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Kapitel 2
ОглавлениеAn diesem Mittag waren die Wellen besonders hoch. Die Ausläufer leckten gierig an den scharfkantigen, schwarzen Felsen. Der Lavasand färbte die Wellenkämme dunkelgrau und verstärkte zusätzlich das bedrohliche Aussehen der wütend tobenden Naturgewalten. Marie war nun wahrlich kein ängstlicher Typ, doch angesichts dieser mächtigen, bedrohlich anmutenden Kräfte, legte sie ihr Badetuch weiter vom Ufer ab, als ursprünglich beabsichtigt. Der Wind wehte ihr nicht nur feine Tröpfchen Salzwasser ins Gesicht, sondern sorgte auch dafür, dass dieses Wasser sich in der Luft mit Lavastaub vereinigte und ihre langen, mittlerweile feuchten Haare langsam einem Reisigbesen ähnelten. Ärgerlich versuchte Marie ihre Mähne einigermaßen in den Griff zu bekommen, gab sich aber nach einer Weile geschlagen. Hier unten an dem einsamen und unzugänglichen Strand, den man nur über das versteckte Dorf erreichen konnte, sah sie sowieso niemand. Hier unten war niemand außer den wenigen verbliebenen Hippies, die ihr Aussteigerdasein in den diversen kleinen Höhlen zelebrierten. Verglichen mit denen, sah sie auch jetzt noch aus wie ein Topmodel frisch vom Laufsteg. Eigentlich wollte sie schwimmen, nur darum war sie den engen, beschwerlichen Weg durch die kleine Schlucht nach unten gelaufen. Doch das hier war sogar ihr unheimlich. Der Atlantik tobte sich heute nach allen Regeln der Kunst aus und machte selbst das Sonnenbad nicht zu einem Vergnügen. Marie legte seufzend das Buch, welches sie eigentlich lesen wollte, wieder zurück in ihre Tasche, setzte sich aufrecht hin und ließ ihren Blick über den aufgewühlten Ozean wandern. Sogar dieses wüste Wetter übte auf sie eine nahezu magische Faszination aus. Der unvergleichliche, salzige Geruch des Meeres, die schwarzen, wilden Lavafelsen, die jedes Mal wenn das Wasser sie überspült hatte, glänzten wie frisch lackiert, der kräftige Wind und die heiße Sonne – all dies liebte sie aus ganzem Herzen.
Die Natur war mit einer der Hauptgründe gewesen, warum sie mit ihren gerade 28 Jahren alle Zelte in Deutschland abgebrochen hatte. Sie war nach Teneriffa gekommen, weil sie musste. Sie hörte einfach auf ihr Herz. Schon immer war ihr die Kanareninsel mehr Heimat gewesen als das bodenständige Deutschland. Finanziell hatte ihre Entscheidung für sie keinerlei negative Folgen. Im Gegenteil, nach wie vor flog sie durch die Weltgeschichte und machte ihre Food Bilder für Werbekampagnen in ganz Europa. Ihre Fotos waren Kunstwerke, sie hauchte Früchten eigenes Leben ein oder verwandelte einen einfachen Brotlaib in ein „Must Have“. Mit ihren Bildern in der Kampagne waren die Verkaufszahlen nahezu exorbitant, das wussten auch ihre Kunden und zahlten gerne den etwas längeren „Anfahrtsweg“. Jetzt aber hätte sie sich gerne etwas entspannt.
