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1. Kapitel Im Jahr der Verschwörer

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Die Toten hatten ihre Gräber verlassen, und Himmel und Erde schickten sich an, den Florentinern wieder wohlgesonnen zu sein. Zumindest sah es so aus.

Mit dem Sturm, der achtundvierzig Stunden über der Stadt getobt hatte, bevor er endlich an Kraft verlor, ließen auch die Regengüsse nach, die den Arno zur alles verschlingenden Jahrhundertflut hochpeitschten und die Getreideernte im Umland zu vernichten drohten, sie brachen einfach ab, so daß man von einem Wunder hätte sprechen müssen, wäre man um eine Erklärung verlegen gewesen. Dies aber war niemand weniger als die Hebamme Biga, die soeben, naß bis zu den Kniekehlen, das Haus der Salvestrini betrat. Biga kannte nicht nur die Geheimnisse sämtlicher Haushalte in der Pfarrei San Spirito, sondern fast ebensogut die Gerüchte in den übrigen Teilen der Stadt. Auch das dreistöckige Gebäude in der Via Maggiore, das sogar einen eigenen Brunnen besaß, zudem luftige Räume, verglaste Fenster und andere neumodische Annehmlichkeiten, war ihr von zahlreichen Hausbesuchen wohl vertraut. Heute früh nun hatte man schon beim ersten Hahnenschrei den zuverlässigsten Diener nach ihr geschickt und um besondere Eile gebeten. Dies allerdings war der Hebamme gleich übertrieben vorgekommen – an so einem Tag!

Nach gründlicher Untersuchung band sie Camilla Salvestrini dann auch lediglich einen Gürtel aus Schlangenhaut um, damit die Teufel fernzuhalten, die sich die Langatmigkeit einer Spätgebärenden zunutze machen könnten. Sodann befand sie, daß der Abstand zwischen den Wehen noch groß genug sei, alle seit Tagen im Geburtszimmer Versammelten mit den jüngsten Neuigkeiten zu erfreuen. Denn selbst ohne die Gewohnheit der Damen aus besseren Kreisen, einander schon Wochen vor der sogenannten schweren Stunde Gesellschaft zu leisten, hätte allein das steigende Hochwasser in den Straßen Camillas Freundinnen gezwungen, an ihrem Bett auszuharren und die Sorgen um das unruhige Kind in ihrem Leib und das Unwetter draußen in der Welt mit ihr zu teilen. Was sei ihnen in der Zeit nicht alles entgangen, prahlte Biga, während sie Camilla die Stirn trocknete und ihr ein Essigfläschchen vor die Nase hielt. Die Damen ließen ihre Stickrahmen, Primieraspielkarten und Musikinstrumente sinken und bestürmten Biga, nur ja alles ganz genau zu erzählen. Auch die drei Töchter der Salvestrini und ihr halbwüchsiger Vetter, den die Hebamme vergeblich mit einer Handbewegung zu verscheuchen versuchte, kamen neugierig näher. Biga ließ sich nicht lange bitten. Mit dem glücklichen Ende der diesjährigen Sintflut wollte sie beginnen. »Bei uns haben sie es gerade so gemacht wie neulich in Piacenza«, sagte sie und schwieg bedeutungsvoll.

»Und wie?« kam es nun von allen Seiten.

»Ha, als der Regen zu Piacenza nicht aufhören wollte, war’s ein gottloser Wucherer, den sie wieder ausgegraben und in den Po geworfen haben!«

»Ach«, murmelte Camilla, »und das hat etwas genützt?«

»Na, und ob! Die Regenwolken wichen. Die Sonne erglänzte. Die Ernte der Bauern war gerettet. Geweihte Erde erträgt keine Verbrecher. Zu Piacenza so wenig ...«

»Dann sollten wir hier in Florenz die Pazzi ausgraben!« fiel der rothaarige Vetter Biga ungeniert ins Wort und verdarb ihr damit die Pointe.

»Madonna, die Kinder!« stöhnte Camilla. »Schickt sie auf der Stelle hinaus! Wo steckt denn Faustina?«

»Eure Kinderfrau hilft den Mägden unten, die Türschwellen wieder von den Strohwischen und Sandsäcken zu befreien«, antwortete die Hebamme und schob die Kinder samt einer jungen Katze und einer lebenden Schmuseente, die der Jüngsten gehörte, zur Tür hinaus. Der vorlaute Knabe entwand sich Bigas Händen, bockend wie ein Maulesel. »Ich komme wieder!« drohte er mehrmals hintereinander.

»Du hast wohl weniger Verstand als Krebse bei Neumond!« schalt Biga. »Das Kinderkriegen ist immer noch Weibersache!«

Den Rest ihrer Geschichte erzählte sie lieber mit gesenkter Stimme, denn einer wie dieser Rotschopf würde gewiß an der Tür lauschen.

»Bei uns haben die Bauern die Sache in die Hand genommen«, berichtete sie. »Recht so. Schließlich gießt es ohne Pause seit jener Hinrichtung vor fast drei Wochen. Noch eine weitere Woche, und es wäre gegangen wie mit den Rosen von Damaskus.«

Camilla stöhnte nur, dabei handelte es sich doch um eine beliebte Redensart, die Biga oft und gern gebrauchte, um sie nur ja im Gedächtnis zu behalten. »Sie haben die Verschwörer in der Kirche wieder ausgegraben. Vielleicht alle, vielleicht nur einen. Auf jeden Fall Jacopo de’ Pazzi, den alten Mitläufer, der, wie alle Welt weiß, seine Seele dem Teufel übergab, als man ihn erdrosselte.

Sie haben ihn in einer schaurigen Prozession nackt durch die Straßen geschleift, ihn gestern in geweihter Erde verscharrt und heute wieder ausgegraben. Dann haben sie ihn«, hier legte sie wieder eine Kunstpause ein, um, das Ohr auf Camillas Kugelbauch gepreßt, fortzufahren, »mit einem Strick um den Hals in den Arno geworfen.«

Das ungeborene Kind in seinem Gefängnis machte eine jähe Bewegung, so daß Biga es überrascht vom Gewicht ihres Kopfes befreite. Nur ja jetzt nichts überstürzen! »Bei meiner Seele!« rief sie. »Da werdet Ihr einen rechten Wildfang zur Welt bringen, Donna Camilla! Einen Knaben zweifellos und mindestens zwei Wochen zu früh!«

Camilla warf sich, von einer neuen Schmerzwelle geplagt, schwer atmend zur Seite. »Der Sturm!« ächzte sie. »Die Wehen kamen mit dem Sturm!«

Die Hebamme legte ihr nasse Tücher auf die Stirn und redete ihr gut zu. »Der Sturm ist vorüber, hört Ihr’s nicht? Kaum war die Leiche des Verschwörers im Arno versunken, ging dem Herrn da oben die Puste aus. Und auch mit dem Sturzregen hatte es ein Ende, und das in kürzerer Zeit, als ein Käse trocknet.«

Die Damen, die Bigas letzte Worte mit Erleichterung vernommen hatten, obwohl das ungewisse Schicksal ihrer eigenen Haushalte und Angehörigen noch Grund genug zur Sorge bot, erhoben sich nun eine nach der anderen, um der Freundin Trost zuzusprechen, während Camilla nur den einen Wunsch hatte, in Ruhe gelassen zu werden und es hinter sich zu bringen.

Auch ihren Gatten Giovanni, der gerade mit festem Schritt das Geburtszimmer betrat, weil er noch nie zu den Ehemännern gehört hatte, die sich daraus verbannen ließen, begrüßte sie mit recht verzweiflungsvollen Blicken.

»Der Gebärstuhl wird frühestens zur Vesper gebraucht«, flüsterte die Hebamme ihm zu. Worauf Giovanni sich auf die Bettkante setzte, seinem Weib die Hände hielt und ihr vom Stand der Dinge draußen im Viertel berichtete. Er kam auf direktem Weg von einem Gang zur Seidenmanufaktur in der Nähe des Frediano-Tores zurück. Camilla sah mit leichter Rührung, daß er sich nicht einmal die Zeit genommen hatte, sein schlammbespritztes Gewand zu reinigen.

