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2. Kapitel Spiralen und Labyrinthe

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In den frühen Jahren blieb Selvaggia selten sich selbst überlassen. Eltern, Verwandte, Dienstboten und sogar die Geschwister, alle wetteiferten um ihre Gunst, ohne die ihnen kein Segen mehr auf dem Hause Salvestrini zu liegen schien.

Die Gesichter, die sich tagnächtlich dem des Kindes zuneigten, verschmolzen zu einer einzigen Grimasse aus Wohlwollen und Erwartung. Mit der Zeit lernte Selvaggia zu unterscheiden: Camilla, die sie auch außerhalb der Stillzeiten an die bloße Brust drückte, damit die Tochter den Herzschlag nicht entbehren mußte, dem sie schon im Mutterleib gelauscht hatte, vom Vater, der ihr mit ruhiger Stimme den Lauf der Dinge erläuterte; die Schwestern, welche ihr die Kunststücke der Haustiere vorführten – Spielzeugwagen, von weißen Mäusen gezogen, eine schwarze Grille, zirpte sie sich zu Tode oder zerfeilte sie die Stäbe ihres Käfigs? –, vom Bruder Tribolo, der vor ihren Augen kleine bleiche Knöchelchen jonglierte und mit dem Handrücken wieder auffing. Faustinas rotes, rundes Gesicht schwebte über dem Badezuber mit duftendem Rosenwasser und über der Wiege, da sang es, und über dem Wickeltisch, da flüsterte es Koseworte, während ihre Fingerspitzen, die sie zuvor in warmes Mandelöl getaucht hatte, einer geheimen Choreographie folgend über den Kinderkörper tanzten.

Alles, was geschah, diente zu Selvaggias Erheiterung. Sie sammelte Lächeln und gab sie gerne zurück, vermochte in einem einzigen Aufleuchten ihres Gesichtes widerzuspiegeln, was sie so vielfältig empfangen hatte. Es war dieses Lächeln, um das alle buhlten. Allein darum ging es. Um diese Augenbrauen, die sich zu zarten Spitzbögen wölbten und doch Stirn und Nase unberührt ließen, vollkommen glatt, um das hüpfende Licht in den sonst so stillen Augen, die geschlossenen Lippen, die, ohne sich merklich zu verziehen, den Mundwinkeln winzige Grübchen zauberten, an jeder Seite eins.

»Wie sie das nur macht!« sagten die Schwestern und übten dieses Lächeln heimlich vor Camillas venezianischem Spiegel, aber es wurde immer nur ein aufgesetztes Grinsen daraus.

»Sie muß es nicht machen«, erklärte Faustina. »Sie ist damit zur Welt gekommen. Einst wird es den Männern den Kopf verdrehen.«

»Das Lächeln einer Sphinx aus dem Land der Ägypter«, nannte Giovanni es stolz.

Das Lächeln einer potentiellen Sünderin, dachte Tribolo. Sie wird es verlieren, wenn man ihr Geheimnis kennt. Sie wird reden lernen und es verlieren. Mochten sich alle etwas vormachen lassen, er wußte es besser und wartete ab.

Durch die stetige Zuwendung der gesamten Familie verlief Selvaggias Entwicklung in Sprüngen. Sie verschwendete keine Zeit damit, zu krabbeln und zu brabbeln wie andere Kinder ihres Alters, sondern lief aufrecht auf zwei Beinen, sobald sie imstande war das Gleichgewicht zu halten. Auch sprach sie von vornherein in ganzen Sätzen, da sie keine anderen kannte. Doch ebenso rasch, wie sie ihre Fähigkeiten erworben hatte, schien sie ihrer überdrüssig zu werden.

Als sie alles sagen konnte, zog sie es vor, tagelang zu schweigen, zumal sie den Verdacht nie loswurde, die Worte, die man ihr sagte, könnten in Wahrheit etwas ganz anderes bedeuten, etwas, das man ihr verheimlichte.

Als sie sich frei bewegen konnte, verkroch sie sich immer häufiger in entlegene Winkel des Hauses, fern von mütterlichen Umarmungen und väterlichen Monologen, unbehelligt von der Menagerie der jüngsten Schwester und den Einfällen Tribolos. Da hockte sie allein oder mit ihrer Lieblingspuppe im Arm mucksmäuschenstill hinter losen Wandbehängen und in staubigen Nischen, ohne sich vom Fleck zu rühren, und vergaß, daß man sie suchte, obwohl sie ihren Namen rufen hörte. Selbst wenn es ihr wichtig gewesen wäre, hätte sie jetzt nicht antworten können. Etwas anderes war wichtiger. Mit fest geschlossenen Lidern wartete sie auf den Augenblick:

Aus rauchblauen Nebelringen entstand die Figur einer Spirale. Sobald die Konturen scharf geworden waren, trat sie selbst, Selvaggia, in das Bild. Sie folgte den Linien von außen nach innen und in die Tiefe. Mit angehaltenem Atem sah sie sich immer kleiner werden, bis sie schließlich ganz verschwand. Es gab sie nicht mehr. Nichts gab es mehr. Nur Stille. Doch bevor sie herausfinden konnte, was sie dabei fühlte, verkehrte sich der Vorgang in sein Gegenteil. Selvaggia tauchte wieder auf, wuchs, wurde riesig, wurde, dachte sie, was ihr Vater wohl unter dem Universum verstand, war das All, und alles war in ihr. Jetzt wußte sie auch, was sie fühlte, aber einen Namen dafür fand sie nicht, auch später nicht, als sie alle Wörter ihrer Sprache nach einem Vorschlag befragte. Und obgleich es ihr nicht immer gelang, sich einzuspiralen, konnte sie sich doch jederzeit an das damit verbundene Gefühl erinnern.

Das Haus der Salvestrini war mit seinen drei Stockwerken und den Vorratskammern im Keller und Erdgeschoß so geräumig, daß Selvaggia ein Versteck, welches schon entdeckt worden war, kein zweites Mal zu wählen brauchte. Und als niemand mehr verhindern konnte, daß sie sich auch ohne Faustina oder die Schwestern aus dem Kinderzimmer stahl, um die vielen hohen Treppenstufen zum Innenhof hinunter- und wieder hinaufzusteigen, wurden ihre Möglichkeiten schier unerschöpflich. Von den allerersten Ausflügen holte Camilla sie zurück, ebenso enttäuscht wie fasziniert vom vorzeitigen Freiheitsdrang dieser jüngsten Tochter, die ihr näherstand als alle anderen.

In ihrer Verwirrung begann sie, sich Vorwürfe zu machen, bei aller Fürsorge etwas Wesentliches versäumt zu haben und nicht einmal zu ahnen, was dies sein könnte. Sie beschloß, Selvaggia beizeiten in die Häuser der armen Leute und Findelkinder mitzunehmen, die sie regelmäßig besuchte, seit das unbestechliche Spiegelbild ihr nahegelegt hatte, durch Mildtätigkeit ihre Seele zu retten, wenn schon ihr Leib zusehends an Schönheit und damit an Zukunft verlor. Ein Besuch bei den Armen würde auch Selvaggias Seele guttun, was immer sie entbehrte. Zuvor aber würde Camilla im eigenen Haus, dessen Sicherheit ihr auf einmal trügerisch erschien, Vorkehrungen treffen.

Bilder von zugeschlagenen Truhendeckeln, von unabgedeckten Brunnenschächten und im Keller herumliegenden Hackbeilen jagten ihr durch den Kopf. Auch blieben die drei Tore zur Straße allzu selten geschlossen. Pferde, die draußen an den Ringen angebunden waren, sah man gelegentlich um die Pfosten lugen – welches kleine Mädchen würde da nicht streicheln wollen –, und von der Türschwelle aus war es nur noch ein Schritt in das Labyrinth der Gassen und dann geradewegs in die Fluten des Arno.

Und erst Giovannis Besucher! Händler, Straßenverkäufer, Zunftbrüder! Bevölkerten sie nicht stundenlang den Innenhof, warfen ein Auge auf die süße Tochter der Salvestrini, wollten mit ihr spielen, sie herzen und verderben? Von Wahnideen verfolgt, hastete Camilla bis zur Erschöpfung durch ihr Haus, viele Male am Tag, immer neue Gefahren abzuwenden. Allein vom Feuer, dessen war sie sicher, mußte sie ihre Tochter nicht fernhalten. Obwohl Selvaggia die Wärme liebte, machte sie von klein auf einen Bogen um alles, was flackerte, glühte oder brannte. Nein, mit dem Feuer würde sie niemals spielen.

Faustina führte das auf eine natürliche Verbindung des Kindes zu seinen inneren Stimmen zurück und betete, daß diese niemals abreißen möge. Wenn sie es war, die Selvaggia in einem ihrer spinnwebenreichen Schlupfwinkel fand, folgte ein Reinigungsritual, das einer Dämonenaustreibung glich und das Giovanni auf der Stelle verbot, nachdem er es einmal unbemerkt hatte mitansehen können. Von jeher hatte er Faustinas Liebe zur Magie mißbilligt, doch was sich da vor seinen Augen abspielte, hätte er selbst von ihr nicht erwartet. Faustina ließ sich vom Diener Ciacco eine nagelneue Badewanne bringen und mit frischem Arnowasser füllen. Dies vermischte sie unter Sprüchen und Gebeten mit Weihwasser, geweihtem Wachs, geweihter Asche, Salz und Palmzweigen von der letzten Karwoche, darüber streute sie neunerlei Kräuter. An drei Stellen des Zubers, oben, in der Mitte und unten, klebte sie Lichtmeßkerzen und zündete sie an, bevor das Kind, zitternd vor Kälte oder Schreck, in den unappetitlichen Sud getaucht wurde, wobei Faustina wiederum laut alle guten Geister des Wassers, der Erde und der Luft beschwor. Und das alles wegen eines harmlosen Kinderversteckes, weit entfernt von Altweibergespenstern. Wie konnte Camilla das zulassen!

»Ich verbiete den Hokuspokus in meinem Haus!« herrschte Giovanni Faustina an. »Oder willst du eines Tages verbrannt werden wie in deiner Jugend die Hexen zu Rom? Denunzianten gibt es überall!« Außer sich vor Zorn über soviel Dummheit riß er seine Tochter an sich, die ihm die Rettung mit einem Lächeln vergalt.

Von nun an würde Selvaggia die Orte ihrer Verwandlung freiwillig verlassen, sobald sie Faustinas großen Schlüsselbund von weitem rasseln hörte. Dabei hätte die alte Kinderfrau es ohnehin nicht mehr gewagt, Ritualbäder anzuordnen. Sie begnügte sich damit, Selvaggia nach dem Versteckspiel die Spinnweben zu entfernen, die Haare kräftig zu bürsten und sie mit einer Aura von Locken und Bändern zu umgeben. Aber auch diese Prozedur wurde mit der Zeit recht lästig. Am liebsten ließ Selvaggia sich von ihrem Vater aufspüren, und obwohl sie genau wußte, wie sie das anzustellen hatte, kam es nicht eben oft dazu, denn Giovanni Salvestrini war ein vielbeschäftigter Mann und selten zu Hause. Umso dringlicher erschien es seiner Tochter, ein Gespür für Gelegenheiten zu entwickeln, was bedeutete, den Vorkehrungen im Haus, dem Gemurmel der Dienstboten und nicht zuletzt Camillas Miene zu entnehmen, wann Giovanni von einer seiner Einkaufsreisen in die Levante oder von Messen in der französischen Champagne zurückerwartet wurde. Fast immer gelang es ihr, sich kurz vor seiner Ankunft in die Kellerräume zu stehlen und zwischen Stoffballen, Ölfässern und huschenden Mäusen einzuspiralen, bis sie ihres Vaters Schritte vernahm und seine Stimme laut die Vorräte zählen hörte. Schon sah sie die Kerzen seines siebenarmigen Tonleuchters hinter den geschlossenen Augenlidern flackern.

An anderen Tagen ließ er lange auf sich warten, viel länger, als Selvaggias Visionen andauerten. Dann gab es nur noch einen Zeitvertreib: das Erschnuppern der verschiedenen Kellergerüche, und wenn auch das nicht ausreichte, eine Nasenreise durch das ganze Haus, ohne sich von der Stelle zu rühren. An seinem Geruch nämlich hätte Selvaggia jeden einzelnen Raum erkannt, selbst mit verbundenen Augen. Im ersten Stockwerk gab es den großen Saal, der die volle Breite des Hauses einnahm und nur zu Familienfeiern oder Festen benutzt wurde. Durch seine ständig geschlossenen Glasfenster roch er nach nichts als gefangenem Sonnenschein. In der mittleren Etage wetteiferten die Düfte von Giovannas Käfigtieren mit Camillas geweihten Honigkerzen, die zu jeder Tageszeit einem anderen Anliegen geopfert wurden. Ganz oben im Küchengeschoß schließlich vereinigten sich die Dünste des Essens mit denen der Wäsche und der Putzlaugen zu einer vielschichtigen Wolke, die durch ein kleines offenes Fenster zur Seitenstraße hinausgelassen wurde. Die Kellergerüche nach Sägemehl, Weinpfützen, Olivenöl dagegen verflüchtigten sich nicht so leicht. Sie blieben dem gestampften Lehmfußboden nahe und änderten sich nur in Nuancen. Selvaggia mochte ihre Beständigkeit, die selbst der tiefsten Dunkelheit etwas Vertrautes gab. Sie wartete und lauschte, und mit ihr hielt die Welt den Atem an. Giovanni, wenn er sie dort unten fand, würde sie sogleich auf die hölzerne Rutsche für Warenballen setzen, die von einer vergitterten Fensterluke hoch oben in der Kellerwand hinunter zum Fußboden führte. Er würde seine Tochter abwärts sausen lassen und wieder in die Höhe heben, bis sie an seiner Hand zu fliegen schien.

»Bewegung vertreibt die Grillen«, verkündete er zum Schluß jedesmal, selbst ganz außer Atem, und setzte voraus, daß Selvaggia seinen nun unvermeidlichen Bemerkungen über die »vita activa der Kaufleute und Staatsmänner im Vergleich zur vita contemplativa der Gelehrten und Asketen« folgen konnte, während sie sich lachend und schnaufend von ihrer Berg- und Talfahrt erholte.

»Weiter!« bat sie, wenn er zu Ende gesprochen hatte, und Giovanni wußte, es waren nicht seine Worte, die sie meinte. Dennoch erfüllte er mit Vergnügen ihren Wunsch, wenn seine Zeit es ihm erlaubte. Selvaggia wollte, erhitzt wie sie war, ohne Camilla oder Faustina um einen Umhang zu bitten oder um Erlaubnis zu fragen, mit ihm auf seinem Apfelschimmel durch die Straßen der Stadt reiten, durch seine Straßen auf der anderen Seite des Arno, nicht aber durch die der Wollkrempler und Dienstboten im Nachbarviertel San Frediano, das sie dank Faustinas regelmäßiger Familienbesuche schon zur Genüge kennenlernte. Grau wie die Gesichter der Menschen waren Gassen und Gebäude in der Arbeitergegend, düster und verkommen. Beim ersten Ritt mit ihrem Vater dagegen war ihr Florenz in leuchtendem Licht erschienen, rot wie Giovannis Mantel, den er an diesem Tag als neuernannter Konsul der Seidengilde zum ersten mal trug.

Auch Selvaggia, die, an ihren Vater gelehnt, vor ihm auf dem Schimmel saß, war ganz in dieses Rot gehüllt. Sie ritten die lange Via Maggiore hinunter, die über den Ponte Trinità zum Stadtkern führte. Nach rechts und links Bekannte aus der Nachbarschaft grüßend, zeigte Giovanni seiner Tochter die noch nicht fertig gebauten Paläste, denen zum Teil bloß das Dach fehlte, während bei anderen gerade erst die Fundamente gelegt waren. Die Baustellen grenzten an eine kleine, unscheinbare Tuchfabrik am Ende der Straße. Sie gehörte dem Kartäuserkloster und sah aus wie eine Kirche.

Unten in ihrem Kellerversteck hatte Selvaggia ganz vergessen, daß es hellichter Tag war und die Harzfackeln an den Brückenaufgängen und die kleinen Lichter an den Straßenkreuzungen noch lange nicht angezündet würden. Tribolo hatte ihr davon erzählt, und sie hätte sie zu gerne alle auf einmal leuchten sehen. Sie hob einen Zipfel des roten Mantels vor ihre Augen, um hindurchzuschauen, aber der Stoff war zu dicht gewebt und tauchte alles in dasselbe Licht, statt es nur an bestimmten Stellen zu entzünden.