Die letzten Tage waren lang und anstrengend gewesen und sie war erst am gestrigen Vormittag von einem langen Shooting auf den Kapverden zurück gekommen. Ihr war jetzt einfach nach Ruhe und Seele baumeln lassen und dazu gehörte für Marie das Schwimmen. Sie stemmte sich gegen den stürmischen Wind in die Höhe und lief, obwohl sie es eigentlich besser wusste, ans Ufer. Sie war nass, bevor sie das Ende der Klippe überhaupt erreicht hatte. Vorsichtig spähte sie über den Rand, doch bei aller Liebe zum Abenteuer, die weißen Schaumkronen mit ihren grauen Lavatoppings luden wahrlich nicht zum erholsamen Bad, auch wenn das Wasser sie wie immer lockte. Bevor sie jetzt gänzlich zur Salzsäule erstarrte, packte sie ihre Sachen zusammen und machte sich leise seufzend auf den Weg zurück. Schon nach wenigen Minuten kamen in den Felsschluchten am Hang die ersten Häuschen in Sicht. Zuerst noch klein und unauffällig, doch je näher sie kam, desto deutlicher zeichneten sich die hübschen weißen Häuser mit den grünen, braunen und blauen Fensterläden und ihren kleinen hölzernen Balkonen in den Hängen ab. Warum es sie letztendlich ausgerechnet in diese verlassene Gegend verschlagen hatte? Marie konnte es beim besten Willen nicht erklären. Es war wie ein Zauber gewesen. Sie erinnerte sich als ob es erst gestern gewesen war. Nach längerer Zeit, hatte sie wieder einen vierwöchigen Aufenthalt auf der Insel verbracht. Alle – sie selbst besonders – waren glücklich, dass sie wieder hier war. Jedes Mal wenn sie kam, hatte sich die Insel wieder verändert. Nicht alles was sie sah, gefiel ihr. Wahrlich nicht! Die immer neu in den Himmel strebenden Hotelburgen oder die endlosen Bungalowanlagen im Süden, die den Blick auf die herrlichen Lavaebenen endgültig zerstörten. All das war ihr ein Dorn im Auge, doch es gab noch immer die einsamen Buchten, von den Einheimischen mit bedrohlichen Namen belegt. Die „Playa de Soccorro“ was frei übersetzt soviel wie „Bucht der Hilfeschreie“ bedeutete, war nur ein Beispiel davon. An jenem Morgen hatte sie sich gewünscht, wieder einmal den Norden zu erkunden.
Stundenlang hatten ihre Freunde sie über die Insel kutschiert und sie hatten wirklich alles gesehen und die schönsten Fleckchen ausfindig gemacht.
Irgendwann hatte der kleine Seat begonnen zu streiken. Direkt an der Einfahrt von Masca, dem verborgenen Dorf, hatte es einen lauten Schlag getan und der rechte Vorderreifen hatte sich fröhlich pfeifend verabschiedet. Schon als sie sich aus dem Auto schälte, wusste sie, dass all das einen Grund haben musste.
Wie ein Magier hatte dieses verwunschene Dorf sofort seine Arme nach ihr ausgestreckt und sie mit seinem Jahrhunderte alten Zauber umfangen. Nichts, kein Luxushotel, keine Flaniermeile, kein noch so edles Etablissement - und derer hatte sie zahllose gesehen - hatte jemals auch nur annähernd so faszinierend auf sie gewirkt. Während ihre Freunde Domingo und Humberto den lädierten Reifen wechselten, erkundete Marie ausgiebig die kleinen Gässchen. Aus jeder Ecke, aus jeder Häuserzeile schienen ihr bekannte Stimmen zuzuraunen. Noch nie war sie so verwirrt, so überwältigt von Gefühlen, die sie nicht verstand, nicht zuzuordnen vermochte. In diesem Zustand lief sie Manolo in die Arme. Manolo war nicht nur der Alcalde von Masca, sondern für die Menschen im Dorf auch eine Art allwissender, heilender Schamane. Er war nun so gar kein kommunikativer Mensch und mit Fremden sprach er schon gleich gar nicht. Der hochgewachsene, schlanke Mann mit den hellblauen Augen und dem braun gebrannten Gesicht, umrahmt von langen, weißen Haaren, die bis über die Hälfte seines Rückens reichten, der, dessen Alter niemand zu schätzen vermochte, war ein geheimnisvoller Mensch. Die Gerüchte besagten, Manolo sei schon seit ewigen Zeiten hier oben in den Bergen um Masca zu Hause, niemand, selbst die Alten, konnte sich nicht mehr erinnern, wann er gekommen war. War er nicht schon immer hier gewesen? Manolo, der Unnahbare, erschien Marie wie eine Figur aus einem Roman. Er tauchte unvermittelt vor ihr auf, als sie gerade ziellos in die nächste Gasse einbog.