»Das Gute zuerst«, sagte er, »so wie es deinem Zustand gebührt: Die Seidenmanufaktur steht noch, der große Auftrag aus Portugal, den ich ihr eingebracht habe, kann gottlob erfüllt werden. Lediglich die Rohseide aus Granada, welche die Genueser zu veredeln vergaßen und die ich heute zurückschicken wollte, hat etwas gelitten, da sie zu ebener Erde lagerte. Aber im großen und ganzen können wir höchst zufrieden sein.«

»Sonst jedoch?« erkundigte sich Camilla, im Augenblick an Geschäften weniger interessiert und weil sie von Natur aus gern schwarzsah.

Giovanni benetzte ihr die zerbissenen Lippen mit ein paar Tropfen Salbeiwein, der in einer Karaffe auf dem Nachttischchen bereitstand, und nahm selbst einen gehörigen Schluck, bevor er mit einem Seufzer fortfuhr: »Nun ja, für die Menschen, deren Häuser in Ufernähe stehen, war es wieder eine einzige Katastrophe.«

»So wie vor hundertfünfzig Jahren?« fragte Camilla, weil es ihr zwischen einem Stechen in der Brust und einem Reißen im Kreuz gerade so einfiel.

»Nicht ganz. Dreizehndreiunddreißig soll der Sturm volle sechsundneunzig Stunden getobt haben, berichtet Villani. Feuergarben jagten über den Himmel, Donner krachten, und das Hochwasser riß sämtliche Brücken weg. Diesmal sind sie nur unpassierbar. Seinerzeit krochen die Menschen um Hilfe schreiend auf Brettern von Dach zu Dach, diesmal konnten sich manche in die höhergelegenen Kirchen retten, obwohl es auch in unseren Tagen immer noch keine Vorwarnung gibt. Viele traf die Flut völlig unvorbereitet, einige wurden im Schlaf überrascht. Erst durch das Wasser selbst erfuhren die Menschen vom Wasser und befanden sich auch schon auf einer Insel, abgeschnitten von anderen Inseln. Santa Croce drüben soll besonders gelitten haben. Überhaupt, nach allem, was ich gesehen habe, machen wir uns völlig falsche Vorstellungen von der Höhe der einzelnen Stadtteile und Straßen. Diese Dinge müßten unbedingt einmal untersucht werden. Was geschah in den anderen Vierteln? Niemand weiß es.«

Camilla schloß die Augen, als er die Sturmschäden aufzählte, die geborstenen Türme und Mauern benannte und die Geschwindigkeit der im Arno treibenden Bäume zu schätzen versuchte. Sie ließ Giovanni reden, wie so oft, und verwünschte, vor Schmerzen einer Ohnmacht nahe, ihre ewige Nachgiebigkeit. Hatte sie sich nicht während jeder ihrer sieben Geburten geschworen, diesmal gleich nach dem Wochenbett Faustinas Rezept zur Empfängnisverhütung anzuwenden? Und hatte sie es sich nicht von Giovanni jedesmal wieder als »Schwarze Magie« ausreden lassen? Dabei war es so einfach. Sie hat Faustinas Worte nicht vergessen, glaubt jetzt sogar ihre Stimme zu hören: »Bilsenkraut, in Pferdemilch eingeweicht und in Hirschleder gebunden, an den Hals eines Frauenzimmers gehängt, bewirkt, daß dasselbe nicht empfängt, solange es das Kraut am Halse trägt.«

Schwarze Magie, Aberglaube ... Schade, daß ihr nicht nach Lachen zumute war. »Und wenn man nicht sähe, wie der Magnet das Eisen anzieht, so würde man es auch nicht glauben«, flüsterte sie.

Sprach sie etwa im Fieber? Giovanni warf der Hebamme besorgte Blicke zu. Biga aber nickte beruhigend, worauf er beschloß, sich für eine Weile zurückzuziehen. An der Türschwelle wandte er sich noch einmal um, warf Camilla eine Kußhand zu, die sie nicht sah. Da lag sie nun in der reichen und heiteren Dämmerung, welche die kostbaren farbigen Glasfenster, auf die sie so stolz war, ihrem Schlafgemach verlieh, lag, während die Natur draußen gänzlich aus dem Gleichgewicht geraten war, auf ihre animalischen Qualen reduziert, die nur noch sich selbst wahrnahmen.

Ein hilfloses Schulterzucken, dann schloß er die Tür. Daß er sich als Mann jedesmal so schuldig fühlte!

Giovannis Studio lag im zweiten Stockwerk über dem Eheschlafzimmer, aber auf der Rückseite des Hauses. Es hatte einen vom Gang aus heizbaren Wandkamin und einen Schreibtisch aus Walnußholz, darauf eine der ersten tragbaren Uhren des Jahrhunderts. Giovanni schätzte es in fast jeder Hinsicht, seinen Zeitgenossen um eine Nasenlänge voraus zu sein, und was die Entdeckung der Meßbarkeit von Zeit und Raum betraf, so hatte sie bereits seinen Vater fasziniert, der Werkmeister beim berühmten Brunelleschi gewesen war, dem Erfinder der Perspektive, dem Erbauer von Uhren, diesen genialen Instrumenten, durch welche der Tag in Stunden und Minuten eingeteilt wurde, statt wie bisher in Gebetszeiten und Ave-Marias unbestimmter Dauer. Allein durch das Denken, dachte Giovanni, war die Zeit meßbar geworden, Gebete aber waren der Gedanken Gegenteil und somit kindlicheren Gemütern vorbehalten. Mochten sie sich weiter nach Ave-Marias richten ... Außer der Quantität beschäftigte ihn die Qualität der Zeit. Sogar mit seinem Weib hatte er schon manches Mal darüber gesprochen. Für den sorgfältigen Umgang mit Körper und Seele – vor allem letzeres – war Camilla zwar durchaus zu haben, von der Kostbarkeit der Zeit hingegen, die man seiner Meinung nach nicht ungestraft verschwenden durfte, hatte sie sich bisher nicht überzeugen lassen. Seine Maxime, Zeit sei Geld, war ihr sogar höchst suspekt, zumal sie argwöhnte, er habe sie sich erst auf die Fahne geschrieben, als er nach der wirtschaftlichen Rezession Mitte des Jahrhunderts auch noch der Wechslergilde beigetreten war, wie übrigens viele andere Seidenhändler außer ihm. In Camillas Familie, kleinen Handwerkern und Ladenbesitzern, aber galten Bankgeschäfte immer noch als unehrenhaft, und die Gute lebte in ständiger Furcht, man könnte ihnen über Nacht das Haus mit roter Farbe anstreichen, wie es bei Häusern von erwiesenen Wucherern oder auch bei Juden gelegentlich vorkam.

Camilla und ihre Befürchtungen ... Um welche Genüsse hatte sie sich damit schon gebracht!

Kopfschüttelnd, wenn auch mit einem Lächeln, öffnete Giovanni eines der Geheimfächer in seinem Schreibtisch, um die wappengeschmückte Familienchronik herauszuholen, in die er außer den Geburts- und Sterbedaten auch regelmäßig die wichtigsten äußeren Ereignisse eintrug, die ihm Einfluß auf sein Leben zu haben schienen und Folgen für seine Nachkommen.

Wie zum Beispiel gleich auf der ersten Seite der Tod des »pater patriae«, Cosimo de’ Medici, als er und Camilla gerade sechs Wochen miteinander verheiratet waren. Niemand hatte seinerzeit eine Vorstellung davon, wer Cosimos dreißigjährige Regentschaft fortsetzen sollte. Also baten die Ratsherren kurzerhand den ältesten Sohn Piero, die Bank- und Regierungsgeschäfte seines Vaters zu übernehmen.

»Ebenso phantasielos wie fragwürdig«, lautete Giovannis Kommentar in der Familienchronik. »Haben sie in Florenz vergessen, daß es so etwas wie Volksabstimmungen und Wahlen gibt?«

Oh, diese selbstherrlichen Banditen! Genüßlich befeuchtete Giovanni seinen Zeigefinger, damit sich die Seite besser wenden ließ. Er liebte das Knistern des feinen weißen Pergamentes, das aus den Häuten totgeborener Zicklein gewonnen wurde. Es stammte aus Spanien wie seine Rohseide und berührte seine Fingerspitzen kaum weniger angenehm.