Über dem mittleren Brückenbogen zügelte Giovanni sein Pferd und ließ es stillstehen, obwohl er damit den Strom der Geschäftigen aufhielt, die sich mit ihren hochbeladenen Körben und Kippkarren mühsam an ihnen vorbeiquetschen mußten und nun ihrerseits den Gegenverkehr störten. Giovanni hatte angehalten, um einen wurmstichigen Apfel aus seiner Satteltasche in hohem Bogen in den Arno zu werfen. »Das Wasser«, erklärte er dabei der Tochter, »das Wasser nimmt sich seine Farbe vom Himmel.«

Neugierig lugte Selvaggia aus den roten Falten, verglich oben und unten. Es war Frühsommer, und der Arno schimmerte zartgrün wie der Himmel, von dem es doch immer hieß, er sei blau.

»Siehst du die Kreise im Wasser, die durch den versunkenen Apfel entstanden sind?«

Selvaggia nickte.

»Nun, ebenso scheint sich der Ton der Musik und überhaupt jeder Ton in der Luft fortzupflanzen. Es ist dasselbe Prinzip, verstehst du, und ich frage mich, ob es außer mir wohl schon jemand entdeckt hat.«

Selvaggia mußte lachen, weil ihr Vater seine Worte immer so ernst nahm. Das Prinzip, von dem er gesprochen hatte, verstand sie nicht, aber es gefiel ihr, und die Wellen des apfelgrünen Arno und jede Musik, die sie hörte, würden für sie auf immer miteinander verbunden sein.

Giovannis Schimmel schnaubte unwillig. Die Hörner eines Ochsenpaares, welches über die Brücke zum Markt getrieben wurde, kamen seinem Hinterteil näher, als ihm lieb sein konnte, und auch die Grobheiten, die der Bauer ihnen zuschrie, waren nichts für empfindliche Ohren. Selvaggia wandte sich um, ihrem Vater ins Gesicht zu sehen.

Würde er sich auf einen Wortwechsel einlassen? Giovanni schüttelte nachsichtig den Kopf. »Auf dem Lande lebt man nach anderen Regeln«, sagte er und beeilte sich, dem ungeduldigen Viehhändler den Weg zum Mercato Nuovo frei zu machen, wo allerdings keine Ochsen verkauft wurden, es sei denn welche aus Gold bei den Juwelieren oder kunstvoll auf Stoffe gestickte bei den Seidenhändlern.

Auch Salvestrini hatte vor vielen Jahren hier angefangen. Er zeigte seiner Tochter den kleinen Laden an der Via Porta Rossa, aus dem ein Angestellter mit einem Federkiel hinter dem Ohr gerade einen Ballen Goldbrokat zu einer prächtigen Kutsche mit vier Pferden trug.

»Und wo war ich, als du diesen Laden hattest?« fragte Selvaggia.

Giovanni lächelte zufrieden. Während andere Kinder ihre Eltern mit »messer padre« und »madonna madre« anredeten, vor ihnen niederknien und ihnen die Hand küssen mußten, nicht aber ungestraft reden durften, war er Lorenzos fortschrittlichem Beispiel gefolgt und hatte seinen Kindern erlaubt, ihn und Camilla zu duzen, und wenn sie wollten, sogar beim Vornamen zu nennen.

»Du warst noch nicht da, mein Engel.« Er legte seine Hand auf ihren Scheitel, als müsse er sich vergewissern, daß die Zeit ohne sie auch wirklich der Vergangenheit angehörte.

»Und wo war ich, bevor ich da war?« fragte sie noch einmal und dachte an ihre Spirale. »Ach, ich weiß schon«, sagte sie, ehe Giovanni antworten konnte, »im Universum.«

Ob es nun paßte oder nicht, ihr Vater liebte dieses Wort zweifellos. Diesmal schien es zu passen. Giovanni murmelte etwas Anerkennendes und zog seine Tochter noch enger an sich. Wahrhaftig, diese kleine Person besaß, wenn man es nicht schon Intellekt nennen wollte, zumindest Intuition, gepaart mit einem ausgezeichneten Gedächtnis. Ihre Talente zu fördern, würde er sich nicht nehmen lassen.

Selvaggia seufzte zufrieden. So hoch zu Roß, im Schutze des Purpurs, fühlte sie sich wie eine Göttin: alles überblickend, ohne selbst bemerkt zu werden. Um nichts auf der Welt hätte sie mit einem der Fußgänger unten auf der schmalen Straße tauschen mögen, zumal das Gewimmel der Menschen und Lasttiere noch zunahm, je näher sie dem alten Markt kamen. Besonders eng wurde es jenseits der Piazza Trinità, einem kleinen Platz hinter der Brücke. Dort hatte man einen ganzen Häuserblock abgerissen, weil, so Giovanni, eine der mächtigsten Familien der Stadt sich einen neuen Palast errichten wollte. Immer wieder mußten sie Steinbergen und Erdhaufen ausweichen und noch dazu einer gaffenden Menschenmenge, die, an einen Bretterzaun gedrängt, den Fortgang der Arbeiten begutachtete. Der Mercato Antiquo selbst, und vor allem die langgestreckte Loggia mit ihren Verkaufsständen in der Mitte des Platzes, war das weltliche Zentrum der Stadt, ihr übervoller Bauch.

Selvaggia wußte kaum, was sie zuerst betrachten sollte, die Körbe der Marktfrauen, die ihre blankgeputzten Früchte und kunterbunten Gemüse zu kleinen Kunstwerken arrangiert hatten, oder die Tische der Fischverkäufer mit ihren feuchtglänzenden Meerestieren.

Mitunter fiel der Blick auch auf gerupftes Geflügel mit durchschnittenen Gurgeln und, schlimmer noch, auf gehäutete Kaninchen, so viel Vorwurf in den gebrochenen Augen, daß Selvaggia sie am liebsten mit den getrockneten Rosenblättern der Gewürzhändler bestreut hätte, damit sie nicht so nackt und blutig daliegen mußten. Von Mitgefühl überwältigt, beschloß sie, nie im Leben Kaninchenbraten oder ähnliches zu essen.

Giovanni kaufte hier ein Dutzend grünvioletter Artischocken und dort zwei Bündel Wachteln, dazu frische Lampreten, die man ihm in einem Spankörbchen hinaufreichte, und warf auch noch einer zerlumpten Bettlerin zwei quattrini – oder waren es nur piccoli? – zu, bevor sie ihren Weg fortsetzten.

Sie kamen jetzt in den ältesten Teil der Stadt. Dunkel waren hier die Gassen, übelriechend vom Abfall der vielen Menschen, die seit Jahrhunderten hier lebten. Ihre einstöckigen Häuser versteckten sich hinter massigen Türmen, und auch darin schienen ganz viele Wohnungen zu sein, denn vor jeder hing Wäsche zum Trocknen über dem Fenstergitter.

»Wo man heute nur noch verstümmelte Stümpfe sieht, standen einst die Adelstürme«, sagte Giovanni. »Früher waren sie so hoch wie ein Campanile, später durfte keiner mehr höher als dreißig Meter sein, ob er nun Flohturm, Schlangenturm oder Löwenturm hieß, das Volk wollte Gleichheit.« Und er erzählte seiner Tochter ausführlich, auf welche Weise die Florentiner vor zweihundert Jahren den Abriß der oberen Stockwerke erzwungen hatten. »Und aus den übriggebliebenen Steinen wurde die Stadtmauer am Arno gebaut«, schloß er.

Wenn Selvaggia sich aufrichtete, konnte sie mit den Fingerspitzen die flachen Steinbögen berühren, die sich von einer Seite der Gasse zur anderen spannten, um die weniger standhaften Gebäude zu stützen und obendrein weitere winzige Behausungen auf dem Buckel zu tragen. Selvaggia erschauerte unter diesen niedrigen Bögen. Sie waren so dicht hintereinander gesetzt, daß sie einen finsteren Tunnel bildeten, der wohl niemals einen Sonnenstrahl hindurchließ. Sie verbarg ihr Gesicht im Rot des Mantels und tauchte erst wieder auf, als sie die Stimme ihres Vaters die Schönheit des »flötenzarten Campanile« rühmen hörte. Und richtig, jetzt sah sie ihn auch, den schlanken Glockenturm, gleich neben dem Dom mit seiner Riesenkuppel, die sich wie ein runder, roter Berg in den Himmel schob, und dem achteckigen Tempel, Taufkirche der kleinen Kinder.

»Bin ich auch da getauft worden?« fragte Selvaggia.

»Und ob. Am 20. Mai vor fünf Jahren«, antwortete Giovanni und schmunzelte beim Gedanken an die Aufregungen, welche die überstürzte Taufe kurz vor der monatelangen Exkommunikation der Stadt mit sich gebracht hatte. »Und nun?« fragte er. »Zum Krapfenverkäufer vor San Lorenzo oder zum Geschichtenerzähler? Zur Feier des Tages soll Donna Selvaggia die Schritte von Roß und Reiter lenken.«

»Zum Geschichtenerzähler!« wünschte Selvaggia, weil sie, wie so oft, keinen Appetit hatte, auf süße, klebrige Krapfen schon gar nicht.

Giovanni nickte. Warum nicht. Seine Tochter konnte bereits mühelos jeder Geschichte von Anfang bis Ende folgen, und der beste Erzähler der ganzen Stadt würde genau zu dieser Stunde auf der Piazza della Signoria hofhalten.

Mit seinem altmodischen immergrünen Turban war er schon von weitem zu erkennen. Er stand etwas erhöht auf einem Holzpodest zwischen Palazzo und Loggia dei Lanzi und hatte auch diesmal wieder seine Zuhörer gefunden, Fußgänger die meisten, aber auch Reiter, die nur mal eben ihre Pferde verschnaufen ließen, unschlüssig noch, ob es sich lohnte, länger stehenzubleiben.

Giovanni schätzte die in der Regel erbaulichen Geschichten dieses Erzählers vor allem darum, weil er sie der feierlichen Kulisse des Regierungsgebäudes angemessen fand. Die allseits beliebten Zoten und Possen, fand er, gehörten hier nicht hin. Heute nun sollte das Publikum mit einer »wahren Begebenheit aus dem Leben des seligen Malers Fra Filippo« unterhalten werden.

Einige tuschelten und lachten, jeder wußte, warum, und wer es nicht wußte, wurde belehrt, daß Filippo doch jener Klosterbruder gewesen war, der seinerzeit die Nonne Lucrezia entführt hatte. Die älteren Leute erinnerten sich noch gut an den Skandal. Und nun, bitte schön, durfte man diesen sündigen Menschen, keine zwanzig Jahre nach seinem Tod, schon wieder zu den Seligen zählen? Na bravo! Er starb nicht einmal eines natürlichen Todes, versehen mit den heiligen Sakramenten, sondern sollte von den Verwandten seiner Geliebten vergiftet worden sein. Wegen seiner allzu großen Neigung zu weiteren Liebesabenteuern, sagte man. Abenteuer hin oder her, dachte Giovanni, alle Madonnen, welche Filippo jemals gemalt hatte, besaßen die schwarzen Augen Lucrezias ...

»Warum lachen die Leute?« fragte Selvaggia, aber ihr Vater schüttelte den Kopf und legte seinen Finger auf den Mund. Sie würde den Anfang der Geschichte verpassen, wenn sie jetzt Fragen stellte.

»Fra Filippo hielt sich in Ancona auf«, begann soeben der alte Mann mit dem Turban – wobei er verschwieg, daß Filippo erst siebzehn war und sich »in Ancona aufhielt«, weil er ein junges Mädchen entführt hatte, damals schon –, »und als er eines Tages mit Freunden in einem kleinen Boot aufs Meer hinausfuhr, wurde er von den Schiffen des Abdul Maumen gekapert, einem großen Korsar aus dem Berberland, und mitsamt seinen Gefährten gefangengenommen. Alle wurden zu Sklaven gemacht, in Ketten geworfen und in die Barbarei verschleppt, wo sie etwa anderthalb Jahre im Elend zubrachten. In dieser Zeit mußte nun auch der Maler statt seines Pinsels wider Willen das Ruder schwingen. Als er endlich wieder einmal an Land weilte, weil der Wind gerade nicht günstig stand, trug man ihm auf, einen Garten zu hacken und zu bestellen. Filippo kannte seinen Herrn Abdul Maumen inzwischen recht gut, und bald kam ihn die Lust an, diesen in seiner maurischen Kleidung so naturgetreu mit Kohle auf eine Mauer zu zeichnen, daß es aussah, als ob er lebte. Das Werk erschien allen wie ein Wunder, denn in jenen Gegenden ist die Abbildung von Menschen nicht üblich. Sprachlos vor Bewunderung befreite der Korsar den Maler – und später auch seine Gefährten – von den Ketten, um ihn fortan wie einen Freund zu behandeln. Der dankbare Filippo aber schuf nun etliche wunderschöne Gemälde in den herrlichsten Farben und widmete sie seinem Herrn, der ihm aus Verehrung für seine Kunst viele Geschenke und silberne Gefäße gab und ihn mit seinen Gefährten samt ihrer Habe heil und frei übers Meer nach Neapel reisen ließ.«

In den Applaus und auch einige Buhrufe hinein begann der Geschichtenerzähler ein paar Takte auf seiner Viola zu spielen, bis die Gemüter sich wieder beruhigt hatten. Dann erst sprach er seinen Schlußsatz:

»Gewiß war dies ein ruhmreicher Sieg für die Kunst, daß ein Berber, unser natürlicher Feind, sich dazu bewogen sah, jene auszuzeichnen, die er für immer als Sklaven hätte halten können.«

»Weiß Gott!« bestätigte Giovanni aus tiefster Seele und ermunterte sein Pferd, sich wieder in Bewegung zu setzen.

Selvaggia sprach kein Wort. »Hat es dir nicht gefallen?« fragte er, als sie schon fast in Santa Croce waren. Er mußte die Frage wiederholen, denn seine Tochter war ganz in den Anblick eines schon etwas heruntergekommenen Palastes vertieft, aus dessen Steinspalten bemerkenswert viele Fackelhalter und Fahnenstangen regelrecht hervorquollen.

»Es sieht aus«, sagte sie plötzlich, »als wäre der ganze Palast so voll von diesem Eisenzeug, daß es drinnen keinen Platz mehr hat und sich mit Gewalt nach außen bohren muß.«

Giovanni lachte. Jetzt, da sie es sagte, kam es ihm auch so vor, zum erstenmal in seinem Leben, und er wunderte sich, es nie so gesehen zu haben. »Und die Geschichte?« »Ach ja«, entsann sie sich. »Was ich komisch finde: Wie kann man

denn jemanden so malen, daß er richtig lebendig erscheint?«

»Das vermag nur ein großer Künstler«, antwortete Giovanni und erzählte nun ebenfalls eine Geschichte, nämlich die des achtjährigen Knaben Filippo, der nach dem Tod seiner Eltern zu den Karmelitermönchen gegeben wurde und, statt seinen Geist anzustrengen und die Wissenschaften zu studieren, dort lieber unermüdlich Fratzen und Figuren auf seine und anderer Bücher zeichnete.

»Als der Prior des Klosters das sah, beschloß er, den Knaben das Malen richtig lernen zu lassen, wenn schon seine Neigung so groß war. Nun hatte zu jener Zeit gerade der Meister Masaccio, ein ganz hervorragender Künstler, die Klosterkapelle neu ausgemalt, und diese gefiel, weil sie so schön war, dem Filippo sehr wohl, und er hielt sich den ganzen Tag über mit seinen Kameraden darin auf, um zu zeichnen. Dabei übertraf er alle anderen an Schnelligkeit und Können in auffallendem Maße. Jeder, der ihn kannte, war sicher, er werde später einmal ein bedeutender Maler werden. Aber was heißt ›später‹? In Wahrheit hatte die Zukunft längst begonnen, denn unser Filippo machte schon in jungen Jahren solche Fortschritte, daß es ein wahres Wunder war. Tag für Tag studierte er die Malweise Masaccios, bis seine Arbeiten denen des Meisters immer ähnlicher wurden. Viele sagten, der Geist des großen Masaccio sei auf den Knaben Filippo übergegangen. Verstehst du?«

»Ja.« Nein, das mit dem Geist konnte Selvaggia sich doch nicht so ganz erklären. Sie würde den Satz für Faustina aufheben, die hatte ja Kontakt zu Geistern und wußte sicher, wie es geschehen konnte, daß einer von ihnen auf jemand anders »überging«. Denn etwas so gut zu können wie dieser Wunderknabe Filippo und damit alle Welt in Erstaunen zu setzen, das mußte schon ein ganz besonderes Gefühl sein. Ein Gefühl, das jede Mühe lohnte.

