Читать книгу MITTERNACHTSFLUT - Gabriele Ketterl - Страница 6
Kapitel 3
ОглавлениеZurück in Deutschland, hatte sie ihr Leben in Frage gestellt, ihre wenigen Freunde waren eingebunden in hektische Leben, ihre Eltern waren vor drei Jahren bei einem schweren Autounfall auf dem Weg nach Holland ums Leben gekommen.
Als sie an einem kühlen Morgen an deren Grab stand, lauschte sie in sich hinein. Was hätte ihre leicht liebenswert-verrückte Mutter getan? Was ihr zwar immer seriöser, aber seine Familie über alles liebender Vater? Sie fühlte die Antwort der beiden Menschen, die sie so gut gekannt hatten, wie sonst niemand. Nur fünf Monate später stand sie wieder in Masca, lief wieder durch die Gässchen und landete in Manolos verstecktem, kleinem, mit Blumen überwuchertem Patio.
„Da bist du ja, du bleibst doch, oder?“ Als ob es das Selbstverständlichste auf der Welt wäre, hatte er sie in ein winziges Häuschen, direkt neben seinem geführt.
Das kleine Hexenhaus, umrankt von unzähligen Bougainvilleen, hatte nur zwei Zimmer, eine klitzekleine Küche und einen ebenso winzigen Patio, der an den von Manolo grenzte. „Gefällt es dir?“ Mehr hatte er nicht gefragt und Marie musste nur nicken. Wenige Stunden später hatte sie ihr Gepäck aus der quirligen, belebten Hafenstadt Puerto de la Cruz in diese magische kleine Oase der Ruhe gebracht. Sie war angekommen. Das war jetzt ein Jahr her und Marie hatte das Gefühl zuhause zu sein nie mehr verloren. Sie war zur Ruhe gekommen.
Nun, nicht ganz. Mehrmals schon hatte sie seit ihrer Ankunft eine seltsame Unruhe sie ergriffen, die sie sich nicht erklären konnte. Sie hatte ein unerklärliches Gefühl in sich wahrgenommen. Als würde irgendetwas Fremdes in ihr erwachen, sich erinnern, langsam und zögerlich. Als ob jemand sie rufen würde, war sie fast wie ferngesteuert, zu den seltsamsten Zeiten durch die Schlucht hinunter zum Meer gelaufen. Nur um dort zu sitzen, über das – wahlweise - glitzernde oder tobende Wasser zu blicken und unruhig in sich hinein zu horchen. Als sie Manolo das erste Mal davon erzählte, hatte er sie nur lange und eindringlich angesehen und dann war ein leises Lächeln über sein Gesicht gewandert. „Sehr gut! Du hörst sie, die Stimmen der Ahnen! Hör ihnen gut zu, wenige, nur sehr wenige können sie hören, geschweige denn verstehen!“
Marie hatte das auch nicht verstanden und dachte immer wieder über die Worte nach. Auch als sie jetzt die letzten Meter hoch zu ihrem Zuhause lief, gingen ihr die geheimnisvollen, geradezu kryptischen Äußerungen wieder einmal durch den Kopf. So vor sich hingrübelnd und in sich versunken traf sie auf Manolo. Er sah sie aufmerksam an und strich sich die langen Haare aus dem Gesicht. „Kommst du etwa vom Strand? Du wolltest doch wohl bei diesen Strömungen nicht wirklich schwimmen?“ „Doch, wollte ich, es war ja auch sonnig, sah nicht so schlimm aus“, gab sie etwas kleinlaut zu. „Marie!“ Manolo hob nur anklagend die rechte Augenbraue. „Heute ist Vollmond und die Flut setzt ein. Himmel nochmal! Langsam solltest du wissen wie tückisch das ist. Bei dieser Konstellation ist hier schon vieles passiert. Es gab sogar Tote. Bitte sei vernünftig. Wenn du unbedingt noch ins Wasser willst, dann warte bis zum Einbruch der Dämmerung – dann ist die Flut gerade auf dem Höhepunkt. Wobei heute ein besonderer Tag ist. Bei Vollmond ist hier alles ein klein wenig anders. Sicherer wäre heute die Badewanne.“ Manolo musste lachen, als er ihr entgeistertes Gesicht sah. „Schon gut, schon gut, dann geh eben unten schwimmen, du bist ja wahrlich eine gute Schwimmerin. Aber sei dennoch vorsichtig – dort unten lauert mehr als nur eine starke, unkontrollierbare Strömung!“ Mit diesen ernsten Worten und einem raschen Streicheln über Maries Wange, war er auch schon wieder verschwunden.