Die nächste Eintragung stammte aus dem Jahr 1465:

»Konkurs des Bankhauses Pitti. Bau ihres Palastes unterbrochen«, stand da in seiner steilen, schnörkellosen Handschrift, und etwas weiter unten: »Geburt unserer ersten Tochter Tobia.«

Im Jahr darauf hieß es: »Heute wurde uns der dreijährige Knabe Pietro Baldassare ins Haus gebracht, Sohn des anno 63 erschlagenen Schneiders Frosino Bartoli und seiner Ehefrau Gelsomina – Camillas Kusine zweiten Grades –, die soeben in Siena der Pest erlag.« Nun, der Waisenknabe blieb für immer, denn er besaß keine Verwandten außer den Salvestrini und wäre als Sohn auch durchaus willkommen gewesen, hätte sein »saturnisches Gemüt«, wie Giovanni es gern umschrieb, das Leben mit ihm nicht von Anfang an erschwert. Die Kinderfrau, die sein heftiges Temperament besonders mißbilligte, konnte ein Lied davon singen. Sie rief ihn alsbald nur noch »Tribolo«, weil, so Faustina, er nur auf der Welt sei, »andere zu plagen und zu trib ulieren«.

Armer Quälgeist! Heute nannte ihn niemand mehr bei seinem Taufnamen, und dabei würde es wohl sein Lebtag bleiben. In der Chronik gab es nur noch einen weiteren Hinweis auf die Zeiten mit dem Pflegesohn. Schmunzelnd überflog Giovanni seine Zeilen zum 28. Mai 1472:

»Ein denkwürdiger Tag in der Geschichte unserer Stadt: Die unvergleichliche Kuppel des Domes erhielt elf Jahre nach ihrer Vollendung eine kupferne Kugel nebst Kreuz, welche heute unter Leitung des Bildhauers Verrocchio zum Ergötzen einer großen Volksmenge an ihren Platz gebracht wurde. Die Kugel wiegt exakt 4368 Pfund und faßt gut 500 Scheffel Korn. Den Knaben Tribolo, der mich so gern bei meinen Gängen durch die Stadt begleitet, erinnerte die Kugel, als sie endlich fest genug oben auf der Laterne saß, daß weder Wind noch Sturm sie zu Schaden zu bringen vermochte, an einen ›schwebenden Mond‹, und er beschloß auf der Stelle, Lehrjunge in Verrocchios Werkstatt zu werden.«

Also damals schon! Wie es doch von jeher das Spektakuläre war, was diesen Knaben anzog! Zumindest im Jahre 72 sollte er auf seine Kosten kommen, nur wenige Wochen später wußte die Chronik zu berichten:

»Man sah am Himmel über Florenz den angekündigten Kometen mit einem mächtigen Schweif, und es heißt, es bedeute den Tod großer Herren.«

Die Prophezeiung stammte nicht von ihm selbst, sondern von einem gewissen Stefano Infessura, Historiker und Verwalter bei den Colonna in Rom. Giovanni hatte sie aus reiner Neugier in sein Familienbuch eingetragen. Und in der Tat füllten sich im Laufe des Jahres die folgenden Zeilen mit den Sterbedaten »großer Herren«, wie vorausgesagt, unter ihnen der geniale Universalmensch L. B. Alberti, der florentinische Baumeister Michelozzo, der Naturwissenschaftler Salviani und der Humanist Bessarion.

Giovanni wußte bis heute nicht, was er davon halten sollte. Er blätterte noch einmal zurück, weil er die Geburt seiner zweiten Tochter Caterina anno 67 überschlagen hatte und zwei Jahre später den Tod Pieros de’ Medici. Auch von dessen Nachfolger, seinem blutjungen Sohn Lorenzo, hatte er kein Wort erwähnt; dieser war ebensowenig vom Volk gewählt. Rechte, die einmal aufgegeben wurden, ließen sich eben nicht kampflos zurückgewinnen, davon war Giovanni überzeugt. Die nächsten Seiten seiner Chronik füllten geschäftliche Transaktionen, Gewinne und Verluste, das übliche Auf und Ab einer Kaufmannsexistenz.

1470 brachte Camilla ihre jüngste Tochter Giovanna zur Welt, danach drei Kinder, die nicht lebensfähig waren. Nichts als Töchter und Totgeburten ... Giovanni trocknete sich die Stirn, heiß war ihm geworden. Er erhob sich, um die schweren hölzernen Fensterläden aufzustoßen und frische Luft hereinzulassen. Hier oben in der zweiten Etage mußte noch die alte Bespannung mit Öltuch eine kostspielige Verglasung ersetzen. Nicht mehr allzu lange, hoffte er. Giovanni mochte es nicht, wenn mit der Kälte oder Hitze, dem Sturm oder Regen auch das Sonnenlicht ausgesperrt wurde. Er versuchte, tief durchzuatmen, Gefühle der Beklemmung gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Ein Hauch von Fäulnis und Verzweiflung wehte ihm entgegen. Noch waren die Schäden der letzten Stunden nicht zu ermessen. Dunkle Schatten lagen über der Stadt, gleichzeitig brach schwefliges Licht in waagerechten Bahnen aus einem Himmel, der aussah wie zerknittertes Papier. Was für eine Stimmung! Was für ein Tag, um geboren zu werden!

Der Astrologe, den Camilla kurz vor dem Sturm noch hatte kommen lassen, sprach von einer ungewöhnlichen Planetenkonjunktion, welche die Geburt eines ungewöhnlichen Kindes erwarten lasse. Über sein Geschlecht allerdings hatte er sich ausgeschwiegen, der Herr Astrologe. Wahrscheinlich verstand er sein Metier auch nicht besser als der Gemeindepriester, der ebenfalls vorbeigeschaut und Giovannis Zorn mit der völlig absurden Theologenthese erregt hatte, ungeborene Mädchen erhielten ihre Seele erst neunzig Tage nach der Empfängnis, Knaben dagegen wesentlich früher, wenn nicht im Augenblicke selbst.

»Ja, hat denn diese Kirche nichts Besseres zu tun, als die Vorurteile kleiner Leute zu nähren, die Mädchen ohnehin für minderwertige Geschöpfe halten, welche ihren Eltern nur Kosten und Sorgen bereiten?« hatte er den Geistlichen angefahren.

»Es sind weniger die kleinen Leute, wie Ihr sie zu nennen beliebt, als vielmehr wohlhabende Bürger, welchen die Sorge um die Mitgift für mehrere unverheiratete Töchter schlaflose Nächte bereitet. Obwohl ich es Euch nicht wünsche, werdet Ihr es schon noch am eigenen Leibe erfahren!« hatte der Seelsorger geschnaubt und sich auf der Stelle empfohlen, ohne sich um Camillas verletzte Gefühle zu kümmern, die ob dieses ketzerischen Disputes den Tränen nahe war.

Giovanni seufzte. So sehr er seine drei Töchter liebte und Wert darauflegte, ihnen die gleiche Bildung zu ermöglichen, die er Tribolo oder einem eigenen Sohn zugebilligt hätte, so wenig konnte er die Belastung leugnen, die auf ihn zukam, wenn die Mädchen das heiratsfähige Alter erreichten. Und Tobia war bereits dreizehn. Viel Zeit blieb nicht mehr. Ihre Mitgift würde den Maßstab für die jüngeren Schwestern setzen, eine Verpflichtung, der er sich nicht wieder entziehen könnte. Zum Glück gab es in Florenz eigens eine Bank für Töchterväter, die »monte delle doti«, auf die er monatlich einen Betrag einzahlte, der zudem gute Zinsen brachte, zur Zeit sogar stolze achtzehn Prozent ... Allmächtiger! Da rechnete er nun hier herum, und unten quälte sich sein Weib zum siebten und hoffentlich letzten Mal, denn eigentlich war sie über das Alter längst hinaus. Töchter oder Totgeburten ... Nein, diesmal nicht!

Diesmal war alles anders. Eine solche Schwangerschaft, sagte Camilla, hätte sie noch nicht erlebt. Das Kind in ihrem Leib purzelbaumte und pochte schon von der siebzehnten Woche an, gab Tag und Nacht keine Ruhe. Ein ungebärdiges Kind in einem stürmischen Frühjahr. Selvaggio wollten sie ihn nennen, den Wildfang.