Ob da, wo sie jetzt waren, auch Maler wohnten? Auf der ungepflasterten Straße, die sie entlangritten, standen lauter bunte Pfützen, und Männer, deren Hände blau und gelb und grün glänzten, liefen zwischen großen Bottichen umher, daraus farbige Abwasserbäche in den Morast zu ihren Füßen rieselten. Er habe sich noch ein wenig Zeit für einen Umweg durch das Färberviertel genommen, erklärte auch schon Giovanni. Dort nämlich lebten all die Männer, denen die Stoffe ihre schönen Farben verdankten. Auch das Purpur seines neuen Mantels und das Himmelblau ihres Kleides seien gewiß hier entstanden.

Außer den Färbern tauchten hin und wieder Stoffballen schleppende Männer auf, mit nackten Armen und seltsamen kegelförmigen Hauben auf dem Kopf. Die gehörten zur Calimala, erfuhr Selvaggia, der Zunft der Großhändler; sie suchten sich hier an Ort und Stelle ihre Waren aus. Calimala war ein schönes Wort, dachte Selvaggia, und diese Färber mußten doch eigentlich ganz wichtige Leute sein, viel wichtiger als die Tuchmacher, denn was nützte der schönste Stoff, wenn ihm die Farbe fehlte. Trotzdem sahen sie und ihr Wohnviertel mehr als armselig aus. Die Straßen waren in ganz schlechtem Zustand, voller Löcher und ohne jede Beleuchtung für die Nacht. Ausgemergelte Hunde und magere Schweine mit bunt verschmierten Schnauzen schnüffelten in der Gosse nach Küchenabfällen, kleine Kinder streckten ihre aufgeblähten nackten Bäuche zu den Hauseingängen hinaus. Aber eintönig grau wie drüben in San Frediano war die Armut hier nicht. Man brauchte sich keinen roten Mantelzipfel vor die Augen zu halten, um der Welt eine Farbe zu geben.

Gerade wollte Giovanni auf das Jahrhunderthochwasser bei Selvaggias Geburt zu sprechen kommen, welches hier in Santa Croce besonders großen Schaden angerichtet hatte, da scheute auf einmal sein Schimmel vor zwei ineinander verknäulten Burschen, die sich prügelnd auf dem Boden wälzten und selbst durch noch so laute Zurufe nicht zu trennen waren. Als der eine das Gesicht des anderen in frischen Pferdemist drückte, der noch dampfte, und ihm johlend seinen Fuß auf den Nacken setzte, war Giovannis Geduld zu Ende. Er griff zur Peitsche und schwang sie so geschickt, daß sie mit einem scharfen Knall die Luft zerschnitt, ohne den Burschen jedoch ein Haar zu krümmen. Selvaggia, im Schutze des Mantels, fuhr ebenso zusammen wie die beiden Gassenjungen, die jetzt endlich voneinander abließen. Sie krochen zur Seite und begannen, ohne ein Wort ihre Kleidung – welche man kaum so nennen konnte, denn sie bestand nur aus geflickten Lumpen – von der obersten Schmutzschicht aus Straßenschlamm und Tierkot zu säubern. Dabei schienen sie den Zweikampf in Gedanken fortzusetzen. Man sah es ihren Gesichtern an, voll entfesselter Wut das eine, besudelt von Tränen der Ohnmacht, die sich mit Dreck und frischem Nasenblut mischten, das andere. Nach einer Weile spürten sie den Blick des Mädchens, das sie vom Pferderücken aus beobachtete, auf ihrer Haut und erwiderten ihn gleichzeitig, wie auf ein geheimes Zeichen hin. Selvaggia hatte noch nie im Leben in solche Gesichter gesehen. Blanker Haß und etwas anderes, Fremdes, das sie noch nicht benennen konnte, flackerte in den Augen des Peinigers, brennende Schmach in denen seines Opfers. Sie zuckte zurück, als hätte sie einen Blick in eine Welt getan, die nicht für sie bestimmt war, wie die der Erwachsenen, wo zuweilen Dinge geschahen, um die sie schon wußte, ohne sie zu kennen.

»Habt ihr denn nichts Besseres zu tun, als euch im Schmutz zu suhlen wie die Schweine?« brüllte Giovanni sie an. Die Antwort freilich schenkte er den beiden; er mußte immer noch sein Pferd beruhigen, damit es seinen Weg durch die Via dei Tintori fortsetzen mochte. Auch das Kind vor ihm im Sattel zitterte, obwohl sich den ganzen Tag noch keine Wolke vor die wärmende Sonne geschoben hatte. Er mußte achtgeben, daß die vielen Eindrücke es nicht überforderten. Dennoch bereute er den Besuch im Färberviertel keineswegs. Gewalt, sogar unter Kindern, gehörte ebenso zum Leben in dieser Stadt wie Auswüchse der Frömmigkeit. Oder wie sollte man das nennen, was sich nur ein paar Schritte weiter in den Klostertürmen auf den Pfeilern des Ponte Rubaconte abspielte? Nicht ohne Grund hatte er diese Brücke für den Heimweg gewählt. »Weißt du auch, wer darin wohnt?«

Giovanni drehte den Kopf seiner Tochter in die Richtung der Türme, damit sie die Färbergassenkinder vergaß und aufhörte, sich nach ihnen den Hals zu verrenken. »Es sind Nonnen«, fuhr er fort, »die der Welt für immer entsagt haben. Man nennt sie ›die Eingemauerten^ weil sie freiwillig hinter Gittern leben, einige sogar in Ketten.«

»Und Caterina? Ist sie etwa auch eingemauert?« Selvaggia konnte nur flüstern, so sehr entsetzte sie der Gedanke, ihre lachlustige Schwester Caterina, die vor gar nicht langer Zeit von heute auf morgen aus dem Kinderzimmer verschwunden war, um Nonne zu werden, könnte ihr Leben als Gefangene in Ketten verbringen und tagein, tagaus nichts weiter hören und sehen als die Wellen des Arno.

»Bewahre!« Ihr Vater hob abwehrend die Hände. Kinder hatten zuweilen Vorstellungen! »Caterina ist in Santa Appolinaria, in der Via San Gallo.«

»Können wir sie da besuchen?«

»Ach, weißt du ...« Er warf einen Blick zum Himmel. Nein, es würde schon bald zur Vesper läuten. »Heute ist es zu spät, vielleicht beim nächsten Mal. Das Kloster liegt weit hinter Lorenzo, am anderen Ende der Stadt. Und Mädchen, die noch nicht lange dort sind, sollen keinen Besuch empfangen. Aber sei unbesorgt, Caterina wird sich wohl fühlen; es ist ein Haus für Töchter aus guter Familie.« Warum seufzte er dann? Hielt zwischen zweitem und drittem Pfeiler sein Pferd an und starrte in die Fluten, ohne zu sagen, woran er dachte. Daß seine Tochter Caterina sich geopfert hatte, letzten Endes doch. Ihm zuliebe war sie ins Kloster gegangen, damit er sich im Jahr nach Tobias Hochzeit nicht erneut in Unkosten stürzen mußte. Caterina hatte es schon immer allen recht machen wollen, ihrer Mutter, indem sie sich von der religiösen Schwärmerei anstecken ließ, ihrem Vater, dem sie die Mitgift ersparte. Nur Lucca nicht, ihrem blutjungen Verehrer. Als auch er keine Hoffnung mehr sah, Caterina umzustimmen, wurde er Barfüßermönch, der kleine Narr. Opfer lohnten sich nicht. Zu guter Letzt hatte Giovanni doch an die hundert Florin gezahlt, damit Caterina wenigstens Nonne in einem angesehenen Kloster werden konnte, welches der Familie Medici gehörte und für gewöhnlich nur Töchter aus besten Kreisen aufnahm. Zum Glück hatten auch die Salvestrini ihre Verbindungen. Opfer lohnten sich nie.

»Ich mag diese Brücke nicht«, unterbrach Selvaggia seine wenig erheiternden Betrachtungen. »Die da drüben sieht viel hübscher aus!« Sie zeigte auf den Ponte Vecchio keine halbe Meile weiter stromaufwärts, den sie auf dem Heimweg schon von der anderen Seite aus bewundert hatte. Kleinen Vogelkäfigen gleich klebten die Verkaufsbuden der Fleischer an der Brüstung.

»Hübscher schon, aber dort drüben riecht es entschieden schlechter«, befand Giovanni. »Ich habe mich heute morgen noch im Rat der Stadt dafür eingesetzt, daß die Fleischer zugunsten der Goldschmiede vom Ponte Vecchio verschwinden. Wo wären ihre Schmuckläden besser aufgehoben als auf diesem Schmuckstück von Brücke!«

Selvaggia zweifelte keinen Augenblick daran, daß der Rat der Stadt Giovanni Salvestrinis Vorschlag folgen würde. Nicht nur zu Hause, auch dort galt er als wichtiger Mann, die Mama sagte es und Faustina und überhaupt alle. Nur Tribolo war wohl anderer Meinung. Erst neulich beim Abendessen hatte es wieder Streit mit ihm gegeben. Um Politik – das war jetzt ein ganz neues Wort bei ihnen am Familientisch.

Jeden mittleren Kaufmann, der etwas mehr als eine kleine Bottega besäße, ziehe es neuerdings in die Politik, hatte Tribolo behauptet, sie erinnerte sich noch genau. Dabei gäben die meisten nur vor, anderen Menschen nützen zu wollen, während sie in Wirklichkeit ihren Geschäften nachgingen wie eh und je.

Giovanni hatte sein Glas Rotwein, aus dem er gerade trank, so heftig auf den Tisch gesetzt, daß es überschwappte und der Wein ihm wie aus einer blutenden Wunde über die Hand rann.

»Der handelt unehrenhaft, der den Staat so verwalten will, als sei er sein eigenes Geschäft!« hatte er gerufen und jede einzelne Silbe betont, worauf Selvaggia beschloß, den Satz für alle Fälle im Gedächtnis zu behalten. Vor lauter Auswendiglernen hatte sie dann nicht mehr richtig zuhören können und nur noch ein paar neue Wörter aufgeschnappt wie Medici und Signoria, Balia und Gonfaloniere. Schließlich war der Vater wütend hinausgegangen, noch vor der Süßspeise, die er so mochte, und den ganzen Abend nicht mehr aus seinem Studierzimmer herausgekommen. Tribolo aber hatte sich keine Mühe gegeben, seine Heiterkeit zu verbergen, sogar Lachtränen hatten in seinen leicht vorquellenden Augen gestanden. Selvaggia hätte es besser gefunden, er wäre hinausgegangen.

Vom grünen Fluß unter ihnen, der zu dieser Jahreszeit schon nicht mehr allzuviel Wasser führte, wehte ihr kalter Wind ins Gesicht, ein scharfer Luftzug, der nur für sie bestimmt war, getarnt unter wattiger Spätnachmittagswärme. Mit den Fingerspitzen rieb sie sich die schmerzende Stirn. Ein Punkt zwischen den Augenbrauen erschien ihr besonders empfindlich, sie drückte so fest darauf, wie sie konnte. Der Schmerz konzentrierte sich auf diesen Punkt und verschwand im Inneren ihres Kopfes.

»Es wird Zeit«, sagte Giovanni. »Zu Hause werden sie uns schon vermissen.«

Zu Hause hatte Selvaggia vollkommen vergessen. Auch während des Rückweges über den unteren Teil des Rubaconte und den Borgo San Jacopo dachte sie nicht daran. Sie saß jetzt so eng an ihren Vater geschmiegt, daß sie sein Herz klopfen hörte, laut und regelmäßig, beständig wie sonst nichts auf dieser Erde. Er und sie unter seinem rotroten Mantel in der Abendsonne – was für ein Gefühl! Alles, was Selvaggia sonst noch hätte empfinden können, Müdigkeit oder Erregung, Hunger oder Durst, löste sich auf, bevor es ihr Bewußtsein berührte. Innen war außen, und beides bestand aus pulsierendem Licht. Es hielt sie gefangen, bis sie die Via Maggiore erreichten.

Vor dem Haus Salvestrini ging ein Rosenverkäufer auf und ab, den sie noch nie dort gesehen hatte. Giovanni nahm zwei Körbe voll dunkelroter Rosen und schenkte sie alle Camilla. Der Zauber war verflogen und sollte sich niemals mehr wiederholen.

In der Nacht träumte Selvaggia von einem kindlichen Klosterbruder, der die gemeinen Gesichter des Färberviertels auf die Türme der Eingemauerten malte, und als sie am nächsten Morgen erwachte, schien es ihr wieder, als blicke sie durch ein Fenster in die Welt hinein. Sie könnte sich jederzeit zurückziehen, wenn sie nur wollte.

Ranunculo ... Oase im Kreise silbriger Olivenhainhügel, die das Arnotal wie mit Engelsflügeln umfächelten, früher hatte ihr allein der Klang dieses Namens Abstand und Erfrischung versprochen: Ranunculo. Doch seitdem Camilla sich um eine wachsende Schar von Schützlingen kümmerte, war das anders.

Im Sommer blieben nur die Armen 2wischen den glühenden Steinen der Stadt, gerade dann hätten sie Nahrung und Trost gebraucht, gerade dann verließ die Familie Salvestrini Florenz durch eben das Stadttor, an dem Camilla noch gestern die Hungrigen gespeist hatte, und das konnte sie sich kaum verzeihen. Die Dienstboten anderer Kaufleute würden an ihrer Stelle das Notwendige tun, soweit sie in der Stadt waren, gewiß, denn so war es Brauch in Florenz, mehr aus Selbstschutz als aus Nächstenliebe übrigens, aber hatte gerade sie darum das Recht, sich monatelang untätig aufs Land zurückzuziehen? Hatte der Prediger nicht deutlich genug erklärt, die Vollendung der Nächstenliebe bestehe aus der Bereitschaft, sein Leben mit dem des anderen zu tauschen?

»Wenn du einen Aussätzigen siehst«, hatte er gesagt, »so solltest du so viel Mitleid für ihn empfinden, daß du lieber selbst sein Leid auf dich nehmen möchtest, als es ihn tragen zu lassen.«

Da stand sie nun im Säulengang ihres kleinen Sommerhauses, das so selbstgefällig auf der Anhöhe thronte, von Zypressen überwacht, von Pinienschirmen beschattet, und trug doch nichts als ihre eigene Last, aus der es keine Erlösung gab. Sie wurde die Bilder nicht los, sah, abwegig genug, statt der schön gewölbten Loggia, die über und über vom Laub der Weinreben umsponnen war, das Unkraut über dem zerborstenen Backofen in einem der verwahrlosten Gemeinschaftshöfe der Stadt. Auch Brunnen gab es dort, die freilich jeden Sommer auszutrocknen drohten, während die Quellen hier auf dem Lande niemals versiegten und völlig nutzlos in blaugekachelte Becken rieselten. Im Wasser spiegelte sich eine Putte aus Terrakotta, und dieser Anblick war nun ganz und gar unerträglich, weil er nicht nur Bilder heraufbeschwor, sondern überdies noch Worte aus der schlimmsten aller Predigten.

»Geht nur zu eurem Ponte Vecchio über dem Arno!« hatte jener Franziskanermönch, den sie Bernhardino Zwei nannte, weil er dem ersten so sehr glich und sie sich seinen richtigen Namen nicht merken konnte, neulich in der Karwoche gerufen. »Geht nur und legt euer Ohr auf den Boden und lauscht, großes Wehklagen werdet ihr vernehmen! Geht nur zu den Latrinen, geht zu den Ställen! Geht zu den Gärten auf dem Land oder in Florenz, geht nur in den Laden zum Barbier oder Apotheker, in die Häuser der Doktoren ... Haltet die Ohren offen, und ihr werdet gellendes Geschrei hören, das zum Himmel dringt. Es sind die Stimmen der nicht erblühten Knospen, der unschuldigen Kindlein, die ihr in euren Arno geschmissen habt und in eure Latrinen oder lebendigen Leibes in euren Gärten und Ställen verscharrt habt. Lebendig, lebendig, um der Schande der Welt zu entgehen, und oft ohne christliche Taufe. Ach, die Schreie der Kinder, die im Leib ihrer Mütter getötet wurden mit Hilfe von Medizinern, von Barbieren, Apothekern und Schweinekastrierern von Ärzten ... Wie viele Schreie geben diejenigen Seelen von sich, die gern geboren worden wären und es nicht sind wegen des vermaledeiten Lasters der Unzucht ...«

Camilla tat, was sie schon während der Predigt getan hatte: Sie küßte das Christusamulett, das ihr an einer Kette um den Hals hing. Doch an ihrer Verwirrung änderte das nichts. In der Stadt, die sie liebte, deren Luft sie von Geburt an atmete, spielten sich Dinge ab, von denen sie keinerlei Vorstellungen hatte. Was kannte sie überhaupt vom Leben? So etwas wie Unzucht war ihr niemals begegnet, würde ihr niemals begegnen, und sie wußte nicht einmal, ob sie das freuen oder bedauern sollte. Freude oder Reue, das fragte sie sich oft, und, seitdem sie die gewagten Novellen des Messer Boccaccio kennengelernt hatte, mehr denn je. Wartete sie denn immer noch, daß etwas geschehen würde, oder gab sie sich damit zufrieden, daß schon alles geschehen war – Camilla konnte sich nicht entscheiden.