„Dort unten lauert mehr??“ Marie zuckte ratlos die Schultern. Sie kannte die Gefahren doch schon alle. Muränen, Haie, Strömungen und was weiß man was sonst noch alles. Das Meer eben - hier war so ziemlich alles geboten.
Vor allem aber herrlich klares Wasser, das – war das Wetter schön – in allen möglichen Blautönen schimmerte. Nach einer langen Dusche, bei der natürlich nach der Hälfte der Zeit das Wasser schon kühl wurde - dummer Boiler - fühlte Marie sich wieder hervorragend. Sie packte, an Manolos Rat denkend, die Badesachen für den späten Nachmittag ein. Es waren noch unzählige Bilder zu bearbeiten und sinnvoll zusammen zu stellen. Den restlichen Tag verbrachte sie also damit, auf ihrem kleinen Gartentisch und dem schönen Mosaikboden im Patio Bilder für ihren neuen Auftrag auszuwählen. Es war ein wirklich großer Auftrag eines Süßwarenproduzenten und schon mit den ersten Bildern hatte sie voll ins Schwarze getroffen. Der Kunde war „entzückt“ und ihr Konto zeigte sich nach der ersten Abschlagszahlung nicht weniger entzückt. Ja, ihr Leben hatte eine wunderbare Wendung genommen, ihr altes Leben in der Großstadt fehlte ihr kein bisschen. Als die Sonne tiefer sank, packte Marie die fertigen Bilder ein und war mit dem Erreichten sehr zufrieden. Sie speicherte die Bilder die sie ausgewählt hatte zusätzlich sorgsam auf eine CD, die sie gut verpackt zu Rosalia in ihren kleinen Laden brachte. Rosalias Bruder würde die Post am nächsten Morgen mitnehmen nach Santa Cruz. Somit konnte sie sich wieder ihrem Leben hier und Manolos unerschöpflichem Reichtum an Geschichten widmen. Bevor sie ihren Weg zum Strand antrat, gönnte sie sich noch einen heißen, duftenden Café con Leche, ohne den hier kein Nachmittag vergehen durfte.
Die Schatten in Maries kleinem Patio begannen sich in warmem Rot zu färben, als sie sich ihre Tasche schnappte und sich voller Vorfreude auf den Weg zum Meer machte. Ein traumhaftes Szenario erwartete sie. Die untergehende Sonne tauchte die Lavafelsen in ein warmes Orangerot und das Meer, das deutlich ruhiger war als noch vor wenigen Stunden, schimmerte silbrig blau. Sie sah sich um. Weit und breit war niemand zu sehen und Marie war darüber nicht böse. Sie mochte die Einsamkeit. Marie verstaute ihre Tasche ordentlich in einer kleinen Felsspalte nahe am Ufer, zog ihr dünnes Kleidchen aus und legte sich das Badetuch zurecht. Während sie über die Klippen die wenigen Meter zum Wasser hinunter kletterte, kam ihr kurz der Gedanke, dass sie etwas früher hätte kommen sollen, denn die Schatten waren doch lang geworden. Marie wischte die Bedenken beiseite, setzte sich auf die untersten Felsen und ließ sich ins Wasser gleiten. Sofort fühlte sie den kräftigen Sog, den das Wasser ausübte, wenn sich die Wellen zurück zogen. Auch wenn die Flut eigentlich in diesem Stadium nicht so stark war, die große Kraft der Strömungen blieb hier immer bestehen, doch Marie war eine ausgezeichnete Schwimmerin und so stieß sie sich ab und überließ sich dem Meer. Es war wundervoll, in kräftigen Zügen hinaus zu schwimmen.