Giovanni füllte frisches Öl in die Lampen, schloß die Fensterläden und wandte sich wieder seiner Chronik zu. Auf diese Weise würde die Zeit schneller vergehen. Nachdem er die Spitzen aller Gänsekiele so fein wie möglich beschnitten hatte, prüfte er die Konsistenz seiner schwarzbraunen Sepia, gewonnen aus der Blase eines Tintenfisches, zu Pulver getrocknet und mit Wasser wieder angerührt. Einen unvergleichlichen Geruch verströmte dieses Sekret, fand Giovanni, der gerne mehr von jenen animalischen Stoffwechseln geheimnisvoller Unterwasserwelten verstanden hätte und wünschte, in einer Epoche geboren zu sein, die sich tiefer um Erkenntnis der Naturgesetze bemühte als seine eigene. Diese Epoche, das spürte er, würde bald anbrechen. Seinem Sohn vielleicht ...

In sorgfältiger Schönschrift malte er das Datum des heutigen Tages auf das erste unberührte Blatt:

Florenz, 16. Mai 1478

Gern hätte Giovanni weitergelesen, als seien die Stationen eines Lebens, das gerade erst beginnen sollte, schon mit unsichtbarer Tinte in diesem Buch vorgezeichnet. Doch so sehr er es auch wünschen oder fürchten mochte, das Pergament blieb weiß und verschwiegen, und der Chronist mußte sich wie bisher mit dem Rückblick begnügen. Dabei war ihm das Jahr zuvor nur eine einzige Eintragung wert gewesen:

»Seit gestern Abend im Besitz eines der ersten Exemplare des sogenannten Atlas. Dazu wurde die Weltkarte des Ptolemäus ergänzt, gedruckt, in Ausschnitte geteilt und zum Buch gebunden«, hieß es da in knappen Worten. Wozu einen Atlas beschreiben, den sich jedermann bei ihm ansehen konnte, der sich dafür interessierte. Häufiger als seine Töchter fragte allerdings Tribolo danach. Vor allem »terra incognita«, das unerforschte Land außerhalb der bekannten Kontinente, wo jeweils stand: »Jenseits dieser Stelle hausen die Drachen«, schien seine Phantasie zu entzünden, denn er konnte diesen Satz gar nicht oft genug laut vorlesen.

Anders als anno 77 füllte allein der 26. April 78 schon einige Seiten, gewidmet Selvaggio Salvestrini, geboren im Jahr der Verschwörer. Er sollte eine Antwort finden, wenn er früher oder später wissen wollte, was in diesen Tagen zu Florenz geschah. Das war man ihm schuldig, meinte Salvestrini, und nicht zuletzt darin sah er den Sinn seiner Chronik.

Mit dem machthungrigen Papst Sixtus hatte er beginnen müssen, der die Stadt Florenz durch die Ermordung der Brüder Medici und die Auflösung der Signoria seinem Kirchenstaat einverleiben wollte.

Den genauen Plan dazu lieferte ihm der unselige Francesco de’ Pazzi, der es nie verwunden hatte, daß die Dame seines Herzens – die schöne goldblonde Simonetta de’ Vespucci, das Venusmodell Botticellis – seinem Rivalen Giuliano de’ Medici den Vorzug gab, einem entfernten Verwandten.

Es fand sich auch ein gedungener Mörder, der die Meucheltat bei einem Gastmahl ausführen wollte, nicht jedoch, wie gewünscht, im Dom und während des Hochamtes. Folglich verbündete sich Francesco mit zwei Geistlichen, welche die heiligen Orte gewöhnt waren und sich nicht scheuten, sie mit Blut zu beflecken. Der Augenblick, in dem der Erzbischof Salviati, der ebenfalls zu den Verschwörern zählte, den Gläubigen die Hostie zeigte, sollte das Zeichen zum Überfall sein.

»Was für eine Welt!« murmelte Giovanni, während er seine Worte noch einmal durchlas, die er erst vor zwanzig Tagen geschrieben hatte, und wußte, es kam noch schlimmer.

Vom Verrat an den höchsten Idealen würde sein Kind erfahren müssen, von der falschen Freundschaft vor allem. Denn wie von zwei Freunden wurden Lorenzo de’ Medici und sein anmutiger Bruder Giuliano an jenem 26. April von den beiden Pazzi daheim zum Kirchgang abgeholt.

Was aussah wie eine zärtliche Begrüßung, war nichts als ein geschicktes Tasten nach verborgenen Waffen. Was klang wie heiteres Geplauder, nichts als Täuschung und Hinterlist. Völlig arglos ließen sich die Brüder Medici zu ihrer Hinrichtung führen.

Dennoch gelang der Anschlag auf ihr Leben nicht ganz. Die beiden gottlosen Geistlichen mit ihren Degen unter dem Priesterrock verstanden es wohl besser, mit Worten zu fechten als mit Waffen; jedenfalls verwundeten sie den jungen Lorenzo lediglich an der Kehle. Gewandt, wie er war, konnte er sich in die Alte Sakristei flüchten und dort verbarrikadieren. Der neben ihm kniende Giuliano dagegen wurde von Francesco de’ Pazzi getötet, der, wie man hörte, neunzehnmal auf ihn einstach, bevor er sich in seiner Raserei selbst am Oberschenkel verletzte. Dennoch konnte Francesco sich ungehindert aus dem Dom nach Hause schleppen, wo er sich sofort zu Bett begab.

Inzwischen war der Erzbischof Salviati gleich vom Altar aus zum Signorenpalast gestürmt, um die Ratsherren zu entmachten. Zu seinem Bedauern verfügte Giovanni Salvestrini nicht über die Wortgewalt eines Poeten, die Dramatik des Augenblickes angemessen darzustellen, und so schrieb er nur:

»Salviati unterrichtete die Signoria vom Tod der Brüder Medici und forderte, im Namen Seiner Heiligkeit des Papstes, die Übergabe der Stadt Florenz. Ungläubiges Staunen, Zweifel, lähmendes Schweigen. Als der Bischof sich nach seinen Mitverschwörern umsah, damit sie seinen Worten Nachdruck verliehen, mußte er zu seinem Schrecken feststellen, daß sie gar nicht mit hereingekommen waren. Man sagt«, so hatte Giovanni später hinzugefügt, »sie hätten sich im Palast verlaufen und sich versehentlich in einen Saal eingesperrt, dessen Türen nur von außen zu öffnen waren.«

Das Ende war schnell erzählt:

»Die Herren der Signoria packten den Erzbischof bei seinem Meßgewand und prügelten die Wahrheit über den Putschversuch aus ihm heraus. Wenig später zeigte sich Lorenzo, bleich wie der Tod, mit blutgetränktem Verband, der Volksmenge, die ihm vom Dom bis zum Medicipalast gefolgt war, und gab ihr den Mord an seinem Bruder und die Verschwörung der Pazzi gegen die ganze Stadt bekannt. Die Florentiner bebten vor Empörung, Zorn und Rachsucht. Obwohl Lorenzo sie zu beschwichtigen versuchte, begannen sie eine beispiellose Verbrecherjagd. Eine volle Woche lang wurde ein Verschwörer nach dem anderen aufgespürt und zu Tode gequält, als erste, versteht sich, der Erzbischof und die Pazzi. Allein an den Fenstern des Signorenpalastes sah man mitunter Dutzende von Gehängten baumeln. Und am Tag, als die große Flut begann, hatten über zweihundert Menschen, ob zu Recht oder Unrecht, für den Mord an Giuliano de’ Medici ihr Leben gelassen.«

Da darunter noch etwas Platz war, fügte Giovanni nun hinzu:

»Zur Stunde erwartet Florenz die Exkommunikation durch Papst Sixtus, das bedeutet: Die Stadt muß bis auf weiteres auf den Segen ihrer Kirche verzichten. Und das in Italien! Es werden keine Sünden mehr vergeben und weder Taufen noch Trauungen stattfinden. Da überdies die Glocken verstummen, werden die Bürger jede zeitliche Orientierung verlieren – was durch die Unwetterkatastrophe auch ohne päpstliche Verfügung bereits geschehen ist.«

Wie gut, daß Giovanni nicht abergläubisch war, er hätte sonst wahrhaftig annehmen müssen, daß sein jüngstes Kind unter keinem guten Stern geboren würde!