In jüngeren Jahren, als sie noch jedes Laster hätte bekämpfen müssen, sobald es sich zeigte, hatte sie nicht diese Unruhe gespürt, die sie nun Tag und Nacht begleitete. Sie hatte Giovanni geheiratet, als sie vierzehn war, hatte ihr Leben in seine Hände gegeben, und das wurde ihr Segen und Fluch zugleich. Giovanni, der Überlegene, der selten schwankte oder schwärmte, der seine Gefühle ebenso unter Kontrolle hatte wie seine Geschäfte ... Die Verständigung mit ihm war schwieriger geworden in den letzten Jahren. Von jenem Prediger etwa wollte er partout nichts wissen, spottete vielmehr über dessen Worte, die er »unzeitgemäß« fand.

»Vor hundert Jahren«, ereiferte er sich, »mochten reiche Kaufmannssöhne aus heiterem Himmel Aussätzige umarmt und in der allgemeinen Verwirrung ein paar Anhänger gewonnen haben, die offenen Maules erkannten« – an der Stelle ahmte er ihren blöden Gesichtsausdruck nach –, »daß sich hier zum ersten mal der Sprung von der Utopie zur Wirklichkeit ereignet hatte, heute jedoch erscheinen uns solche Phänomene ebenso unvorstellbar wie widernatürlich!«

»Im Gegenteil, wenn wir nicht alle dahin zurückfinden, wird unser Leben unmenschlich werden«, widersprach Camilla, und es überlief sie eine Gänsehaut beim Gedanken an die göttlichen Strafen, welche die wachsende Unmenschlichkeit nach sich ziehen würde.

Giovanni tätschelte ihr beruhigend die Hand, beeilte sich dann aber, das Thema zu wechseln. Die knapp bemessene Zeit, die ihm neben der Politik noch blieb, widmete er zwar ebenso gern seiner Familie wie seinen philosophierenden Freunden, die er regelmäßig auf der Piazza unter dem Tetto Pisani traf, Diskussionen über Camillas wechselnde Befürchtungen ging er allerdings lieber aus dem Weg. Camilla sah das wohl und gab sich alle Mühe, so vernünftig zu erscheinen, wie ein Ehemann es erwarten durfte, doch je mehr sie ihre Ahnungen vor ihm zu verbergen suchte, desto stärker litt sie unter dem Gefühl einer Entfremdung. Früher hätte Giovanni wissen wollen, was er heute lieber auf sich beruhen ließ. Ungeteilte Aufmerksamkeit zeigte er nur noch, wenn es um Selvaggias Zukunft ging. Derzeit waren es wechselnde Bildungspläne, die er mit einem Eifer für sie entwarf, als ginge es darum, die Geschicke der Republik zu beeinflussen. Er kam vom Hundertsten ins Tausendste. Vergaß dabei kein einziges Mal die Abakus-Schule, die es in seiner Jugend noch nicht gegeben hatte, obwohl sie angehenden Kaufleuten, und nicht nur ihnen, von großem Nutzen sein konnte. Weniger gern ließ er sich daran erinnern, daß der Knabe Tribolo seine Zeit dort, so oft es ihm gefiel, mit der Konstruktion von Papiermühlen oder dem Spiel mit Tonmurmeln vertan hatte, für die er verbotenerweise Löcher in sein Pult bohrte, statt die Kugeln auf Benedetto dell’ Abaccos trefflichem Zeichenbrett zusammenzuzählen.

»Wie sich herausgestellt hat, gehört der gute Tribolo zu den glücklichen Naturen, welche die Mathematik erst als Erwachsene und in Spielklubs entdecken«, bemerkte er nicht ohne Ironie. »Er ist nun einmal nicht unser eigen Fleisch und Blut.«

»Und die Rücksichtnahme auf andere, die du ihn ebenfalls in Messer dell’ Abaccos öffentlicher Schule erlernen lassen wolltest – was Selvaggia übrigens nicht nötig hat –, wann, Giovanni, wird er die je für sich entdecken?« fragte Camilla ungewohnt spitz, denn sie entsann sich gerade voller Unbehagen der täglichen Beschwerden der Eltern, deren Kinder damals von Tribolos Schleuder getroffen, seinem Juckpulver gepeinigt worden waren.

»Soviel Groll über Ereignisse, die beinah zwanzig Jahre zurückliegen, Camilla, findest du das christlich?«

»Nein, und das weißt du auch.«

Daß Giovanni sich keine Gelegenheit entgehen ließ, ihren wunden Punkt zu berühren, war eigentlich auch kein gutes Zeichen. Trotzdem senkte Camilla beschämt den Kopf; ihr Mann hatte ja recht. Dem geringsten ihrer Schützlinge, mochte er moralisch noch so verkommen oder gar bösartig sein, brachte sie mehr Verständnis entgegen als Pietro Baldassare, den sie doch wie einen eigenen Sohn lieben sollte. Sooft sie ihre Unfähigkeit gebeichtet, gesühnt und bereut hatte, überwinden konnte Camilla sie nie. Auch jetzt fühlte sie nichts als Erleichterung, daß Tribolo längst aus dem Hause war, wenn auch nicht aus der Welt, und daß Selvaggia ohne ihn heranwuchs, wiewohl er ihre Nähe öfter suchte, als wünschenswert erschien.

Für sie kam die Abakus-Schule jedenfalls nicht in Frage. »Selvaggia hört gern biblische Geschichten«, nahm Camilla den Faden wieder auf. »Ich habe ihr an die zwanzig erzählt, und sie hat keine einzige vergessen.«

»Sie hört alle Geschichten gern«, bestätigte Giovanni. »Und je mehr Wunder darin vorkommen, desto lieber sind sie ihr. Du solltest deine Bibelstunden fortsetzen, Camilla, und ihr auch schon ein wenig Lesen und Schreiben beibringen und dies im Sommer auf dem Land ruhig fortsetzen. Es wären sonst verlorene Monate.«

»Nun, sie liest bereits und schreibt Sätze, die sie für Gedichte hält. Allerdings in Spiegelschrift«, sagte Camilla etwas gereizt und wandte sich wieder ihrer eigenen Lektüre zu.

»In Spiegelschrift!« wiederholte Giovanni mit einem Pathos, das seine Frau nun doch leicht übertrieben fand. Zu bewegt, sie um Erlaubnis zu bitten, nahm er ihr den eben erst begonnenen zweiten Teil des Decamerone aus der Hand, ihrer einzigen Lektüre außer der Bibel, dachte Giovanni amüsiert, und als Ergänzung dazu womöglich nicht weniger lehrreich. »Erinnere dich an den jungen Lionardo, der zehn Jahre vor unserem Tribolo Lehrjunge bei Verrocchio war«, fuhr er dann fort. »Auch er schrieb ausschließlich in Spiegelschrift und ist heute dabei, einer unserer größten Künstler zu werden.«

»Da aber Selvaggia nun einmal als Frau zur Welt gekommen ist, wird ihre kindliche Spiegelschrift, um die du soviel Aufhebens machst, Vanni, sie kaum zum begnadeten Lionardo werden lassen, sondern ihr hübsches Gesichtchen sie allenfalls zum Modell eines solchen.«

Camilla wunderte sich, wie verärgert sie auf einmal klang; es steckte wohl mehr dahinter als der Wunsch, ihre Lektüre ungestört fortzusetzen. Sie war sich in letzter Zeit selbst oft ein Rätsel und fand doch nie den Mut, ihren wechselnden Stimmungen auf den Grund zu gehen. Aber mußte sie deshalb Giovanni kritisieren, der doch gar nicht wissen konnte, was in ihr vorging? Sofort fühlte sie sich schuldig und folgte nun um so bereitwilliger seinen Gedanken zum »Ideal des allseitig gebildeten Menschen«, nicht zum ersten mal übrigens, aber das würde sie sich heute nicht anmerken lassen.

Zum Universalmenschen – und dazu konnten nach Giovanni Frauen ebensogut geboren sein wie Männer – wurde ein unfertiges Kind durch eine umfassende Ausbildung in allen möglichen geistigen und körperlichen Disziplinen. Schon die drei älteren Salvestrini-Schwestern waren jahrelang von Privatlehrern unterrichtet worden wie sonst nur die Töchter der vornehmsten und fortschrittlichsten Familien Italiens, etwa eine Isabella Gonzaga oder Ippolita Sforza, die den Papst vor einem Vierteljahrhundert auf dem Kongreß zu Mantua bereits in freier Rede begrüßt hatte. Obwohl die Salvestrini-Schwestern es schon allein aus gesellschaftlichen Gründen nie soweit bringen würden, waren sie doch alle drei männlicher Konversation gewachsen und damit ihrer Zeit voraus.

»Zumal«, sagte Camilla, die sich noch gut an ihre damaligen Diskussionen zu dem Thema erinnerte, »neben den antiken Autoren und klassischen Sprachen auch die moderne Poesie in der Volkssprache auf ihrem Stundenplan gestanden hatte, weil du es so wolltest.«

»Die Spirale des Fortschritts aber dreht sich weiter«, prophezeite Giovanni, »und wird die Menschheit noch in ungeahnte Höhen tragen.«

Um Selvaggia angemessen auf diese Zukunft vorzubereiten, sollte sie nicht nur ebensoviel lernen wie ihre Schwestern, sondern darüber hinaus noch Reiten und Rhetorik, Musik und Philosophie und vor allem Geographie, worin Giovanni seine Jüngste am liebsten selbst unterrichtet hätte, so sehr fesselten ihn die Entdeckungsreisen der portugiesischen Seefahrer und das Studium der neuesten Landkarten und Atlanten, die er seit einiger Zeit in Vespasianos ehemaligem Buchladen finden konnte, dem wunderbaren Treffpunkt wissensdurstiger Zeitgenossen.

Als Giovannis Mittelfinger über die gebogene Nase fuhr und im Grübchen seines glattrasierten Kinnes verweilte, wußte sein Weib: Er würde nun auf die Schule in Mantua zu sprechen kommen, die ein gewisser Vittorio da Feltre oder so ähnlich zum Vorbild für ganz Italien gemacht hatte, denn dort wurden nicht nur die Söhne und Töchter des Fürstenhofes zu wahrer Gelehrsamkeit erzogen und zur Körperbeherrschung obendrein, sondern ebenso die armen, aber begabten Landeskinder, und zwar ganz umsonst, das hieß, auf Kosten des großzügigen Herrscherhauses Gonzaga.

Giovanni bedauerte sehr, nicht zur Ehre seiner Vaterstadt auch in Florenz eine solche Prachtschule errichten zu können, aber ihm fehlte einfach die Zeit. »Und du, Camilla, tätest gut daran, deine Findelkinder nicht nur mit Küssen, Kosen und Almosen zu beglücken«, fügte er gern hinzu, »sondern ihnen auch ein wenig Lesen und Schreiben beizubringen und meinetwegen biblische Geschichte. Wenn du nur wolltest, könntest sogar du allein eine Schule gründen, und zwar eben dort, bei deinen Waisen im Spedale degli Innocenti.«

Die Frage, mit der sie ihm dann für gewöhnlich antwortete, kannte er auch schon im voraus: War sie, Camilla, denn nicht nur eine einfache Frau aus dem Volk, Tochter eines Zuckerbäckers, die ihre geringen Grundkenntnisse selbst erst spät und auf Wunsch ihres Ehemannes erworben hatte? Wie sollte sie sich da mit einem Messer da Feltre aus Mantua messen, einem jener gelehrten Männer, die sich Humanisten nannten, wobei sie nicht einmal hätte sagen können, was damit gemeint war. Überhaupt lag ihr nichts ferner, als etwas zu gründen oder zu errichten, eine Institution gar, die verwaltet werden mußte. Sie wollte den direkten Umgang mit Menschen, ohne Programme und pädagogische Absichten. Tätige Nächstenliebe eben. »Jeder kann nur geben, was er selbst besitzt«, rechtfertigte sie ihr Tun. »Und bei mir sind das nun einmal meine Gefühle zusammen mit den Almosen aus deiner Tasche.«

»Camilla mit dem großen Herzen!« rief Giovanni an dieser Stelle meistens aus, und es lag ein Unterton in seiner Stimme, der seinem Weib nicht besonders gefiel. »Aber glaube mir, du tust deinem Verstand unrecht, wenn du ihm nicht erlaubst, sich genauso zu entfalten wie deine Gefühle.«

Aufatmend beugte sie sich hinunter zum großen wasserspeienden Fisch, dem Reittier der Brunnenputte, um Hände und Gesicht zu erfrischen. Kein vernünftiger Mensch hielt sich so lange in der Sonne auf, wie sie es gerade getan hatte, ohne es zu merken. Nun plagten sie stechende Kopfschmerzen, und ihre Gedanken verwirrten sich, so daß sie kein vernünftiges Wort mehr hätte herausbringen können. Sie haßte diesen Zustand, diese Unfähigkeit, klar zu erkennen, was war, und es ebenso klar auszusprechen. Auch ohne Sonne fühlte sie sich zuweilen derartig dumpf und benommen, als hätte sie ihr Hirn mit Wein benebelt, geradezu beängstigend.

Vielleicht begann so das Alter, vielleicht würde ihr eines Tages immer so zumute sein. Mit unsicheren Schritten tastete sie sich den Weg hinunter in den Garten, und der Kies unter ihren Füßen knirschte in ihrem Kopf.

Sie wollte ihre Tochter suchen, das Haus war ihr so leer ohne sie, doch kaum hatte sie sich in Bewegung gesetzt, was sie erst recht erhitzte, bereute sie ihren Einfall. Wer Selvaggia finden wollte, mußte Herr seiner Sinne sein. Diese Meisterin des Versteckspiels traf nur, wen sie treffen wollte.

Den vorderen Teil des Gartens mit seinen Rosenrondellen und Rasenquadraten konnte Camilla getrost links liegen lassen, Selvaggia bevorzugte die Wildnis im unteren Teil der Anhöhe.

Dort stand eine weinumrankte Laube mit einer Rebenschaukel, die Tribolo sich in seiner Kindheit zurechtgebogen hatte. Auf seinem Schoß und viel früher, als sie sollte, hatte Selvaggia zum ersten mal das Gefühl genossen, über Blumen und Sträucher hinwegzufliegen, und gleich im Sommer darauf die Laube zu ihrem Lieblingsplatz erkoren und die Schaukel zum Luftschiff, dessen Erfindung, so Giovanni, der Welt noch bevorstand. Hier machte Selvaggia ihrem Namen Ehre: Sie schaukelte wie eine Wilde, legte den Kopf in den Nacken, so weit es nur ging, während ihre Beine heftig hin- und herpendelten, bis sie mit den Fußspitzen den Himmel zu berühren glaubte. Länger als jeder andere konnte sie sich im Schwung halten, und zwar, zu Camillas Entsetzen, immer bis kurz vor dem Überschlag. Erst wenn sich das Gebüsch an der Seite schon eine ganze Weile im selben Rhythmus bewegt hatte wie sie und ihr ein bißchen übel wurde, weil auch der Himmel zu schaukeln begann, verlor sie mit einem mal die Lust. Dann sprang sie in voller Fahrt ab und verzog sich, irgendwelche Früchte lutschend, in ihr kleines Kabinett, aus den Ästen eines immergrünen Baumes gebildet und so dicht von Laub umgeben, daß Camilla die Zweige zur Seite schieben und festhalten mußte, wenn sie hindurchsehen wollte.

Noch lieber hockte Selvaggia im Herzen eines künstlichen Labyrinthes und redete mit den Käfern. Das Labyrinth hatte Giovanni vor vielen Jahren angelegt und später sich selbst überlassen.

Er war nämlich als junger Mann eine Zeitlang ganz auf seinem Landgut geblieben, um mit Brunnenbau und Wasserkunst zu experimentieren. Camilla erinnerte sich noch gut an ihren ersten Besuch auf dem Besitz der Salvestrini. Sie war dreizehn und frisch verlobt. Der zehn Jahre ältere Giovanni, Erbe von Ranunculo, führte sie herum wie ein kleiner König, der sein Reich zeigte und sich einen Spaß daraus machte, seine kindliche Braut aus dem Staunen nicht mehr herauskommen zu lassen ...