„Hola, Senorita, wohin denn so eilig? Ganz langsam! Hier oben haben wir alle Zeit der Welt, immer mit der Ruhe!“ Eine kleine Weile, die wie eine Ewigkeit anmutete, war Marie nicht einmal in der Lage gewesen, ihm zu antworten. Sie starrte nur vollkommen fasziniert in seine leuchtend blauen Augen, in denen sie glaubte etwas wie Unendlichkeit erkennen zu können. Manolo wartete geduldig, bis sie ihre Fassung zurück gewonnen hatte und studierte sie währenddessen voller Neugierde. Als sie sich wieder einigermaßen im Griff hatte, stellte er sich ihr vor und bot ihr an, sie auf ihrem Erkundungsgang zu begleiten. Marie hatte ihn, so unauffällig wie möglich, immer wieder angesehen. Von dem Mann ging eine schier unglaubliche Wärme und noch etwas aus, das sie längere Zeit nicht in Worte fassen konnte. Erst nachdem sie schon eine Weile durch die Gässchen gestreift waren, wurde ihr klar, was sie sah und fühlte. Sie hatte nie wirklich gewusst, was andere Menschen meinten, wenn sie von Aura sprachen. Nun wurde es ihr unvermittelt klar. Diesen Mann umgab eine wahrlich starke, eine strahlende Aura – zum ersten Mal in ihrem Leben, sah sie das Umfeld eines Menschen leuchten. Ihre Freunde staunten nicht schlecht, als sie und Manolo nach ihrem ausgiebigen Rundgang, fröhlich plaudernd, gemeinsam um die Ecke bogen. Als er dann noch alle wie alte Bekannte begrüßte und nach einem besorgten Blick auf Marie lächelnd nachfragte, ob sie denn Hunger habe und er ihr und ihren Begleitern eine herrliche Paella zauberte, verstand vor allem Domingo die Welt nicht mehr. Viel später, auf dem Weg zurück nach Puerto de la Cruz, tief in der Nacht, nach langen Gesprächen und einem wunderbaren Essen, fragte er Marie neugierig, wie sie das gemacht hätte. Marie wusste nicht wovon er sprach und war etwas ratlos. Also holte Domingo ein wenig weiter aus.
„Manolo spricht sonst nie mit Fremden, er ist sehr zurückgezogen und meist grenzt es an Unhöflichkeit, wie er die Touristen behandelt. Schon einige haben sich bei ihren Reiseleitern über ihn beschwert. Der wirft sie regelrecht aus „seinem Dorf“ wenn sie ihm nicht zur Nase stehen oder sich irgendwie blöd benehmen.“ Marie hatte nur die Schultern gezuckt. „Ich mochte ihn sofort. Ich finde ihn faszinierend!“ „Mhm, er dich wohl auch!“ hatte Domingo nur gebrummelt und damit war die Sache für ihn erledigt.
Für Marie allerdings hatte es hier erst begonnen. Nur zwei Tage später zog es sie wieder in das kleine, versteckte Dorf mit seinen geheimnisvollen Legenden und Geschichten. Als sie – nachdem sie sich dreimal verfahren hatte – in Masca ankam, hatte Manolo bereits für zwei Personen gedeckt und wartete mit dem Mittagessen auf sie. Marie hatte ihn nie gefragt, woher er gewusst hatte, dass sie kommen würde. Sie genoss den Fisch, den Wein und die Erzählungen des Mannes, der sie wie noch kein anderer in seinen Bann gezogen hatte. Es war spät geworden an jenem Abend, auch hatte der Wein seine Wirkung getan und so war Marie bei Manolo geblieben. Er hatte ihr sein bequemes Sofa zur Verfügung gestellt und ab dem nächsten Morgen nannte er sie „mi hicha“, meine Tochter. Als Marie dann wohl oder übel doch zurück musste, tat sie es mit äußerstem Widerwillen. Masca zu verlassen bereitete ihr fast körperliche Schmerzen. Ihre Entscheidung war gefallen.