Eine Weile saß er noch da und sann, ließ seine Gedanken vom ungeborenen Sohn zum Knaben Tribolo wandern, der zur Zeit als Lehrjunge dem Meister Verrocchio bei seinen drei lebensgroßen Wachsfiguren nach dem Bilde des Lorenzo zur Hand gehen mußte. Die Anhänger der Medici hatten die Figuren in Auftrag gegeben, um sie als Dank für des Freundes Errettung an verschiedenen Plätzen der Stadt aufstellen zu lassen.

Tribolo, sonst oft recht maulfaul, berichtete täglich jedem, der ’s hören wollte, vom Fortgang der Arbeit und ärgerte sich sogar, als er wegen des Hochwassers nicht mehr über die Brücke zur Werkstatt auf der anderen Seite gelangen konnte. In allen Einzelheiten hatte er der Familie zuvor beschrieben, wie das Holzgerüst im Inneren mit wachsüberzogenem Tuch ausgekleidet wurde, wie Hände und Füße nach der Natur geformt und mit Ölfarben bemalt wurden. Wie in Kürze sowohl echte Haare als auch echt aussehender Schmuck angefertigt werden sollten, damit die Kunstwerke lebenden Menschen glichen.

Besonders erwähnenswert erschien es dem Kindskopf, daß eine der Figuren in genau dasselbe blutbefleckte Gewand gekleidet werden sollte, welches Lorenzo trug, als man ihn verwundete. Obwohl nun schon sechzehn Jahre alt und somit ein junger Mann, liebte es Tribolo immer noch, sich zu gruseln wie ein unreifer Lateinschüler ...

Vorsichtig glättete Giovanni die letzten Seiten der Familienchronik, dann klappte er sie zu und schloß sie weg, nicht ohne vorher noch einmal über den Goldschnitt und das schwarzweiße Familienwappen zu streichen. Unten in Camillas Schlafzimmer hörte er ihre Freundinnen die Marienlitanei anstimmen. Seine Schreibtischuhr zeigte kurz nach sechs. Nicht vor der Vesper, hatte die Hebamme gesagt. Camillas Zeit war wohl gekommen.

Als Selvaggia Salvestrini das Licht der Welt erblickte, gedämpftes Abendlicht, das durch die Fensterscheiben vielfarbige Muster in den Raum zeichnete, läuteten in Florenz schon seit einer Stunde die Glocken. Die bescheidene von San Spirito hatte als erste ihre Bimmelstimme erhoben und ihre Nachbarin von San Frediano angesteckt; wenig später waren auch die Glocken der großen Kirchen jenseits des Arno eingefallen, die melodischen von Santa Maria Novella und San Lorenzo, die dunklen vom Dom. Seitdem erklangen sie alle miteinander im Festtagsgeläut, verkündeten, dem drohenden Kirchenbann zum Trotz, der ganzen Stadt den Sieg des Lichtes über Regenstürme und Finsternis, versöhnten die Salvestrinis mit der Geburt ihrer vierten Tochter.

»Herr, dein Wille geschehe«, betete Biga, während sie das Ebengeborene mit kräftigen Klapsen in die Leiden dieser Welt einführte. Erschrocken tat das Kind einen Atemzug, der wie ein tiefer Seufzer klang, aber es weinte nicht.

Die Hebamme hielt es kopfüber an den Füßen und versuchte es mit weiteren Schlägen, bis Camilla es ihr verbot.

»Wer nicht schreien will, ist nicht lebensfähig!« protestierte Biga.

»Aber es atmet doch schon von selbst recht gut«, fand Camilla.

Biga schüttelte den Kopf: »Das hat es bei mir noch nie gegeben«, entschloß sich dann aber doch, das Kind auf Wunsch seiner Mutter auch ohne Geschrei mit duftendem Rosenwasser abzuwaschen und ihm den Mund mit Wein und Honig zu reinigen.

Vielleicht lag Camilla ja nicht viel am Leben einer weiteren Tochter, was wahrhaftig kein Wunder wäre. Biga konnte einen Anflug von Schadenfreude nicht ganz verleugnen, als sie das kleine Mädchen nackt auf einer weichen Ziegenfelldecke in Camillas Bett trug, damit alle es dort betrachteten. Warum sollten immer nur die Armen mit Töchtern gestraft werden und weiße Bohnenkerne in den Geburtskasten am Baptisterium werfen müssen, um der Stadtverwaltung eine neue Bürgerin und ein hungriges Maul mehr zu melden? Ein weißer Bohnenkern aus einem wohlhabenden Haushalt würde wenigstens für ein behütetes Leben ohne Hunger, Kälte und sonstige Entbehrungen sprechen. So gesehen war es sicher nicht das schlechteste Los, eine Tochter der Salvestrini zu sein. »Hauptsache, sie ist gesund nach all den Plagen«, fand Biga das Stichwort für die Freundinnen, leicht verlegen näher zu treten und ihre Glück- und Segenswünsche auszusprechen, die ihnen kaum über die Lippen wollten. Bei einem vierten Mädchen war schon alles gesagt.

Wider Erwarten ließ Camilla, die sonst so Verbindliche, keine von ihnen zu Wort kommen. »Spart euch eure scheinheiligen Sprüche und falschen Komplimente und laßt mich allein«, verlangte sie mit fester Stimme und schien dabei weder sonderlich betrübt noch erschöpft zu sein.

Teils mit betretenen Mienen, teils sichtlich gekränkt, klaubten die Damen ihre Nachttöpfe und Toilettenartikel zusammen und stahlen sich davon. Seltsamerweise kam es Camilla so vor, als sähe sie für einen Augenblick Tribolos Rotschopf im Gewoge der Umhänge und Gewänder aufblitzen, aber das konnte ja wohl nur eine Täuschung sein. Wahrscheinlich hatte sich wieder eine von Tobias orangeroten Katzen mit hereingeschlichen und suchte jetzt, durch den plötzlichen Aufbruch in Panik versetzt, mit einem Satz das Weite. Sollte sie, sollten sie alle.

Kaum waren die Damen draußen, zog Camilla die Ziegenfelldecke näher an sich heran und begann mit wachsendem Entzücken das kleine Wesen kennenzulernen, das so viele Monate Teil ihrer selbst gewesen war. Sie hatte das Gefühl, gleichzeitig singen und weinen zu müssen.

»Du kannst dann auch gehen, den Rest wird Faustina besorgen«, wandte sie sich an Biga, die noch die letzten Spuren der Geburt beseitigte. »Und die junge Frau vom Lande kannst du ebenfalls nach Hause schicken.«

Biga verstand nicht. »Ihr sprecht doch nicht etwa von der neuen Amme? Wollt Ihr Euer Kind verhungern lassen?«

»Keineswegs. Es soll das Beste bekommen, was ich ihm geben kann: meine eigene Milch.«

Fassungslos ließ Biga sich auf eine Truhe sinken. Donna Camilla mußte den Verstand verloren haben, trotz des Schlangenhautgürtels! Ein Wochenbettkoller, sie hatte es ja geahnt. Man sollte ihr gut zureden wie einer unaufgeklärten Jungfrau oder einer Erstgebärenden:

»Die Muttermilch der Damen von Stand ist dünn und wäßrig, gerade gut genug, ein Katzenkind damit großzuziehen.«

»Das kann ich nicht glauben«, behauptete Camilla.

»Ihr werdet Euch Eure Figur verderben, Eure Brüste ... Denkt nur!«

»Ich habe die Dreißig weit überschritten, wie du weißt, da gibt es nicht mehr viel zu verderben.«

»Aber es schickt sich nicht. Die Leute werden sagen, Euer Gatte sei zu geizig, die zwei Florin im Monat für die Amme zu zahlen.«

»Die schönen Madonnen auf den Gemälden in der Kirche geben ihrem Kind auch selbst die Brust, Biga. Ist dir das noch nie aufgefallen?«

»Madonna! – Die Madonna ist eine Frau aus dem Volk gewesen!«

»So wie ich, meine Gute! Mein Vater war nur ein kleiner Zuckerbäcker. – Also, schickst du die Amme nun fort?«

»Das wird kein gutes Ende nehmen!« Murrend schlurfte Biga zur Tür, wo sie fast mit dem Hausherrn zusammenstieß.