Camilla setzte sich auf ihre Steinbank im Schatten eines duftenden Zitronenbaumes und schloß die Augen in der Hoffnung, daß ihr der Schwindel vergehen und gleichzeitig die Bilder von damals entstehen mochten:

Wie sie weißgekleidet und strahlend an Giovannis Arm umherspaziert war und sich seine Sammlung seltener Pflanzen zeigen ließ, als plötzlich unter ihren Schritten ganz feine Wasserstrahlen hervortraten und sie naßspritzten. Was für Luftsprünge sie machte, um ihnen auszuweichen! Verrückt war dieser Sprühregen, der aus der Erde kam, verrückt und unerklärlich. Die Strahlen konnten sich verändern, bald größer, bald kleiner werden, und erst als Camilla von selbst darauf kam, daß eines Menschen Hand sie regulierte, lüftete Giovanni das Geheimnis des Regenmachens. Es gab da einen Gärtner am anderen Ende des Weges, hinter Büschen verborgen, der durch eine unterirdische Feder eine Maschinerie so geschickt in Bewegung setzte, daß die Strahlen seinen Wünschen gehorchten. Erfunden aber hatte Giovanni dieses Kunstwerk allein, und das war noch längst nicht alles. Der Wasserstrahlenweg mündete in einem Becken mit einer Reihe hoher Pfeiler am Rande, aus denen kräftige Fontänen sprudelten, und zwar nicht in die Höhe, wie gewöhnlich, sondern abwärts, »denn«, erklärte der Erfinder seiner Braut, »die Öffnungen liegen nach innen und sehen einander an«.

Die Strahlen trafen sich in der Luft, schienen sich dort regelrecht zu bekämpfen wie die Salven mutwilliger Knaben in einer Wasserschlacht, bevor sie in dichtem unaufhörlichen Regen zum Becken hinabstürzten. Wenn nun die Sonne darauf fiel, zauberte sie unten im Wasser, in der Luft und ringsum einen so leuchtenden Regenbogen, daß jeder, den man sonst am Himmel sah, daneben verblaßte.

Damit nicht genug, plante Giovanni eine Wasserorgel mit echter Musik, die dadurch entstehen sollte, daß Wasser sich mit großer Gewalt in eine Tonne ergoß und die Luft durch Orgelpfeifen preßte, welche an bestimmten Stellen zu installieren waren. Obwohl schon genau berechnet, wurde dieser Plan nie ausgeführt, weil Giovannis rastloser Geist sich bald wieder anderen Dingen zuwandte.

Auch seine Wasserspiele gehörten heute längst der Vergangenheit an. Es hatten von jeher die Mittel für einen Bediensteten gefehlt, der die Anlage das ganze Jahr über in Ordnung hielt, und Sagrino, der Halbpachtbauer, der sich damals um Park und Brunnen kümmerte, sollte sich bald anders besinnen. Im Sommer nach jenem Brautspaziergang – Camilla war schon verheiratet und guter Hoffnung – brachen im ganzen Umland Bauernaufstände aus. Selbst der wackere Sagrino begann plötzlich zu streiken, das heißt, er lungerte den lieben langen Tag mit anderen Landarbeitern aus der Nachbarschaft vor der Villa herum und sang aufmüpfige Lieder. Camilla wußte den Text noch auswendig, weil sie damals, statt einzig an das Kind in ihrem Leib zu denken, nächtelang über die Form der Mezzadria, der Halbpacht, nachgegrübelt hatte.

»Wir arbeiten das ganze Jahr«, tönte es da aus rauhen Kehlen, »während sie im Schatten liegen; wenn wir die ganze Arbeit tun, warum soll ihnen dann die halbe Ernte gehören?«

Eigentlich haben sie recht, dachte Camilla damals, doch Giovanni erklärte ihr, daß die florentinische Mezzadria die fortschrittlichste Vertragsform von Italien und ganz Europa sei, weil sie aus Leibeigenen freie Menschen gemacht habe, die zudem die Hälfte ihrer Ernte behalten dürften und seither genauso an guten Erträgen interessiert sein müßten wie die Grundbesitzer. Da Sagrino nun aber durchaus in sein Unglück, nämlich in die Stadt, laufen wollte, löste Giovanni den Vertrag mit ihm freiwillig, was er durchaus nicht hätte tun müssen.

Camilla zerstreute daraufhin ihre Zweifel. Einer wie Giovanni würde schon das Rechte tun.

Dieses Vertrauen auf sein Urteil, ihr Leben lang, mit jenem Brautspaziergang hatte es begonnen. Ein Mann, der Regenbögen und Wassermusik erschaffen konnte, dachte sie, war es wert, von ganzem Herzen bewundert und geliebt zu werden. Sie betrachtete ihn als einen Glücksfall, der mit der bescheidenen Mitgift ihrer Eltern, den Bedingungen eines Hochzeitsarrangements, das sie nicht kannte, gar nicht aufzuwiegen war. Ein Leben an seiner Seite schien Camilla mehr zu sein, als ein Mädchen wie sie es sich erträumen durfte. Er sollte es nie bereuen müssen, gelobte sie sich damals.

Auch das Labyrinth, vor dem sie jetzt stehengeblieben war, stammte aus jener Zeit. Eigentlich fühlte Camilla sich nicht wohl genug, richtig hineinzugehen; das Labyrinth hatte viele verschlungene Irrwege, die obendrein bis zur Unkenntlichkeit überwuchert waren, man konnte sich tatsächlich darin verlaufen. Als Selvaggia noch jünger war, hatte sie sich ihren Weg manches Mal mit Blütenblättern bestreut, aus Angst, sonst nicht mehr herauszufinden. Der erste, der dieser Spur folgte und das Kind bei Spielen überraschte, die keinem anderen eingefallen wären, war Tribolo gewesen.

»Zitternd vor Verlangen, gefunden zu werden, hatte sie dagesessen«, sagte er, »und gleichzeitig betend, daß niemand sie entdeckte.«

Selvaggia hatte ihn ausgelacht und gemeint, sie habe weder gezittert noch gebetet, sondern versucht, ihren Atem anzuhalten, damit sie mit weniger auskäme, falls sie einmal ins Wasser fiele oder auf andere Weise zu ersticken drohte. Bis siebenundzwanzig könne sie schon zählen, ohne Luft holen zu müssen.

Das Labyrinth auf dem Lande schien für sie eine ähnliche Rolle zu spielen wie ihre zahlreichen Verstecke im Stadthaus. Sie zog sich dorthin zurück, um allein zu sein, und alle außer Tribolo, der sich höchst selten nach Ranunculo verirrte, achteten diesen Wunsch.

Auch Camilla warf nur einen flüchtigen Blick in den vorderen Teil des Irrgartens mit den vielen unsichtbaren Zwitschervögeln im dichten Blätterwerk, dann bog sie in einen schmalen, leicht ansteigenden Feldweg ein, der aus dem Parkgelände heraus zum Hof des Pächters Gaburro führte. Wenn sie schon Kopfschmerzen hatte und zu sonst nichts zu gebrauchen war, konnte sie sich wenigstens die Sorgen der Bauern anhören, das würde beide Seiten erleichtern. Sie brauchte nur die Felder links und rechts vom Wege anzusehen, um zu wissen, worüber Gaburro klagen würde: Es war Mitte Juni und der Weizen noch nicht geerntet, der Bauer und seine Familie kamen wie jedes Jahr mit der Arbeit nicht nach. Camilla hätte ihnen gerne geholfen, wußte aber nicht, wie. Ob abgeerntet oder nicht, sie liebte den Anblick dieser Getreidefelder, die durch ihre schnurgeraden Baumreihen mittendrin und die zahlreichen ineinander verschlungenen Rebstöcke an eine Gartenlandschaft erinnerten. Auch die Berge in der Ferne waren von Bäumen bedeckt, von Feigen, Oliven, Kastanien; vereinzelt fanden sich sogar prächtige Maulbeerbäume, die Menschen wie Giovanni von einer Seidenraupenzucht hier, mitten im Contado, träumen ließen.

Camilla hatte ihre Schritte jetzt beschleunigt, sie sehnte sich danach, aus der Hitze herauszukommen. Das kleine quadratische Bauernhaus mit seinen wenigen vergitterten Fenstern war aus den gleichen ockerfarbenen Steinen gebaut wie die Villa Ranunculo. Gaburro selbst hatte, nachdem seine Familie größer geworden war, noch ein Nebengebäude, allein für die Küche, errichtet und den Hof zwischen den Häusern, den Ställen und einer Scheune mit Feldsteinen gepflastert. Aus viel zu kleinen Tontöpfen quollen leuchtendrote Geranien und Zinnien, die anspruchslosen Blumen der Armen und Bauern. Da es wohl später Vormittag sein mußte und sie vorn auf den Feldern niemanden gesehen hatte, ging Camilla geradewegs zum Küchenhaus.

Ein paar Tauben und Hühner flatterten ihr vor die Füße, der Hofhund, der die Schwelle versperrte, hob eine Augenbraue zum Blinzelblick, rührte sich aber nicht von der Stelle. Er hielt wohl schon Siesta. Camilla, die selbst zu Hause in der Stadt Mühe hatte, sich nach Tageszeiten zu richten, mußte sich auf dem Lande damit abfinden, dem allgemeinen Leben immer um Stunden hinterherzuhinken.

Bevor sie aus dem gleißenden Sonnenlicht in die dunkle Küchenhöhle trat, sprach sie leise auf den Hüter des Hauses ein, der sie zwar kannte, dem sie aber wie jedem Hund nicht traute. Als sie nicht mehr ganz blind war, sah sie das Herdfeuer und Licisca, die es schürte, sah den großen, noch nicht ganz abgeräumten Holztisch, um den zwei jauchzende bloßbeinige Kinder rannten, wobei sie gleichzeitig mit ihren Brotkrusten die Öl- und Weinpfützen der letzten Mahlzeit auftitschten. Das eine war viel flinker als das andere, es tanzte ihm vor der Nase herum und neckte es mit seinem triefenden Stückchen Brot. Camilla mußte sich am Türpfosten festhalten, denn von dem Gerenne wurde ihr wieder ganz schwindelig. Sie rieb sich die Augen, aber das Bild blieb unverändert. Das eine Kind, das tanzende, welches sich da mit naschigem Finger die Backen vollstopfte, sah aus wie Selvaggia.

Da niemand sie zu bemerken schien, blieb Camilla stehen und sagte kein Wort. Wer war dieses herumwirbelnde Wesen, so vertraut und so fremd in der ungewohnten Szenerie? War weder Vision noch Wirklichkeit, weder Knabe noch Mädchen, niemandes Tochter und niemandes Schwester, gehörte nur sich selbst. Absurd kam es ihr nun vor, dieses Kind »unfertig« zu nennen und Lehrpläne zu entwickeln, damit es etwas wurde. Sie fand in diesem Augenblick keinen Unterschied zwischen dem, was Selvaggia war, und dem, was sie sein sollte. Sie sah nur, daß dieses Kind auf eine Weise lebendig war, die Erwachsene nicht mehr kannten, und daß es mehr Facetten zu verlieren hatte als zu gewinnen.

Camilla öffnete ihre Lippen, die Tochter zu rufen, sie zu warnen vielleicht, daß man sie stören würde, dieses Mal und immer wieder, bis an das Ende ihrer Kindheit, aber die Tagträume in der Sonne hatten ihr den Mund ausgetrocknet; sie brachte nur einen sonderbaren Laut hervor, heiser und unartikuliert wie das Klagen eines Tieres. Selvaggia erstarrte mitten in der Bewegung, so daß der kleine Junge mit ihr zusammenprallte und sie zu Boden warf. Schon kugelten sie miteinander auf dem Lehmfußboden herum, balgten sich gutmütig, als wären sie ein junges sanftpfotiges Katzenpaar, das auf seine Krallen noch verzichten konnte. Camilla mußte mitansehen, wie die Knöpfe von Selvaggias Kleidchen aufsprangen und jenes Sternenmal zwischen den Schulterblättern preisgaben. Es war mit den Jahren weder blasser geworden noch kleiner, es wuchs einfach mit. Sie hatte es noch nie so feuerrot gefunden auf der weißen Haut. Mit seinen gezackten Rändern sah es aus wie eine kaum verheilte Wunde oder, schlimmer noch, wie eine Markierung für den Pfeil, der noch geworfen werden sollte. Die geheime Stelle in den Heldensagen – wenn, dann würde man dort treffen müssen. Gepeinigt von ihren Vorstellungen stürzte sie nach vorn. Sie warf sich über ihr Kind, bedeckte sein Gesicht mit Küssen und nestelte gleichzeitig am Kleidchen herum.

Selvaggia entwand sich geschickt der mütterlichen Umarmung, strich Camilla dann aber tröstend über den Hals. »Du Ärmste! Warum bleibst du nicht im Haus bei dieser Hitze und schickst Faustina nach mir?«

Camilla mußte plötzlich lachen, obwohl sie sich dabei an ihren Tränen verschluckte. Wer war nun Mutter, wer Kind?

»Weil ich mit Gaburro reden wollte«, sagte sie.

»Dann hast du mich gar nicht gesucht?«

»Nein, nicht hier.«

»Gut.« Nachsichtiges Lächeln der Ausreißerin. »Siehst du? Gaburro schläft.«

Sie zeigte auf einen Hocker in der hintersten Ecke der Küche. Da saß der Pächter, die Hände auf den Griff seiner Hacke gestützt, und schnarchte. Die Fliegen krochen ihm in den offenen Mund.

Licisca hatte ihre Hände an der Schürze abgewischt und trat nun näher, den Gast aus der Villa zu begrüßen, und auch ihr filzhaariger Sohn streckte seine Linke hin, während er sich mit der Rechten die Rotzglocke von der Nase streifte. Mimmo, Selvaggias Spielkamerad.

Die Frau des Pächters bot Camilla einen wackeligen Stuhl und den Haustrunk an, der ihr den Kopf ganz ruinieren würde, wenn sie ihren Durst damit löschte. Die Besucherin möge nur ja nicht fortgehen, bat Licisca, bevor Gaburro die Augen wieder aufschlüge. Sein Mittagsschlaf dauere immer nur ein paar Atemzüge lang. Camilla sah unschlüssig ihre Tochter an, die aufmunternd nickte und »Wir gehen solange spielen« sagte. Ohne eine Reaktion abzuwarten, rannte sie mit Mimmo an der Hand zur Küchentür hinaus. Dies war nun das letzte, was Camilla wünschte; nur aus Schwäche ließ sie es geschehen. Sie fühlte sich diesem Wirbelwind nicht gewachsen, im Augenblick nicht und überhaupt. Dabei war Selvaggia doch erst sieben. Trotz ihrer äußeren Zerbrechlichkeit schien sie eine innere Stärke zu besitzen, mit der man rechnen mußte. Ihre Schwestern dagegen ... Wie waren sie in dem Alter gewesen? Camillas Gedanken schweiften wieder ab, sie wußte nun kaum noch, wozu sie eigentlich hergekommen war. Was Gaburro ihr zu erzählen hatte, war ja nichts Neues. Die Fläche Land, die er allein mit Hilfe seiner sechs jungen Söhne bestellte, war einfach zu groß. Immer noch lag ein Teil der Felder brach oder konnte nicht rechtzeitig abgeerntet werden. Der Weizen, der im Juli zu dreschen wäre, verdarb im Juni ungeerntet auf den Halmen, weil dann erst das Heu vom Mai gemäht wurde. Dabei reichte das Getreide aus dem Umland längst nicht mehr aus, alle Florentiner zu versorgen. Die Stadt importierte, wie jeder wußte, große Mengen Korn aus Süditalien und Sizilien, aus Afrika und vom Schwarzen Meer. Dort war es reichlich vorhanden und daher billiger als das aus dem Contado. Gaburro mußte seine Ernte nicht nur unter Preis verkaufen, er mußte sie als freier Mann, der er seit der Einführung der Halbpacht nun einmal war, auch noch versteuern.

»Die Stadt Florenz ist zu groß geworden, darunter haben wir alle zu leiden«, versuchte Camilla ihn zu besänftigen und kam sich falsch und verlogen vor, denn sie und ihre Kinder litten ja nicht. Wie viele Florentiner, die es zu ein wenig Wohlstand gebracht hatten, behielten die Salvestrinis ihr Landgut, um sich in schlechten Zeiten ganz dahin zurückziehen zu können. Notfalls würden sie die Früchte des eigenen Bodens genießen. Erst in einem alternativen Leben, das es für Gaburro und die Seinen nicht gab, würden sie die Sorgen des Pächters teilen müssen. Die Existenz der Bauernfamilie aber hing jetzt schon von jeder einzelnen Ernte ab.

