gesicht und an seinem Hals zeigten deutlich, wie zornig und aufgewühlt er war. Dieses Mal aber war Alex schneller als Marcos.
„Was ich getan habe? Das wagst du tatsächlich zu fragen? Lass mich nachdenken, was habe ich denn alles getan. Da wäre der Verzicht auf eine eigene Karriere, ach, was sage ich denn, auf ein eigenes Leben. Meine Ausbildung, meine Träume, meine Hoffnungen, mein Können, alles habe ich deinen Interessen und Wünschen untergeordnet. Deine cholerischen Anfälle, wenn ein Hemd deiner Meinung nach nicht gut genug gebügelt war, wenn im Badezimmer ein winziger Spritzer auf dem Spiegel zu sehen war, wenn das Essen nicht minutengenau auf dem Tisch stand. Dein Benehmen mir gegenüber war seit vielen Jahren eine bodenlose Unverschämtheit. Du hast mich immer kleiner werden lassen. Alexandra Stahl war ein Produkt deiner Alleinherrschaft. Ich wusste doch zuletzt gar nicht mehr, was ein selbstbestimmtes Leben eigentlich ist. Meine mir von dir aufgezwungenen Selbstzweifel haben mich beinahe verrückt werden lassen. Tief in mir wusste ich, dass das alles nicht in Ordnung war, dass du und deine herrschsüchtige Art da etwas in mir bewirkten, was so nicht sein sollte, nicht sein durfte. Tatsächlich bin ich erst dank Leonie wieder aufgewacht. Sie hat mir ein wenig die Augen geöffnet. Das war aber auch dringend nötig, denn ich war drauf und dran, mich komplett aufzugeben. Jede einzelne meiner Handlungen habe ich infrage gestellt, immer unter dem Aspekt, ob du damit zufrieden sein wirst. Ich hatte regelrecht Angst vor dir. Wie oft habe ich dich weinend angefleht, dich zu beruhigen? Wenn ich heute daran denke, macht mich das so unendlich wütend. Du hast all deine Launen, all deinen Frust, all deine Wut über Fehlschläge in der Firma an mir ausgelassen. Ich war für dich wirklich nur noch Mittel zum Zweck, und doch habe ich bis zuletzt gehofft, dass wir die Ehe retten könnten. Aber mit jedem Schritt, den ich zurückging, um dir und deinem übermächtigem Ego Platz zu schaffen, habe ich ein Quäntchen mehr deiner Achtung verloren, bis sie letztendlich komplett verschwunden war. Mich mit dieser hirnbefreiten Barbiekopie zu betrügen war die letzte in einer unendlichen Reihe von Demütigungen.“ Alex holte tief Luft und atmete dann ganz langsam aus. „Du hast dich im Verlauf dieser Ehe in ein Monster verwandelt und ich bin daran nicht unschuldig, denn ich habe es zugelassen. Damit ist endgültig Schluss. Du machst mir keine Angst mehr. Du tust mir leid.“
Holger sprang unvermittelt auf und ließ seine Faust auf die Glasplatte donnern, sodass diese bedrohlich knirschte. „Du musst den Verstand verloren haben. Hat dir dein Möchtegernanwalt den letzten Rest deines mickrigen Gehirns herausgevögelt oder bist du einfach nur strohdumm? Ohne mich hättest du doch gar nicht existieren können …“
„Holger! Halt jetzt bitte den Mund!“ Roberts Stimme klang schneidend. „Du redest dich um Kopf und Kragen. Sei einfach nur still, ich bitte dich.“
Da es kurzfristig nicht so aussah, als ob Holger der Aufforderung seines Anwalts Folge leisten wollte, legte dieser nach. „Ich meine es ernst. Du spielst mit deiner Zukunft. Komm runter, sofort.“
An Alex und Marcos gewandt fuhr er, wenn auch mit angespanntem Unterton, jedoch wesentlich gefasster fort. „Wir sollten wohl tatsächlich hier abbrechen. Mein Vorschlag wäre, dass ich mich eingehend mit meinem Mandanten berate und wir uns in zwei Tagen wieder hier treffen. Klingt das für Sie beide akzeptabel?“
Marcos ergriff Alex’ Hand, schob seinen Stuhl zurück und erhob sich. „Das klingt durchaus akzeptabel. Zur Sicherheit werde auch ich die Wünsche und Vorstellungen meiner Mandantin in schriftlicher Form festhalten. Ich hege die Hoffnung, dass wir zu einem vernünftigen Ergebnis kommen werden.“
„Wünsche und Vorstellungen? Das werden wir ja sehen.“ Holger war nicht bereit, auch nur einen Schritt von seiner Vorstellung in Sachen Scheidung abzuweichen.
Robert hingegen schien langsam die Geduld mit seinem unbelehrbaren Mandanten zu verlieren. „Sei bitte endlich still. Was muss ich denn noch sagen, um dich zur Vernunft zu bringen?“
Alex konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Während sie ihren Hosenanzug glatt strich, murmelte sie beiläufig: „Vernunft? Da sehe ich schwarz.“
Sie und Marcos verließen daraufhin zügig die Kanzlei, da Holger drauf und dran war, ihr an die Kehle zu springen und nur der Umstand, dass Robert seine Schulter umklammerte und ihn in seinen Stuhl drückte, das Schlimmste verhinderte.