»Na, na, Biga! Die stürmischen Zeiten sind doch vorbei! – Wie geht es meiner Frau?«

»Es ist nur eine Tochter, Signore.«

»Donnerwetter!« Statt die Fassung zu verlieren, brach Giovanni in Gelächter aus, wenn auch etwas zu laut und unbefangen. »Und alles sprach dagegen! Ja, ja, brave Biga, die Natur spielt uns seltsame Streiche! – Und Donna Camilla?«

»Oh, was soll ich sagen ... Sie hat alles erstaunlich gut überstanden. Aber sie phantasiert ... Eine Überreizung der Nerven, nehme ich an. Überzeugt Euch selbst!«

In der Tat machte Camilla ein Gesicht, das Giovanni noch nie an ihr gesehen hatte. Auch als er ihr eine besonders fein gearbeitete Venusbrosche überreichte, die er beim besten Juwelier der Stadt schon im voraus zur Geburt des Sohnes bestellt hatte und die nun zurückzuhalten ihm sein Zartgefühl verbot, änderte sich der Gesichtsausdruck seines Weibes nicht. Es mußte also an dem Kind liegen, welches Camilla da in eine Decke gehüllt so fest an ihre Brust preßte. Behutsam lockerte er ihren Griff und half ihr, seine Tochter auszupacken, wobei er tröstend Camillas Hände streichelte. Doch Trost, das sagte ihm schon sein erster Blick, schien hier gänzlich unangebracht: Camilla hielt das schönste Kind in den Armen, das er je zu Gesicht bekommen hatte.

»Obwohl es zwei Wochen vor der errechneten Zeit geboren wurde, hatte es die Augen weit offen«, würde er später in seine Chronik schreiben, und weiter: »Es hat ausgesehen, als sei es schon ein Jahr auf der Welt. – Ein erstaunliches Phänomen.«

Er zog es auch diesmal vor, lieber zu untertreiben, als große Gefühle in unpassende Worte zu fassen. In Wirklichkeit hielt er dieses Wesen, das Camilla ihm nun mit Stolz vor Augen führte, schlicht für vollkommen, mit seinen harmonischen Proportionen, den feinen, ebenmäßigen Gliedern und dem bernsteinfarbenen Schimmer der Haut, der so gar nichts gemein hatte mit der üblichen Säuglingsgelbsucht.

Seine drei ersten Töchter, die längst zu hübschen Mädchen herangewachsen waren, hatten sich ihm in ihrer ersten Stunde als runzlige, zappelnde Zwerge präsentiert, mit krebsroten Köpfen und zornigen Mienen, sichtlich gezeichnet von den Strapazen des Menschwerdens. Diese vierte aber war ein Wunder, wie man es schöner nicht hätte malen können.

Er hob sie ganz dicht vor sein Gesicht, schnupperte an der Haut und am seidigen Fell wie ein verstörtes Tier, welches sich vergewissern will, daß sich kein fremdes Junges unter die eigene Brut gemischt hat. Trotz der Rosenwasserzeremonie, auf die Biga wohl kaum verzichtet hatte, duftete die Haut des Kindes nach etwas, das nicht hierhergehörte. »Nach Weihrauch und Meßopfer«, meinte er nach einer Weile, »wie die Haut einer Priesterin. – Findest du nicht, Camilla?«

Giovanni gab ihr das Kind zurück, damit auch sie seinen Duft überprüfte. »Und du bist sicher, daß ich der Vater bin?«

Camilla lächelte. »Ich bin nicht einmal sicher, daß ich die Mutter bin.«

»Hm. Verstehe. – Wie sollen wir sie denn nun nennen?«

»Selvaggia.«

»Aber, Camilla! Meinst du nicht, man sollte nach dieser Überraschung lieber einen neuen Namen wählen? Einen, der besser zu ihr paßt? Angela, Angelica oder Maria? Ich jedenfalls kann in diesen stillen blauen Augen nichts Wildes entdecken.«

»Ich schon«, sagte Camilla, »zumindest sehe ich es kommen.«

»Du änderst dich wirklich nie, obwohl ich eben beim Hereinkommen noch das Gegenteil dachte«, scherzte Giovanni. »Und nun ruh dich aus, mein Herz, ich denke, du hast es verdient.«

Er küßte sie väterlich auf die Stirn, bevor er ging. Gleich morgen würde er hundert weiße Rosen besorgen. Eine Venusbrosche war zu wenig für die Tochter, die sie ihm heute geschenkt hatte.

Nichts wäre Camilla lieber gewesen, als jetzt endlich ausruhen zu können, aber anscheinend hatte ihr Körper es verlernt, sich zu entspannen. Sobald sie die Augen schloß, begannen ihre Lider zu zucken und ihr das Herz bald bis in den Hals zu klopfen, bald stillstehen zu wollen. Sie war gleichzeitig sterbensmüde und hellwach. Außerdem wartete sie auf Faustina, die ohne ein Wort der Erklärung vor den Freundinnen hinausgelaufen war, als sie gerade am nötigsten gebraucht wurde. Wo sie nur so lange blieb? Wenn die altvertraute Kinderfrau bei ihnen wachte, würde Camilla vielleicht nicht ständig nachsehen müssen, ob ihr Kind auch noch atmete. Es lag so ruhig wie eine Puppe und war doch dasselbe, das sich in ihrem Leib solche Kapriolen erlaubt hatte. Als ob auf die Welt zu kommen das Ziel seiner ganzen Unrast gewesen wäre. Zu früh geboren und am Ende zu früh wieder genommen ...? Da war sie wieder, Camillas Neigung zu schwarzen Gedanken, die sie zeit ihres Lebens vergeblich bekämpft hatte. Schon wagte sie es kaum noch, die Rosenwangen des Kindes zu berühren, seinen lockigen Flaum, etwas dunkler als die Haut, aber nicht weniger schimmernd, den nur angedeuteten Bogen der Augenbrauen. War es nicht von vornherein zu vollkommen für diese Welt?

Sie erinnerte sich an den Wachszauber, den Faustina in den ersten Schwangerschaftswochen für sie veranstaltet hatte, weil sie sich so elend fühlte, daß alle eine weitere Fehlgeburt fürchteten. Faustina hatte Jungfernwachs verlangt, das sie in einer funkelnagelneuen Pfanne schmelzen ließ, während sie allerlei Beschwörungsformeln brabbelte. Schließlich goß sie die Flüssigkeit zum Abkühlen in ein noch nie gebrauchtes Glas. Nachdem das Wachs wieder erstarrt war, glaubte sie darin alles zu sehen, was sie wissen wollte.

Nur ungern dachte Camilla daran, welche Mühe es sie gekostet hatte, sie zum Reden zu bringen, und wie sorgsam Faustina ihre Worte zu wählen versuchte, als sie endlich sprach:

»Ihr solltet Euch nicht grämen, wenn Ihr es vor der Zeit verliert, Donna Camilla. Andernfalls ...«

»Was fällt dir ein, Faustina?«

»Andernfalls wird man es sein Lebtag von jedwedem Feuer fernhalten müssen.«

»Wie alle kleinen Kinder«, sagte Camilla mit wachsendem Ärger.

»Nein, mehr als alle anderen Kinder und sein Lebtag«, wiederholte Faustina. »Andernfalls ...«

»Andernfalls?«

»Könnte es eines Tages bei lebendigem Leib verbrennen.«

»Faustina, du machst mir angst!« hatte Camilla sich jedes weitere Wort verbeten und dafür gesorgt, daß Giovanni nichts von alldem erfuhr. Erst als sie das sternförmige Feuermal zwischen den Schulterblättern des Kindes entdeckte, war ihr der Wachszauber wieder eingefallen.

»Nanu, ein Storchenbiß! Bis zur Hochzeit wird er vergehen«, hatte Biga gescherzt, Faustina aber war nach einem flüchtigen Blick auf das hellrote Mal ohne Rücksicht auf Camillas Freundinnen hinausgestürmt, die soeben gemessenen Schrittes ihr Gastspiel beendeten.

Zum Glück hatte Giovanni das seltsame Sternzeichen auf der Haut seiner Tochter übersehen, obwohl es sein Bild gewiß nicht getrübt hätte und er sich jegliche Schlußfolgerungen mit den Worten: »Hirngespinste, weiter nichts!« ein für allemal verbitten würde.