»Florenz ist zu groß geworden«, wiederholte Camilla beschämt. »Mehr als siebzigtausend Einwohner in der Stadt, fast wieder soviel wie vor der letzten großen Pest – hundert Jahre sind es her, sagt Salvestrini –, und auf dem Land kaum Menschen, die ihre Felder bestellen.«

»In Florenz«, mischte sich jetzt auch Licisca in das Gespräch, »soll den Leuten das tägliche Brot fehlen, und hier bleibt das Korn ungedroschen auf den Dreschböden liegen. Warum kommen sie nicht heraus zu uns, um mit anzupacken, wenigstens solche, die sonst nichts zu beißen haben?«

»Ihr habt recht«, sagte Camilla, »wir müssen uns etwas einfallen lassen.«

Leider konnte Giovanni sich im Augenblick gar nicht um seine Landwirtschaft kümmern, weil er von der Politik und seinen Geschäften so in Anspruch genommen wurde. Ob vielleicht Tribolo ...? Ach was, der hatte noch nie nach anderen gefragt. Aber sie selbst könnte sich Gedanken machen, nein, eben nicht nur Gedanken, etwas wirklich Handfestes müßte sie für Gaburro auftreiben, so etwas wie Leiharbeiter vielleicht. Doch wer sollte die bezahlen? Der Pächter gewiß nicht.

»Euer Gatte hat mir geraten, mich ganz auf Wein und Olivenöl umzustellen«, erzählte er jetzt, »denn dieses Hügelland, meint er, sei ein Land der Hacke und Schaufel. Zur Wein- und Olivenernte aber braucht man noch mehr Arbeitskräfte als fürs Getreide. Hacke und Schaufel mögen dem Eigentümer ja den Boden vergolden, dem Bauern brechen sie nur den Rücken.«

Camilla nickte. »Es wird etwas geschehen«, versprach sie und stand auf. Höchste Zeit, nach Hause zu gehen. »Morgen früh soll Faustina euch Stoffe aus Florenz herüberbringen und ein paar andere nützliche Dinge.«

Sie überlegte noch, ob sie Licisca nicht bitten sollte, Selvaggia nach Hause zu schicken, wenn sie demnächst wiederkäme, um mit Mimmo zu spielen, sein Armeleuteessen und der Himmel wußte, was sonst noch, zu teilen, aber ihr fiel nicht rasch genug ein, wie sie ihre Bitte in verständliche Worte kleiden konnte, welche nicht verletzend waren, und so verließ sie Gaburro und seine Familie, ohne das ausgesprochen zu haben, was ihr am meisten am Herzen lag.

Selvaggia verdankte es letztlich der Hilflosigkeit ihrer Mutter, daß ihr auf diese Weise zwei ganz verschiedene Kindheiten erhalten blieben: die Winterkindheit in Florenz, die sie ohne die Gesellschaft Gleichaltriger nach den Regeln der Erwachsenen verbrachte, und die Sommerzeit in Ranunculo, wo sie sich am liebsten treiben ließ, wenn sie nicht gerade den Einfällen ihres Spielkameraden folgte. Seine Mutter Licisca wurde ihnen dabei zur unerwarteten Verbündeten. Ob sie sich von Mimmos Umgang mit einer Tochter der Salvestrini einen besonderen Gewinn versprach, oder ob sie dem Mädchen, dessen bloßer Anblick sie rührte, einfach nur einen Gefallen tun wollte, blieb ihr Geheimnis. Was zählte, war, daß sie die Freundschaft der beiden Kinder auf jede Weise unterstütze. Solange die Salvestrini die Villa oben bewohnten, schickte sie Mimmo nur selten zu seinen Brüdern aufs Feld, Gaburros Schelten zum Trotz. Wenn Selvaggia in der Nähe war, sollte auch Liciscas Jüngstem eine Kindheit vergönnt sein, obwohl sich die Spiele zu zweit kaum von denen unterschieden, die er bereits von seinen größeren Geschwistern kannte.

Für Selvaggia waren sie alle neu. Statt in ihren eigenen Kosmos im Innersten der Spirale einzutauchen, lag sie nun mit Mimmo bäuchlings auf der nahen Waldwiese und betrachtete hingerissen das tausendfüßige Gewimmel rund um einen Ameisenkosmos. Statt wie in Florenz imaginäre Hundetiere an unsichtbaren Leinen hinter sich herzuziehen, fütterten und versteckten sie auf dem Land leibhaftige Katzenkinder so lange an geheimen Orten, bis sie zu groß waren, um von Gaburro ertränkt zu werden.

Selvaggia hätte sie am liebsten für immer seinen Blicken entzogen, doch seitdem Faustina behauptet hatte, von Tierhaaren bekämen empfindliche Kinder roten Ausschlag, duldeten die Salvestrini weder Affen noch Katzen oder Enten im Haus. Auch Tobia hatte sich schon vor Jahren von ihrer Menagerie trennen müssen, glücklicherweise zu einer Zeit, als sie so verliebt war, daß sie den Verlust kaum bemerkte.

Mit Mimmo säuberte Selvaggia die beiden Zugochsen, versorgte die Schweine und Hühner und vergoß Tränen der Freude über einen Salamander, der sich zum Sonnenbad auf ihrer Hand niedergelassen hatte. Ihre Haut aber blieb makellos rein, und heiß wie im Fieber wurde ihr höchstens vom Bäumeklettern oder vom Versteckspiel im wogenden Kornfeld, das sich wie von selbst teilte, um sie einzulassen, und wieder schloß, sie vor zudringlichen Blicken zu verbergen. Da blieben sie dann eng aneinandergedrückt sitzen und lauschten ihrem Herzschlag oder dem Rauschen des Windes im Korn. Mimmo liebte geheime Schlupfwinkel ebensosehr wie seine Freundin, obgleich niemand von seinen Leuten sich je die Mühe machte, ihn zu suchen. Außerdem aß er gern alles, was ihm eßbar erschien, von unzermahlenen Getreidekörnern bis zum sogenannten »Waldbrot« aus Kastanienmehl, das seine Mutter für Notzeiten aufbewahrte. Nicht selten verdarben die Kinder sich ihre Mägen, weil sie unreife Früchte oder bodenduftende Salatblätter aus Liciscas Küchengarten schmausten, und kurierten sich wieder, ohne daß ein Mensch etwas davon erfuhr, mit den Medizinpflanzen aus Faustinas Kräuterbeet. Selvaggia, die zu Hause zu jeder Mahlzeit überredet werden mußte, stopfte sich beinah täglich mit Liciscas Kohl und Polenta voll wie Mimmo und seine Brüder; nur die seltene Festtagssauce aus Kaninchenfleisch rührte sie niemals an.

Ihr Haar wurde auf dem Lande so hell wie das der blonden Florentinerinnen, Lieblingsmodelle aller Maler, und ihre Haut olivfarben wie die der Bauernkinder. Bei jedem Wetter wollte sie draußen sein, nicht einmal der Tramontana, der eisige Nordwind, konnte sie davon abbringen. Es nützte nichts, sie unter irgendeinem Vorwand in der Villa zu halten oder sie wenigstens besonders warm einzupacken; sie lief davon, zog Schals und Schuhe wieder aus und bekam nicht den kleinsten Schnupfen. In Florenz dagegen klagte sie über Halsschmerzen und kalte Füße, sobald drei Tage lang die Sonne nicht schien. In Florenz, meinten die Salvestrini, ging sie auch anders. Ihre Füße schienen den Boden kaum zu berühren, wenn sie die Treppenstufen rauf- und runterhuschte. In Ranunculo bohrten sich ihre bloßen Zehen in die Erde, als wollten sie sich darin festkrallen. Hier wurde aus ihrem schwebenden Gang ein seltsames Hüpfen, was Faustina wieder Anlaß zu allerlei düsteren Vorhersagen gab, die Giovanni sich verbat, wenn er sie einmal zu hören bekam. Aber auch er betrachtete die bäuerlichen Neigungen seiner Tochter mit Skepsis. War sie doch eher zum Naturkind geschaffen als zur geistreichen Bildungsbürgerin, die er aus ihr machen wollte? Sollte das süße Latein der Vögel sie besser unterhalten, als das klassische Latein ihrer zukünftigen Lehrer es je würde?

Schon möglich, meine Camilla, denn auch sie mußte um jede einzelne Unterrichtsstunde kämpfen. Draußen auf dem Land war Selvaggia zu zappelig, um stillzusitzen. Dauernd spähte sie durchs offene Fenster und lauschte, ob sie ihren Freund nicht irgendwo singen hörte. Mimmo sang bei allem, was er tat, und selbst Camilla mußte zugeben, daß er trotz seiner Rotznase eine Stimme hatte wie ein Domsingknabe. Schließlich kam sie auf die Idee, ihn von Faustina waschen und in frische Kleider stecken zu lassen und ihn am Unterricht zu beteiligen. Die Idee schien gut zu sein, denn Gaburros Sohn entpuppte sich bald als aufmerksamer Schüler, der ebenso an Camillas Lippen hing wie Selvaggia an denen Liciscas, wenn sie zur Dämmerstunde bei ihr am Spinnrad hockte und Märchen und Sagen aus dem Contado lauschte. Mimmo wäre ein guter Kandidat für die Abakus-Schule gewesen; er lernte in einem einzigen Sommer Lesen und Schreiben und erfüllte damit vielleicht doch die geheimen Wünsche seiner Mutter.

»Weißt du, Vanni«, versuchte Camilla einmal ihren Mann zu beruhigen, bevor er, ein wenig irritiert über das, was er gesehen hatte, wieder in die Stadt ritt, »ich erinnere mich, daß diese leidenschaftlich verspielten Sommer auf dem Höhepunkt der Kindheit – und somit bereits kurz vor ihrem Ende – für kleine Mädchen sehr wichtig sind. Bei mir zumindest ist es ähnlich gewesen, wenn auch unter weniger günstigen Umständen, und selbst unsere drei Großen waren in Ranunculo nicht immer die wohlerzogenen jungen Damen, die sie hätten sein sollen. Freilich hat keine von ihnen ihre Freiheit hier so ausgenutzt wie Selvaggia, aber so ist sie nun einmal. Noch zwei, drei Sommer, und es ist vorbei, und sie wird nicht mehr begreifen, was sie an dem Gaburro-Sprößling und seinen Spielen einst so angezogen hat.«

Eine von Mimmos Lieblingsbeschäftigungen verabscheute seine Freundin jetzt schon von ganzem Herzen. Und wenn sie sah, daß er, behängt mit Vogelkäfigen wie die städtischen Wasserverkäufer mit irdenen Geschirren, in großen Sätzen über Gaburros Hof sprang, nahm sie Reißaus in Ranunculos hintersten Gartenwinkel. Mimmo, daran gab es keinen Zweifel, hatte wieder seine Leimruten gelegt und zog nun erbarmungslos aus, lebende Drosseln zu ernten, die in den nächsten Tagen Liciscas Ragouts bereichern sollten. Zu ähnlichen Zwecken hatte eines Herbstes der große Bruder Tribolo sogar Selvaggias geheiligtes Labyrinth mißbraucht. Durch die Melodien einer Silberpfeife und die Klagen gefesselter Tauben hatte er, in der Mitte des Irrgartens versteckt, Hunderte von Wachteln auf seine Leimbretter gelockt. Selvaggia kam um Sekunden zu spät, die Vögel zu retten. Sie heulte und beschimpfte den falschen Bruder mit den schlimmsten Worten, die sie kannte, und drohte zum Schluß:

»Wenn ich dich noch einmal hier an diesem Platz finde, lasse ich alles verschwinden, du wirst sehen!«

»... sprach Ariadne, Tochter des König Minos und Herrin des Labyrinthes«, alberte Tribolo. »Deine Schwestern und ich, wir haben hier schon Ball gespielt, als du noch gar nicht geboren warst, werte Ariadne mit dem verlorenen Faden, nicht einmal in den Träumen deines Herrn Papa. Und hast du dir schon einmal überlegt, wozu so ein Labyrinth gut sein soll?« fuhr er fort, indem er eine Stimme nachahmte, die Selvaggia nicht kannte.

»Man sucht seinen Weg zur Mitte, es ist der längstmögliche, glaube ich«, antwortete sie ganz ernsthaft, »und wenn man ihn gefunden hat, kehrt man wieder um und sucht den Weg hinaus.«

»Und wie oft mußt du dabei um die Mitte herumgehen?«

»Elfmal.«

»Bravo! – Magst du die Elf?«

Selvaggia zuckte die Achseln, Zahlen waren ihr eigentlich gleichgültig. »Warum nicht«, sagte sie.

»Dachte ich mir«, behauptete Tribolo. »Die Elf ist eine besondere Zahl. Es gibt die zehn Gebote, die Camilla dir gewiß schon mit der Muttermilch eingeträufelt hat. Zehn symbolisiert das Gesetz, die Elf aber ist die Zahl der Übertretung, der Maßlosigkeit.« Er zog sie jetzt ganz nah an sich heran, und sein Bart liebkoste ihr Ohr, während er flüsterte: »Die Elf ist eine sündige Zahl.«

Selvaggia lachte, wegen der kitzelnden Barthaare und weil sie die Sünde längst als des Bruders Lieblingswort kennengelernt hatte. Nur schien ihr all dies keine Entschuldigung dafür, daß er im Labyrinth Vögel fangen mußte. Sie verbot es ihm ganz einfach, denn sie, das wußte sie schon, war die einzige in der Familie, die sich das erlauben durfte. Und er war der einzige, der immer dann in ihrer Nähe auftauchte, wenn sie überhaupt nicht an ihn dachte. Mit anderen, einschließlich Mimmo und Faustina, geschah ihr das nie. Selvaggia konnte sie so erfolgreich herbei- und wieder fortwünschen, daß es ihr manchmal selbst unheimlich vorkam. Tribolo aber erschien aus dem Nichts wie eine vergessene Traumfigur, die sich wieder in Erinnerung bringen wollte. Auch in Ranunculo.

Selvaggia kauerte ohne ihren Freund, den Vogelfeind, vor einer zerbröckelnden Mauer im tiefer liegenden Teil des Gartens, den sie den »versunkenen« nannte, und vergnügte sich mit dem, was es dort zu sehen gab. Ockergelbe Putzreste auf den rostroten Steinen erzählten von alten Zeiten, als Park und Villa längst verstorbenen Verwandten gehört hatten. Heute waren die verwitterten Ziegel über und über von grünem Moos bewachsen, das bald Krater, bald Buckel bildete, zwischen denen allerlei Pilze wuchsen. Deren Dächer hatten sich zu weißen Dörfern zusammengefunden; drumherum war eine richtige Landschaft erstanden mit Feldern und Wäldern aus winzigen Pflanzen, mit schnurgeraden Promenaden, über die, kameradschaftlich untergehakt, die kleinen Skorpione spazierten. Hoffentlich blieben sie, wo sie waren. Selvaggia versuchte die Entfernung bis zum Fuß der Mauer abzuschätzen, wo rote Blüten unter einem Gestrüpp von Johannisbeeren leuchteten, die so schwarz waren wie Ebenholz.

»Prinzessin?« fragten die beiden Skorpione. »Wieviel Schritte schenkt Ihr uns?«

»Sechsundsiebzig ohne Anlauf«, antwortete die Prinzessin und begann gleich zu zählen. Bei sechzig würde sie wegrennen. Doch zuvor geschah, was ihr schon früher geschehen war: ein dunkler Schatten schob sich über das Bild und blieb. Zwei Hände wuchsen aus dem Schatten. Als sie so groß waren wie die eines Riesen, legten sie sich ganz fest über Selvaggias Augen. Sie konnte nichts mehr sehen und nichts hören außer der Stimme des Schattens, die in ihren Schrecken hinein laut »wer bin ich« sagte. Bärtige Lippen knabberten an dem Kirschenpärchen, das sie sich ans linke Ohr gehängt hatte.

»Wie hast du mich gefunden, Tribolo?« stöhnte sie.

»Immer den alten Düften nach.«

»Welchen?«

»Weihrauch und Myrrhen«, sagte er.