Jedes Mal wenn Maries Arme an die Oberfläche kamen, lies die versinkende, rote Sonne ihre Haut wie Kupfer leuchten. Kleine, hüpfende goldene Lichter tanzten im Gegenlicht auf der Oberfläche. Sie holte Luft und tauchte kurz ab. Ein Schwarm bunter kleiner Fische schwamm direkt neben ihr. Fast schien es, als sähen sie herausfordernd zu ihr herüber. Ihre Flossen glänzten im Zwielicht direkt unter der Oberfläche. Es war einfach märchenhaft. Hier war sie in einer anderen Welt. Einer Welt voller Geheimnisse und voller Schönheit. Bei so viel Schönheit vergaß Marie allerdings fast, dass sie den Weg ja auch wieder zurück musste. Als sie widerwillig endlich umdrehte, erkannte sie, dass die Strömung sie weiter getragen hatte als erwartet. Sie atmete tief ein und legte sich kurz steif auf den Rücken, um Kraft zu schöpfen. Nach einer Weile machte sie sich daran zurück zu schwimmen. Obwohl Marie mit kräftigen, ausholenden Zügen schwamm, kam das Ufer nur sehr, sehr langsam näher. Auch schien ihr das Wasser jetzt noch etwas kälter als zuvor.
Wirklich warm war der Atlantik nie, doch so frisch war es schon lange nicht mehr gewesen. Zu allem Überfluss hatte es die Sonne heute entweder besonders eilig oder Marie hatte die Zeit komplett falsch eingeschätzt. So etwas passierte ihr doch sonst nicht. Sie war noch nicht annähernd in Ufernähe, als der letzte hauchdünne rote Schimmer am Horizont verschwand. Es war ein ungewohntes und neues Gefühl, sich nun so dem kalten nassen Element, verbunden mit einbrechender Dunkelheit ausgeliefert zu sehen. Marie schwamm unbeirrt weiter, doch ihre Arme wurden zunehmend müde und auch ihre Beine begannen steif zu werden. Wie hatte sie so dumm sein können nach solch einer Flut so weit hinaus zu schwimmen? Sie hätte doch wissen müssen, mit welcher Kraft das Meer zurück in sein Becken drängte. So sehr sie es zu verhindern suchte – Marie bekam Angst. Das Wasser war nun nicht mehr silbrig schimmernd, sondern wurde dunkel und undurchdringlich – fast bedrohlich. „Jetzt hör aber auf zu spinnen!“
Marie versuchte sich selbst Mut zu machen, nahm ihre Kräfte zusammen und schwamm noch etwas schneller. Das aber war, in Verbindung mit der Kälte des Wassers, zu viel für ihre Muskeln – ein plötzlicher, schmerzhafter Krampf durchzog ihr rechtes Bein von der Hüfte bis zur Zehenspitze. Es tat so weh, dass Marie kurz unterging und vor Schreck Wasser schluckte.
Prustend und keuchend kam sie wieder an die Oberfläche. Nun hätte sie doch einiges darum gegeben, wenn einer der Hippies dort oben aufgetaucht wäre. So versponnen sie auch sein mochten, sie waren nett und hilfsbereit und das allerwichtigste, sie konnten alle sehr gut schwimmen. Doch es war kein Mensch zu sehen. Marie war alleine mit sich und ihrer zunehmend größer werdenden Furcht. Wieder zog der Muskel in ihrem Bein sich schmerzhaft zusammen. Automatisch griff sie nach der schmerzenden Stelle und es fiel Marie schwer an der Oberfläche zu bleiben. Sie versuchte die Entfernungen abzuschätzen. Sie kniff die Augen zusammen, um die Umrisse besser sehen zu können. Nur undeutlich waren die einzelnen Klippen jetzt noch zu erkennen, kein Licht, kein Feuerschein – nichts. Dafür kamen nun auch noch größere Wellen, die mit viel Kraft hinaus auf das offene Meer drängten. Wieder ging Marie kurz unter, schaffte es aber gerade noch an die Oberfläche.