»Möge dein Vater recht behalten, Selvaggia«, wünschte Camilla, und das Kind schaute sie aufmerksam an, als verstünde es jedes Wort. Sogar ein Lächeln konnte es schon hervorzaubern, niemand würde es glauben, der es nicht sah. »Ich werde mit dir reden wie mit einer Erwachsenen«, beschloß Camilla, »vom ersten Tag an.« Sie nahm ihren venezianischen Spiegel zur Hand und stellte sich vor, sie könnte sich mit des Kindes Augen betrachten, was soviel hieß, wie sich selbst ins Gesicht zu schauen, ohne an dessen Vergangenheit oder Zukunft zu denken. Ein müßiger Versuch! Zu oft schon hatte sie ihre eigenen Züge studiert, um die Spuren der Zeit übersehen zu können. Camilla befand sich bereits am Nachmittag ihres Lebens und wunderte sich immer noch, daß sie alterte. Erst als sie ihre Jugend zu verlieren begann, ahnte sie, was sie ihr hätte bedeuten können. Von Jahr zu Jahr, so kam es ihr nun vor, erschöpften sich Möglichkeiten, die nie mehr genutzt würden, blieben wertvolle Schätze ungehoben.

Das angenehme Leben, welches sie an Giovannis Seite führte, hatte ihr zwar manche Sorgenfalte ersparen können, nicht aber die Linien, die sie selbst ihrer Mimik durch die Beschaffenheit ihrer Gefühle und Gedanken einprägte. Die verborgene Schwermut in den Augen, die jetzt freilich fiebrig glänzten, die verräterischen Konturen der Lippen, die, selbst wenn sie sich um ein Lächeln bemühten, den grundsätzlichen Mangel an Lebensfreude nicht mehr zu leugnen vermochten.

Mit dreißig, so hieß es, waren die Wonnen der Liebe vorüber, überflüssig, sie durch Schnürmieder, Schminke, Düfte noch einmal beschwören zu wollen. Nun gut, wenn sie schon nicht mehr Frau sein durfte, dann wollte sie wenigstens die Freuden der Mutterschaft ein letztes Mal genießen, die sie sich bei ihren ersten drei Kindern versagt hatte, um Giovanni möglichst bald wieder eine vollwertige Geliebte zu sein. Was sie selbst wollte, hatte sie sich eigentlich nie so recht gefragt. Dies, so schien es ihr nun, war der Tag, damit zu beginnen. Sie warf ihrem Spiegelbild noch einen verschwörerischen Blick zu, bevor sie sich leichten Herzens davon trennte.

Als endlich Faustina mit angewärmten Tüchern und einem Wickelkissen unter dem Arm zurückkam, versuchte Camilla, ihrem Kind zum ersten mal die Brust zu geben. Faustina lachte sie aus.

»Wenn Ihr in Eurem Alter die Ammenkunst noch erlernen wollt, solltet Ihr viel Geduld mitbringen!«

»Mehr Geduld, als die natürliche Kunst der Welt erfordert«, sagte Camilla, die jetzt schon spürte, daß das Stillen eine durchaus lustvolle Beschäftigung sein würde.

»Ihr werdet frühestens in sechs Stunden Milch haben, Donna Camilla. – Seid Ihr denn gar nicht müde, zerschlagen, erschöpft?«

»Nicht zu müde, um dich zu fragen, warum du uns vor geraumer Zeit so überstürzt verlassen hast!«

Faustina zupfte gedankenverloren an den Rüschen ihres Wickelkissens. »Um die Damen zum Aufbruch zu animieren«, antwortete sie, »und um dies hier zu besorgen.« Sie deutete auf eine Stickerei in der Mitte des Kissens.

»Das Sonnenemblem des Heiligen Bernhardino!« staunte Camilla. »Wo hast du es her?«

»Oh, man hat so seine Quellen ... Eure Tochter braucht besonderen Schutz, wie Ihr wißt. Und Ihr seid doch eine Anhängerin des Bernhardino von Siena, nicht wahr?«

»Meine Mutter selig war es«, entsann sich Camilla. »Sie hat all die berühmten Predigten noch mit eigenen Ohren hören können. Aber du hast recht, Faustina, seitdem Bernhardinos Prophezeiungen eingetroffen sind und er heiliggesprochen wurde, bin auch ich seine Anhängerin.«

»Welche Prophezeiungen meint Ihr?«

»Du weißt es nicht? Nun, daß die Schiffe Venedigs über die Berge segeln und die venezianischen Pferde übers Meer gehen würden. – Wie das nur möglich sein könnte, das hat in meiner Kindheit meine Phantasie tagelang beschäftigt.«

»Und wie war es schließlich möglich?«

»Die erste Prophezeiung erfüllte sich schon zu Lebzeiten meiner Mutter, als etliche venezianische Schiffe über Land zum Gardasee gebracht wurden, um die Grenzen des Veneto gegen den Herzog von Mailand zu schützen; die andere vor wenigen Jahren, als die venezianische Reiterei die Türken in Griechenland bekämpfte.«

»Ach so«, sagte Faustina, etwas enttäuscht, daß die Geschichte eine so prosaische Erklärung fand, denn sie schätzte das Irrationale entschieden mehr als die Vernunft. Niemand warf ihr das öfter vor als Giovanni.

»Schade, daß ich zu alt bin, auch Eurer vierten Tochter Amme zu sein«, bedauerte sie, während sie das Kind in Tücher wickelte. »So ein Marzipanpüppchen.« Sie küßte es geräuschvoll auf den Hals. »So ein allerliebstes Zuckerengelchen wie dieses, das hätte mir auch gefallen!« Noch ein Kuß auf die Stirn, dann wollte sie das Kind, da es friedlich blieb, an seine Wiege gewöhnen, doch Camilla schien sich immer noch nicht von ihm trennen zu wollen. »Leg es auf das Kissen«, wünschte sie, »ich will es heute Nacht bei mir behalten.«

Faustina brummte Unverständliches. »Es ist eigentlich ein Taufkissen«, sagte sie dann.

»Ich weiß.« Camilla dachte nach. »Der Namenstag des Heiligen Bernhardino ist am 20. Mai. Demnach müßten wir Selvaggia schon in vier Tagen taufen. Nur so wird das Emblem sie schützen können.«

Faustina schüttelte energisch den Kopf. »Das ist viel zu früh. So ein kleines Kind, überdies vor der Zeit geboren, darf noch nicht an die Luft. Als ob Ihr das nicht selbst wüßtet!«

»Schon. Aber bei Selvaggia ist alles zu früh, und wenn wir sie nicht so bald wie möglich zum Baptisterium tragen, wird sie am Ende das ganze Jahr nicht getauft werden. Giovanni meint, nach der Auseinandersetzung zwischen dem Papst und den Medici drohe ganz Florenz der Kirchenbann. Willst du etwa, daß dein Engelchen ein Heidenkind bleibt?«

Darauf wußte Faustina keine Antwort. Sie bekreuzigte sich stumm und setzte sich auf einen Schemel neben der Truhe, um die Nachtwache zu beginnen.

Es tat wohl, sie in der Nähe zu wissen. Camilla spürte, wie sie langsam zur Ruhe kam, wie ihr die Glieder schwer wurden und der Kopf leicht, so als hätte sie reichlich Wein getrunken. Trotzdem überprüfte sie noch einmal, ob ihre Tochter auch richtig gewickelt war, weder zu fest noch zu locker. Gerührt ließ sie ihre Finger über das gestickte Sonnenemblem wandern, das aus einem Christusmonogramm mit goldenem Strahlenkranz auf blauem Grund bestand. Wo hatte sie das nicht schon überall gesehen! An den seltsamsten Stellen. Auf Palazzofassaden in Siena, über Kirchenportalen und auf Altären, auf Geschäftsbüchern und Spinnrädern, auf Wiegen und Kochtöpfen. Überall, wo der Heilige Bernhardino einmal aufgetreten war, hatten seine Anhänger dafür gesorgt, daß seine Sonne zurückblieb.

Brave Faustina! Ein schöneres Symbol hätte wohl niemand der kleinen Selvaggia aussuchen können! Sonne statt Feuer, wärmen statt verbrennen, wachsen lassen statt zerstören ... So sollte es sein!