Selvaggia verstand ihn nicht. Mit aller Kraft versuchte sie, die unerbittlichen Finger von ihrer Stirn zu lösen. Doch sobald sie einen besiegt glaubte und zum nächsten übergehen wollte, ließ Tribolo den ersten wieder zurückschnellen. Endlich, als sie den Tränen nahe war, gab er sie frei, aber nur »gegen eine Kirsche und zwei Küsse«. Selvaggia hätte ihm beides freiwillig geschenkt; wenn er sie nicht gerade festhielt, was sie sich von niemandem gern gefallen ließ, mochte sie den Bruder, der schon ein Mann war und es trotzdem so einrichtete, sie, die Kleinste der Familie, vor allen anderen zu begrüßen. Ob er von weither kam? Sie hatte ihn lange nicht gesehen, und obwohl sie seitdem gewachsen sein mußte, schien er ihr noch größer als beim letzten Mal. Und wie stark seine Arme waren, mindestens so stark wie Gaburros, und wie breit seine Brust unter dem braunen Samt, wie tief seine Stimme! Die zweifarbigen Strumpfhosenbeine spannten sich über den Wadenmuskeln, als er jetzt federnd aufsprang, um Johannisbeeren zu pflücken und gierig wie ein Heißhungriger in seinen Mund zu stopfen. Nach einer Weile boten seine safttriefenden Lippen auch Selvaggia welche an. »Pick sie mit deinem Schnabel auf, Vögelchen«, nuschelte er. »Ohne dir die Finger schmutzig zu machen.«

Selvaggia fand nur wenig Gefallen an dem Spiel. »Du riechst nach Rotwein«, sagte sie und verschmähte die Beeren. Sie hatte heute schon genug davon genascht.

»Kein Weg der Welt hat die Wirtshäuser nötiger als der von Prato nach Florenz«, behauptete Tribolo. »Und warum? Weil Prato eine Stadt der Lumpensammler ist, reicher Lumpensammler wohlgemerkt, deren Hände schon deformiert sind vom ewigen Sortieren der Stoffe. In keiner Stadt Italiens traf ich so viele häßliche Menschen.«

Selvaggia ahnte, warum er das sagte. »Und darum mußtest du in all diese Wirtshäuser gehen?«

Gewiß war ihm der Wein zu Kopf gestiegen und auch die Hitze. Verstohlen musterte sie des Bruders schweißfeuchtes Gesicht, das so rot war wie sein Bart, und seine wäßrigen Augen, deren Lider immer entzündet schienen. Seine Haare klebten ihm am Kopf wie nach einem Regenguß, und im Ohrläppchen glänzte eine weiße Perle, die Selvaggia noch nie dort gesehen hatte.

Die Perle habe er im Wirtshaus gewonnen, erzählte er, beim Glücksspiel mit einem venezianischen Seefahrer. Eben dieser Venezianer habe ihn auf die Idee gebracht, auf der Stelle nach Ranunculo zu reiten, um seine Lieblingsschwester zu besuchen. Sie werde gleich verstehen, warum. Und Selvaggia erfuhr, nun auf Tribolos Schoß sitzend, erstaunliche Geschichten aus dem Leben dieses Seefahrers, der auf seinen Reisen bis zum asiatischen Kontinent gekommen war, wo er die eigentümlichsten Bräuche kennengelernt hatte.

»Denk dir nur«, erzählte Tribolo, »in einem dieser fernöstlichen Länder werden lebende Göttinnen verehrt, das sind kleine Mädchen in deinem Alter, die sich durch Schönheit und vollkommene Furchtlosigkeit auszeichnen.«

Da sei Tribolo hellhörig geworden und habe sogleich eine hohe Summe gewettet, dem Venezianer solch eine Göttin nicht nur hier in Italien, sondern sogar bei ihm in der eigenen Familie zeigen zu können. An wen er dabei gedacht habe? An die allerschönste seiner Schwestern natürlich. Sie werde ihm zuliebe doch mitspielen! Ein paar Tage gemeinsamer Vorbereitung, und der Venezianer müsse sich überzeugen, daß man ihm nicht zuviel versprochen hatte, und Tribolo die Summe zahlen, die ihn endlich mal wieder von seinen Geldsorgen befreite.

»Wird es weh tun?« fragte Selvaggia mit zitternder Stimme.

Aber Tribolo legte seine starken Arme um sie und wiegte sie wie ein Wickelkind. »Beschädigen will ich dich nicht«, beruhigte er sie, »nur abhärten fürs Leben. Du wirst kein einziges Blutströpfchen verlieren. Eine Jungfrau, die blutet, darf nämlich keine lebende Göttin mehr sein. Aber es muß ein Geheimnis bleiben. Niemand außer dir und mir und am Ende der Venezianer darf davon erfahren.«

»Dann ist es unmöglich«, sagte Selvaggia erleichtert und erzählte von Mimmo, mit dem sie täglich zusammen sei und vor dem sie nie etwas geheimhalte.

Der Bruder, der bisher wie mit Engelszungen geredet hatte, war auf einmal ganz still geworden, unheimlich still. Schweigend holte er ein zerknittertes Seidentuch aus seinem Jackenärmel, um sein Gesicht zu trocknen und sich Luft zuzufächeln. Als er Selvaggia wieder ansah, erschien er ihr wie jemand, der nur mal eben seine Maske gewechselt hatte. Die Gaukler auf den Märkten machten das so. Seine buschigen Augenbrauen hatten sich zu einem waagerechten Balken zusammengezogen, der wasserblaue Blick war zu Eis gefroren, und die klaffenden Lippen, dunkelrot vom Fleisch der Beeren, legten die spitzen Zähne bloß. Mühsam fand er zur Sprache zurück, entsann sich dann aber der schlimmsten Flüche, die seine Schwester je gehört hatte, und alle meinten sie den Knirps Mimmo.

Ein Bauernbastard sollte er sein, weniger wert als der Staub unter Selvaggias Fußsohlen, ein unverschämter Schmarotzer, den man in seine Schranken weisen müsse, ein Schwachkopf mit schmuddeligen Gedanken und noch schmutzigeren Gewohnheiten.

»Und mit diesem primitiven Hosenscheißer willst du deine Geheimnisse teilen?« rief Tribolo ganz außer sich. Mit rasenden Stiefelspitzen drosch er auf die Maueridylle ein. Was so viele Jahre ungestört gewachsen war, er vernichtete es für immer. »Am Ende schaut ihr euch noch beim Pissen zu!« schnaubte er.

Selvaggia lachte. Es stimmte, aber man sagte so etwas nicht.

»Ab sofort hört das auf, ich erlaube es nicht!«

Wie kalt jetzt seine Stimme klang! Bruder Leichtfuß, der Spaßvogel, der Schmeichler, war in eine andere Rolle geschlüpft. Im Augenblick zog er es vor, den Erwachsenen zu spielen, der nach Herzenslust befehlen und verbieten durfte und am Ende noch überwachen würde, ob auch geschah, was er sich in den Kopf gesetzt hatte. Alles in Selvaggia sträubte sich dagegen, zugleich wußte sie, daß sie der Gewalt seiner Worte jetzt noch nicht gewachsen war. Um Zeit zu gewinnen, schlang sie die Arme um Tribolos Hals, rieb ihre Wange an der Seidenbürste seines Bartes und ließ seine gespaltene Zungenspitze um ihre Zeigefingerkuppe kreisen, bevor sie ihm auch ihr zweites Ohrkirschenpärchen als Opfergabe zwischen die Zähne schob. Dann schlug sie vor, daß sie sich, um allen Fragen zu entgehen, mit Mimmo treffen würde wie bisher, aber weder etwas Unanständiges mit ihm tun noch das Geheimnis der lebenden Göttin verraten werde. Daß sie außerdem Camilla bitten wolle, täglich mit dem Bruder ausreiten zu dürfen, um ihre Haltung im Sattel zu verbessern. Ihre Eltern seien seit kurzem ganz versessen darauf, sie recht viel lernen zu lassen, da wäre ihnen Tribolo als Reitlehrer gewiß willkommen. Für die Lektionen, die sie zur lebenden Göttin brauchte, bliebe dann noch Zeit genug.

Äußerst gespannt, aber mit gesenktem Kopf, damit er es ihr nicht anmerkte, wartete sie auf den Erfolg ihrer Worte. Und wahrhaftig, Tribolo schien sich geschmeichelt zu fühlen; jedenfalls lachte er leise und hatte wieder Samt in der Stimme.

»Was bist du doch für eine kleine Circe!« rief er. »Du und ich, wir sind einander ebenbürtig, ich hab’s mir von Anfang an gedacht! Schon in deinem zweiten Sommer hier in Ranunculo, du fingst gerade an zu laufen, hast du mir deine Gefolgschaft versprochen, und weißt du auch, wie?«

Selvaggia schüttelte den Kopf, sie erinnerte sich nicht.

»Du hast breitbeinig auf der Wiese gesessen und dir einen Grashüpfer in den Mund gesteckt. Als du mich sahst ...« – ein Schatten, zwei Hände, eine Stimme, dachte Selvaggia –, »hast du gelächelt und freudig genickt, wie man einem Komplizen zunickt. Seither gehe ich davon aus, daß du mir niemals etwas abschlagen wirst.«

Selvaggia sagte nichts. Er irrte in beiden Punkten. Einer wie ihr Freund Mimmo würde Grashüpfer lutschen, sie nicht. Und obwohl sie nicht genau wußte, was das heißen sollte, wollte sie niemandes Komplize sein. Allein dieses Wort, und wie der Bruder es aussprach, gefiel ihr nicht. Und warum hatte er die wunderschöne Mauerlandschaft nicht in Ruhe gelassen, wenn sie beide soviel miteinander verband? Jetzt hatte er diesen Platz ebenso entweiht wie im vergangenen Sommer das Labyrinth. Noch ehe Tribolo begriff, was in sie gefahren war, sprang Selvaggia auf und lief, so schnell sie konnte, aus ihrem versunkenen Garten hinaus in die oberen Anlagen. »Besuch! Wir haben Besuch!« rief sie mehrmals hintereinander. Nun mußte der Bruder sich auch den anderen zeigen, ob es ihm paßte oder nicht.

Camilla ließ sich erstaunlich leicht für die gewünschten Reitstunden gewinnen. Obwohl sie ihren Adoptivsohn für einen leichtfertigen, unzuverlässigen, ja bisweilen sogar verantwortungslosen Menschen hielt, erschien ihr sein Umgang mit Selvaggia zur Zeit als das kleinere Übel. In all den Jahren war ihr nicht entgangen, mit welch inniger Liebe auch er an der jüngsten Schwester hing, und er kam ihr gerade wie gerufen, sie wenigstens für zwei, drei Stunden am Tag von Mimmo fernzuhalten. Überdies würde er ihre bescheidenen Reitkünste fördern, worauf Giovanni so großen Wert legte, daß er ihr schon vor einiger Zeit ein eigenes Pferdchen versprochen hatte, sobald sie ernsthaft den Wunsch äußerte. Gleich am nächsten Tag konnte Faustina in der Nachbarschaft ein Pony auftreiben, das für den Rest des Sommers der Salvestrini-Tochter gehören sollte. Nachdem Selvaggia sich überzeugt hatte, daß es weder zu groß noch zu klein für sie war, gab sie ihm einen Kuß auf die Nüstern und taufte es – wegen seiner dunklen Rosinenaugen – auf den Namen Zibibbo. Mimmo würde staunen, wenn er es am Nachmittag zu sehen bekäme. Sie hatte nämlich Tribolo, den notorischen Langschläfer, überredet, immer schon vor Sonnenaufgang auszureiten, wenn Felder und Wiesen taufrisch waren und über den Hügelketten noch der Silberglanz vergangener Nachtstunden lag. In der Frühe fand sie es draußen besonders schön, und sie mußte Mimmo nicht so lange warten lassen.

»Mädchen, die gut im Sattel sitzen, werden einmal brauchbare Geliebte«, verkündete Tribolo beim ersten Morgenritt in bester Laune. »Reiten treibt das Blut, wie du bald merken wirst; darum sind die meisten jungen Damen ganz versessen darauf.«

Auch er sprach mit Selvaggia wie mit einer Erwachsenen, nur gab es für ihn keine Tabuthemen, die er vermied. Das Wort »Geliebte« gefiel Selvaggia sehr; sie hörte es zum ersten mal und nahm an, daß es etwas mit der lebenden Göttin zu tun hatte, die sie spielen sollte. Dem Bruder zuliebe wollte sie sich bemühen, beides zu werden, jedes zu seiner Zeit. Und Giovannis Geliebte würde sie gewiß auch, wenn sie nur erst so gut, wie er es wünschte, mit Pferden umgehen konnte.

»Aber ich reite gar nicht besonders gern«, wandte sie ein. »Ich kann die Steigbügel nicht leiden.«

»Dann laß sie doch weg!«

Tribolo erlaubte ihr, die nackten Beine, die sie mit den Steigbügeln auch gleich von den Stiefeln befreite, über den Sattelbogen baumeln zu lassen und sich ganz Zibibbos Bewegungen anzupassen. Nun fühlte sie sich fast so beschwingt wie auf der Rebenschaukel.

Obwohl sie dem Bruder gern alles recht machen wollte, damit er ihr die Nachmittagsstunden mit Mimmo nicht vergällte, fürchtete sie doch schon nach drei Tagen, eher zur Geliebten als zur Göttin zu taugen, wenn überhaupt, denn je mehr sie den Ausritt zum Monte Novello zu genießen begann, desto weniger gefielen ihr die anschließenden Übungen. Auch den dafür ausgewählten Platz auf dem Gipfel des Berges, wo in einer Felsengrotte Quellen entsprangen, die so heilig waren, daß es ringsum weder lästige Insekten noch Giftschlangen geben sollte, mochte sie nicht. Auf einem Plateau unterhalb der Grotte, zwischen alten Eichen und Kastanien, standen zwei gewaltige Steinblöcke übereinander, und niemand wußte, wie sie dorthin gekommen waren. Sie sahen unheimlich aus, als hätte ein Riese aus Liciscas Märchen sie dort aufgebaut, fand Selvaggia, Tribolo aber nannte sie die »Opferstätte eines Urvolkes, wie geschaffen für das, was wir vorhaben«.

Es ging darum, daß die zukünftige Göttin Schmerzen zu ertragen lernte und furchtlos wurde, »denn alles, was geschieht, geschieht aus Angst vor Schmerz«, sagte Tribolo. Mit einem Bad im eiskalten Quellwasser begann die erste Lektion. Selvaggia sollte unbekleidet im steinigen Grottenbecken sitzenbleiben, bis ihre Glieder gefühllos geworden waren und die Zähne vor Kälte aufeinanderschlugen. Das aber durfte sie nicht zeigen. Ihr Gesicht mußte unbewegt erscheinen wie eine Maske, und Zittern war verboten. Würde sie das schaffen? Sie spürte Tribolos mitleidigen Blick auf ihrer verfrorenen Haut, hörte den Zweifel in seiner Stimme. Selvaggia nickte, noch war ihr das Lächeln nicht vergangen. Hatte sie es nicht längst gelernt, ihren Körper zu vergessen? All die einsamen Spiele in Spiralen und Labyrinthen waren doch mehr gewesen als ein bloßer Zeitvertreib. Was hatte sie nicht alles ausprobiert! Obwohl sie sich jetzt am liebsten warm geschnattert hätte, zwang sie sich, im Wasser besonders langsam zu atmen. Dabei stellte sie sich in ihrem Bauch eine Sonne vor, die durch den Nabel heiße Strahlen über die Haut sandte, so viele sie brauchte. Auf diese Weise gelang es ihr, der Kälte standzuhalten, ohne zu erschauern oder auch nur blaue Lippen zu bekommen. Tribolo triumphierte, die Wasserprobe hielt er bereits für bestanden. Als er sie endlich abtrocknete und ihren Körper gründlicher, als ihr angenehm war, auf die zweiunddreißig göttlichen Merkmale überprüfte, die er, von der sanften Wölbung der Stirn bis zum klassischen Maß der Zehen, allesamt bestätigt fand, erfuhr er zum ersten mal von der Existenz des sternenförmigen Zeichens zwischen ihren Schulterblättern.

»Es ist eine Rarität«, urteilte Tribolo, nachdem er es gestreichelt und geküßt hatte, »obwohl ein unverständiger Mensch es für einen Schönheitsfehler halten könnte, wenn auch für deinen einzigen. Wie auch immer. Da wir es wegen des Bades im Eiswasser nicht überschminken können, werden wir es dem Venezianer als eine Tätowierung des Himmels verkaufen, einen Beweis deiner Unsterblichkeit.«

Schlimmer als die Wasserprobe fand Selvaggia andere Strapazen, etwa das Thronen in einem Brennesselbett auf den Opfersteinen oder das Laufen über eben erst verglühte Kohlen mit bloßen Fußsohlen, die hinterher so verbrannt rochen, daß es kaum zu ertragen war. Alles, was mit Feuer zu tun hatte, regte sie auf. Auch ließ sie sich nicht gerne an Baumstämme fesseln und von oben bis unten mit Pfauenfedern kitzeln oder gar ihre Finger in Holzschrauben einklemmen, die sonst zum Nüsseöffnen gebraucht wurden. Trotzdem konnte sie ihre Lachlust zügeln, und wenn man sie zu Tode kitzelte, und ihre Schreie ließen sich unterdrücken, bis sie einen Schluckauf bekam.