Noch einmal herzte Camilla ihr Kind, dem auch langsam die Augen zufielen, bevor sie es mitsamt seinem Kissen zu ihrer Rechten bettete. Eine Weile lauschte sie seinen schnellen, flachen Atemzügen und fand es entspannend, sich seinem Rhythmus anzupassen wie in einem magischen Spiel, dann aber überfiel sie neue Unruhe. Wenn sie sich nun in der Nacht, in einem bösen Traum womöglich, auf die Seite drehte und es erdrückte? Was für ein schrecklicher Gedanke! Schon halb schlafend schob sie ihre Hand unter das Wickelkissen, bis sie das Gewicht des Kindes in der Armbeuge spürte. Es wog fast nichts. Auch Camilla hatte nun das Gefühl, eine substanzlose Hülle zu sein, die ihren Zweck erfüllt hatte wie der abgelegte Kokon einer Seidenraupe. Selvaggia war der Schmetterling, sie der Kokon. Die Geburt eine Metamorphose. Wenn sie jetzt beide diese Welt verlassen müßten, so sähe sie darin keinen Grund zur Trauer. Ganz im Gegenteil! Camilla spürte plötzlich nie empfundenes Mitgefühl mit allem, was sich so leicht und zerbrechlich wie ihre Tochter einem Leben auslieferte. Wenn man sie nur vor dem Schlimmsten bewahren könnte ... Aber was wäre es denn, das Schlimmste? Sie war nicht mehr fähig, den Faden zu Ende zu spinnen. Über keines ihrer anderen Kinder hatte sie sich bisher derartige Gedanken gemacht.

»Ich werde dir zu viel Liebe geben, als daß du jemals Angst haben müßtest«, versprach sie. Dann erst fand sie Ruhe.

Aus der Nacht löste sich langsam der Morgen, doch im Hause Salvestrini lag man noch in tiefem Schlaf, Camilla mit ihrer neugeborenen Tochter im Arm, Faustina auf ihrem Schemel, den Rücken gegen die kalte Wand gelehnt.

Das erste, was Selvaggia erblickte, als sie ihre Augen aufschlug, war das Gesicht des Knaben Tribolo. Er hielt einen Kerzenstummel in der Hand, dessen heißes Wachs ihm auf die Finger tropfte, ohne daß er zusammenzuckte.

Er war wiedergekommen, wie er gesagt hatte, zum zweitenmal schon, und niemand brauchte zu wissen, was ihn zu dieser Stunde vor allen anderen hierhertrieb.

Mit angehaltenem Atem sah er auf Selvaggia herab, deren nachtblauer Blick auf ihn gerichtet war und doch durch ihn hindurchschaute. Er fühlte sich ertappt unter diesem Blick, aber das störte ihn nicht. Schon jetzt wußte er mehr von ihr, als sie je wissen würde, hatte er doch, hinter einem Wandvorhang versteckt, alles aus nächster Nähe mitangesehen, die ganze ekelhafte Prozedur ihrer Befreiung aus dem Mutterleib. Das letzte Geheimnis der Frauen, das ihm noch verborgen gewesen war, jetzt kannte er es: Es marterte ihren Körper bis zum Zerreißen, sie heulten, röchelten, zerbissen sich die Fingerknöchel, verloren mindestens die Hälfte ihres Blutes, und damit nicht genug, stießen sie alles aus sich heraus, was in ihnen war, diverse Flüssigkeiten, schwammiges Gewebe, Exkremente. Diavolo! Die Folter hörte erst auf, wenn ein Stück ihrer Eingeweide, losgelöst von ihnen, ein Eigenleben begann ... Das also hatte es auf sich mit dem Gebären.

Als die Hebamme das gräßliche weiße Geschlinge der Nabelschnur durchtrennte – wobei sie auch noch lauthals behauptete, daraus ablesen zu können, wie viele Kinder eine Wöchnerin in Zukunft bekäme und wie lange sie leben würden –, hatte Tribolo sich, was sonst wahrlich nicht seine Art war, hinter seinem Vorhang dreimal bekreuzigt, aus schierer Dankbarkeit, männlichen Geschlechtes zu sein. Ihm fiel ein, daß er vor wenigen Tagen, bei steigendem Hochwasser auf den Zinnen der Stadtmauer stehend, beobachtet hatte, wie eine mächtige Flutwelle den Ponte Vecchio überrollte und den Inhalt sämtlicher Fleischerläden von der Brücke in den Fluß schwemmte und mit sich riß. Geschlachtete Ferkel und Lämmer, ganze und halbe Tierkadaver, Kalbsköpfe, Blutwurstbrei und Innereien trieben da zuhauf im Wasser wie nach einem Massaker. Seine damalige Empfindung von Ekel und Lust war durchaus ähnlich gewesen wie die als Späher hinter dem Vorhang, wenn auch längst nicht so intensiv.

Das gänzlich Unfaßbare an allem aber war weniger das makabre Spektakel an sich als vielmehr das, was es hervorgebracht hatte: Diese neue kleine Kusine da vor ihm, zum Greifen nah, deren Apartheit Tribolo trotz der Wickeltücher, die er am liebsten eines nach dem anderen entfernt hätte, keineswegs verborgen blieb. Man sah ihr nicht an, in welchem Drama um Sein oder Nichtsein sie die Hauptrolle gespielt hatte, unmöglich, sie damit in Verbindung zu bringen. Sie war nicht geboren, sie war erfunden. Er hatte sie sich erdacht, seine Verwandte. Allein dieses Gesicht mit den allwissenden Augen kam nicht von dieser Welt. Dazu der Duft, der an feierliche Zeremonien in der Kirche erinnerte – oder woran sonst? An etwas Heiliges, Jenseitiges jedenfalls.

Der Engel, dachte Tribolo, unterscheidet sich vom Teufel durch Gedanken, die ihm noch nicht gekommen sind. Für wie lange? Unwichtig! Ob man einen Engel beizeiten auf solche Gedanken bringen könnte – das zu untersuchen würde sich lohnen. Wie sehr konnte man ein Wesen beeinflussen, das einem vertraute? Er würde es herausfinden, er allein. Selvaggia, so wollten ihre Eltern sie wohl nennen, sollte leben, als wäre sie sein Geschöpf, eine ganze wohlbehütete Kindheit lang.

Ohne besondere Absicht bewegte Tribolo die leere Wiege, die neben dem Ehebett stand und in der er zuletzt als Achtjähriger die neugeborene Giovanna bewundern sollte. Damals hatte er weder das Aufheben verstanden, welches um die Geburt einer Tochter gemacht wurde, noch die Begeisterung über ein schreiendes menschenunähnliches Etwas geteilt. Damals war kein Vergleich.

Faustina in ihrer Ecke rührte sich, brabbelte wirre Worte im Schlaf. Sollte sie jetzt aufwachen, würde sie sich in eine Furie verwandeln und ihn zum Teufel jagen. Die Ärmste glaubte felsenfest, daß ein Kind alle möglichen Krankheiten bekäme, wenn jemand seine leere Wiege schaukelte. Schon zu Giovannas Säuglingszeit hatte sie ihn manches Mal deswegen zurechtgewiesen. Doch Faustina wachte nicht auf, und auch Camilla blieb in ihrer Traumwelt gefangen, ohne eine Beunruhigung zu spüren. Er und Selvaggia hatten ihre erste Nacht für sich allein. Was zwischen ihnen entstanden war, ließ sich nicht mehr ungeschehen machen. Tribolo und Selvaggia ... Wie winzig ihre Hände waren! Tribolo reichte ihr seinen Zeigefinger, den sie augenblicklich fest umschloß und nicht wieder losließ. Mit der Fußspitze hielt er die Wiege an. Schaden wollte er Selvaggia nicht, heute nicht und, solange sie mitspielte, auch in Zukunft nicht. Eines allerdings wollte er fast um jeden Preis: Er wollte sich verschwören, wenn nicht mit ihr, dann gegen sie.

Seine Finger gruben sich tief in das weiche Wachs des Kerzenstummels, so ernst war es ihm. Beinah hätte er die Flamme erstickt. Selvaggia aber schloß die Augen wie zum Zeichen der Zustimmung und entzog sich damit den Blicken ihres nächtlichen Betrachters.

Labyrinth der unerhörten Liebe

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