Er ist wirklich ein Tribolo, dachte sie, wenn sie den Bruder ansah, der sie quälte. Wo war ihr dieser Gesichtsausdruck schon einmal begegnet, diese Mischung aus Gefühlen, die sie immer noch nicht kannte? Es mußte im Traum gewesen sein ... oder, nein, in Florenz, als sie mit ihrem Vater durch die Gassen des Färberviertels geritten war. Er hatte einen scharlachroten Mantel angehabt, ihr Vater, und sie hatte sich so gut aufgehoben gefühlt ...

Jedesmal, wenn ihr die Sinne schwinden wollten, holte Tribolo sie in die Welt der Schmerzen zurück, die sie nicht zulassen durfte. Mit Tränen in den Augen bat er sie dann um Verzeihung und bot an, lieber den finanziellen Ruin in Kauf zu nehmen, als sie noch länger auf den Besuch des Venezianers vorzubereiten. Aber Selvaggia tat weiter, was er sich gedacht hatte, jetzt erst recht. Sie versuchte heimlich, einen Tag ohne Nahrung und Wasser auszukommen, eine Nacht ohne Schlaf, und erschrak schon beim zweitenmal nicht mehr allzusehr vor Spinnen und Ratten, die plötzlich auf sie losgelassen wurden. Um Wiederholungen zu vermeiden, zeigte sie auch keinen Ekel bei der Opferung einer Taube, obwohl ihr allein vom Anblick des geköpften Tieres und vom Geruch des frischen Blutes speiübel wurde. Solange Tribolo das schreckliche Handwerk besorgte, mußte sie es wohl geschehen lassen. Niemals aber, das schwor sie ihm, würde sie selbst töten. Wenn er das von ihr verlangte, müßte er seine Wette jetzt schon verloren geben.

Mimmo kannte seine Spielkameradin kaum wieder. Jeden Nachmittag kam sie zu einem ihrer gemeinsamen Lieblingsplätze, war zu sehen, zu hören und sogar anzufassen und war doch ganz woanders. Ob sie ihm zulächelte, mit ihm redete oder schwieg, sie meinte ihn nicht. Mimmo las es in ihren Augen, die an ihm vorbeischauten, er hörte es an ihrer Stimme, die teilnahmslos klang, ganz gleich, worüber sie sprach. Keines der Spiele, die Selvaggia sonst so entzückt hatten, schien ihr noch Spaß zu machen, und sie schlug auch kein neues mehr vor. Konnte sie früher gar nicht oft genug die Wege rauf- und runterrennen, ließ sie sich nun immer schon nach ein paar Schritten gähnend ins Gras fallen, um, die Arme unter dem Kopf verschränkt, wortlos in die Wolken zu starren. Und wehe, wenn Mimmo ihr zu nahe kam, sie mit einem Grashalm im Nacken kitzelte oder ihr ein Käferchen aus dem Haar klaubte! Sofort fuhr sie ihn an, was ihm einfiele, und einmal schlug sie ihm sogar mit ihrer Reitgerte auf die Finger.

Auch Licisca wunderte sich über Selvaggias Mattigkeit und mangelnden Appetit. Von heute auf morgen konnte man sie weder mit Kohl noch Polenta erfreuen. Das Mädchen würde wohl eine Kinderkrankheit ausbrüten, befürchtete Licisca, so etwas aber konnten Gaburros Söhne sich nicht leisten. Sie empfahl Mimmo, sich in acht zu nehmen, und erinnerte ihn daran, daß er überdies ja nur der Sohn eines Pächters sei, mit dem eine aus der Villa ganz nach Lust und Laune umspringen könne.

»Selvaggia hat keine Launen«, verteidigte Mimmo seine Freundin. »Sie hat Zibibbo, das Pony, seitdem ist sie immer so lahm.«

»Ach so, dann bekommt sie vielleicht Muskelkater vom Reiten, das geht vorüber«, tröstete Licisca ihren Sohn. Stadtkinder waren nun einmal nicht so robust wie Bauernkinder, die ihre Muskeln täglich strapazieren mußten.

Doch Selvaggia blieb fremd. Manches Mal sah sie Mimmo an, als wollte sie ihm etwas Wichtiges mitteilen. Sie hob ihre schmale Hand und ließ sie wieder sinken. Sie starrte auf ihre gespreizten Finger, sagte aber kein Wort.

»Was siehst du da?« fragte Mimmo mehrmals hintereinander.

Als sie ihr Schweigen brach und endlich zu sprechen begann, war es auch nicht das, was er erwartet hatte.

»Meine Hand wäre ein Land«, sagte sie. »Die Knöchel sind Berge, die blauen Adern Flüsse, und unten zwischen den Fingern liegen die Orte der Menschen. Die Menschen rennen hin und her wie Ameisen. Solange ich die Hand stillhalte, dürfen sie lebendig bleiben. Wenn ich sie bewege, werden alle vernichtet. Wenn ich klatsche ...« – sie drehte ihre Hand und ließ die eine in die andere fallen –, »geht die Welt unter.«

»Ein blödes Spiel«, fand Mimmo. »Du bist doch nicht der liebe Gott!«

Er wartete noch ein paar Tage, da sich aber nichts änderte, beschloß er, daß Mädchen langweilig waren, und ging wieder freiwillig mit seinen Brüdern aufs Feld. Licisca ließ ihn gewähren; seitdem Camillas Unterricht im Lesen und Schreiben durch Reitstunden mit dem jungen Salvestrini ersetzt worden war, den sie nur von weitem kannte, hatte ihr Sohn in der Villa nicht mehr viel verloren.

Auch Camilla und Faustina war aufgefallen, daß Selvaggia nicht mehr so blühend aussah wie noch vor ganz kurzer Zeit, und jede reagierte auf ihre Weise. Das Kind wird wachsen, sagte sich Camilla. Erst kürzlich hatte Giovanni, der sich nur allzu gerne mit immer neuen Theorien beschäftigte, ihr erklärt, daß er aufgrund seiner Studien nun sicher sei, die Entwicklung des menschlichen Individuums verlaufe stets in Siebenjahreszyklen. In seiner eigenen Biographie und – dank der Familienchronik – in der seiner Kinder habe er dies bestätigt gefunden.

Demnach, sagte sich Camilla, hätte Selvaggia gerade eben einen Wendepunkt erreicht, der ihre Veränderung erklärte. Abgesehen davon war dies der erste Sommer in Ranunculo ohne ihre Schwestern. Caterina, an der sie besonders gehangen hatte, lebte seit fast drei Jahren im Kloster, und Giovanna leistete Tobia Gesellschaft, die in Mailand, ein knappes Jahr nach der jüngsten Pestepidemie, ihr zweites Kind erwartete. Auch Camilla vermißte ihre Töchter und mehr noch ihren Mann, der in diesem Jahr so selten aus Florenz herauskam. Nur Selvaggia zuliebe blieb sie noch hier und tat ihr womöglich gar keinen Gefallen damit.

Ganz anders beurteilte Faustina die plötzliche Schwäche ihres Lieblings. Für sie gab es nur einen Grund: Tribolo. Erst seitdem der in Ranunculo aufgekreuzt sei, meinte sie, stimme etwas nicht mehr. Das wundere sie auch gar nicht, von diesem Menschen sei ja wohl, solange er lebe, etwas Beunruhigendes ausgegangen. Schon an seinem roten Bart erkenne man übrigens sein Barbarentum, denn Ehrenmänner, so wußte Faustina, zeigten sich heutzutage glattrasiert. Die wilden Spiele mit Mimmo hielt sie dagegen für harmlos. »Unschuldige kleine Kinder können einander keinen Schaden zufügen«, sagte sie. »Doch wer weiß, was dieser Schwerenöter unserem Engel alles beibringen will.« Sie schlug vor, Selvaggia mit einem Amulett des heiligen Bernhardino oder doch wenigstens mit einem Edelstein, und zwar einem Türkis, zu schützen, wenn dieser Mensch noch lange zu bleiben beabsichtige. Camilla dachte an Faustinas Taufkissen, das sich trotz des heiligen Sonnenemblems nach einem Jahr einfach in Nichts aufgelöst hatte, und band ihrer Tochter eine Lederschnur mit einem kleinen Türkis aus dem Familienschmuck um den Hals. Außerdem bestand sie darauf, daß die ermüdenden Reitstunden nur noch jeden zweiten Tag stattfanden.

Selvaggia gähnte, und Tribolo verzog keine Miene; beide warteten nur noch auf die kurz bevorstehende Vollmondnacht, zu der jener Venezianer in Ranunculo auftauchen sollte, um seine Wette zu verlieren.

Drei Tage vor dem errechneten Termin trat Selvaggia sich eine Tonscherbe in den Fuß. Obwohl sie sich von Faustina gleich Umschläge mit Eiweiß und blutstillenden Blättern machen ließ, konnte sie keine zehn Schritte mehr tun, ohne zu humpeln. Die Wunde war tief und schmerzte sogar, wenn Selvaggia sich nicht bewegte. Sie wagte es kaum, ihrem Bruder unter die Augen zu treten. Hatte er ihr nicht zu Anfang gesagt, ein Mädchen, das blute, komme als lebende Göttin nicht mehr in Betracht? Was würde er jetzt tun?

Wider Erwarten nahm Tribolo den Zwischenfall ganz gelassen auf.

»Es gibt unreineres Blut, mein Schäfchen«, tröstete er die Weinende. »Blut, das ein für allemal Grenzen zieht. Dieses hier wird rechtzeitig zu fließen aufhören. Der Venezianer wird nichts davon merken.«

Am Tage der Vollmondnacht ritten sie nicht mehr zum Monte Novello. Selvaggia mußte ihren Fuß schonen, und Tribolo erschien es klüger, ein wenig mit Camilla zu plaudern, die sich mit ihrer Tochter zwischen zwei Walnußbäumen unweit des blauen Brunnenbeckens in einer Hängematte wiegte. Sie wußte noch gar nichts von dem Gast, der ihr im Laufe des Tages ins Haus stand. Tribolo wollte möglichst beiläufig darauf zu sprechen kommen und begann mit der ausführlichen Schilderung seiner Reisen, die er neuerdings auf Wunsch von Lorenzo de’ Medici, dem Fürsten und Mäzen, unternehme, um in den Ateliers aller Maler der Region nach bedeutenden Werken zu suchen.

»Hast du schon davon gehört?«

Camilla nickte mit geschlossenen Augen. So brauchte sie den selbstgefälligen Ausdruck, den sie jetzt in Tribolos Zügen vermutete, nicht anzusehen. Sie wußte es von Giovanni. Er hatte den wieder einmal nach neuer Beschäftigung suchenden Jüngling vor Monaten mit Seidenstoffmustern zu Lucrezia de’ Medici geschickt, und dieser war zur Überraschung aller mit einem Auftrag ihres Sohnes Lorenzo, sich in der Kunstszene für ihn umzusehen, zurückgekommen, obwohl er sich in der Materie kaum auskannte. Schon möglich, daß er seitdem viel erlebt hatte.

Wie immer bekam alles, was Tribolo erzählte, etwas Anekdotenhaftes, denn auch auf diesem Gebiet hatte er sich eine Zeitlang für Freunde und Gönner, sprich Geldgeber, als Sammler betätigt. Man wußte nie, ob er von Menschen sprach oder von Karikaturen. Den Damen zuliebe lobte er jetzt eine »der wenigen qualifizierten Künstlerinnen«, die er besucht hatte, »eine verliebte Bildhauerin in Bologna, der alles glückte, mit Ausnahme ihrer unglückseligen Liebe«. So sollte es ihr gelungen sein, »die ganze Passion Christi – das heißt sechzig Köpfe – in einen winzigen Pfirsichkern zu schnitzen«.

Während Camilla sich noch vorzustellen versuchte, wie so etwas nur möglich wäre, und Faustina, die ihnen gerade eine Schale mit frischen Birnen und Feigen servierte, dies kurzerhand als »Märchen aus Lügien und Trügien« abtat, hatte Tribolo bereits die Überleitung zum anreisenden Venezianer gefunden, die er, wie er meinte, ganz nach Camillas Geschmack mit einer blumigen Beschreibung der Geburtsstadt des Seefahrers beginnen wollte. Er rühmte beredt die »Anmut der lichten, heiteren Paläste an Venedigs Kanälen – welch wohltuender Kontrast zu den schroffen Stirnen der florentinischen –« und verglich sie, nicht ohne seiner Pflegemutter dabei vielsagend zuzuzwinkern, mit »schönen Frauen, die sich immerfort im Wasser spiegeln und darum bangen, ob man ihnen ihr Alter wohl ansieht«.

Von jedem anderen hätte Camilla sich bei dieser Bemerkung durchschaut, wenn nicht sogar verstanden gefühlt, und es hätte sie amüsiert oder gerührt, hinter Tribolos Worten aber spürte sie eine Absicht, die sie zutiefst verstimmte, und als er endlich auf den Venezianer zu sprechen kam, den er eigenmächtig nach Ranunculo eingeladen hatte, konnte sie ihre Gereiztheit kaum noch verbergen. Sie haßte es, auf solche Weise überrascht zu werden. Wenn sie schon trotz ihres schlechten Gewissens den Sommer auf dem Lande vertun mußte, dann wollte auch sie sich treiben lassen, nicht aber weitere Pflichten übernehmen, die sie sich nicht einmal ausgesucht hatte. Und wer wußte schon, wen dieser Sohn, der in Spielhöllen und Spelunken verkehrte, ihr da ins Haus brachte, zu einer Zeit, zu der sie männlichen Schutz ohnehin entbehren mußte. Widerwillig verzog sie sich in die Küche, um mit Faustina die nötigen Vorbereitungen zu treffen.

Selvaggia, die bis zuletzt gehofft hatte, ihre Mutter könnte den Besuch vielleicht doch noch abwenden, blieb allein in der Hängematte zurück und stellte sich schlafend, damit der Bruder ihren Schrecken nicht bemerkte. Je näher die Stunde der Prüfung rückte, desto beklommener wurde ihr. Sich für Tribolo auf scheußliche Mutproben vorzubereiten, war eine Sache, sie vor dem Unbekannten nun auch zu bestehen, eine andere. Vieles von dem, was der Bruder von ihr verlangte, hatte sie Überwindung gekostet, sich vor fremden Augen zur Schau zu stellen, würde eine Strafe sein. Sie war für solche Spiele nicht geschaffen, auch ohne Humpelfuß nicht, und er wußte es ebensogut wie sie. Wenn er nur nicht diese hohe Summe für sie eingesetzt hätte, die er so brauchte! Trotz ihrer geschlossenen Lider spürte sie seinen streunenden, verlorenen Blick auf ihrem Gesicht, den er manchmal annahm, wenn er sich unbeobachtet glaubte, und fühlte sich jetzt schon gelähmt von seiner Erwartung.

Er dagegen begann am späten Nachmittag, in den Gartenanlagen auf und ab zu rennen wie ein gefangenes Tier. Und am Abend – »wenn der Sonnengott seine Stiefel angezogen hat«, sagte Faustina immer, und Selvaggia wartete gewöhnlich voller Vergnügen darauf, es endlich zu hören –, am Abend fing Tribolo schon vor dem Essen, das Camilla für den verspäteten Gast aus Venedig noch um zwei Stunden verschieben ließ, mit dem Weintrinken an, und auch während des Essens, das niemandem schmeckte, obwohl es vorzüglich war, schüttete er ein Glas Roten nach dem anderen hinunter, bis alle zu Bett gingen. Sobald es im Haus ganz ruhig geworden war, stand Selvaggia wieder auf und lief zur Loggia hinaus, um in die Dunkelheit zu lauschen, ob da nicht doch noch Pferdehufe zu hören waren, die näher kamen und immer näher. Doch außer den fremdartigen Schreien der Nachtvögel und dem Wind, der sachte in den Bäumen blätterte, gab es keine Geräusche. Die Nacht blieb ihre Verbündete. Selvaggia sah den gelben Vollmond durch das Filigran des Weinlaubs scheinen und beschwor ihn, bald abzunehmen und, solange sie auf dem Lande waren, nicht wiederzukommen, damit auch der Venezianer blieb, wo er war. Ganz allein hielt sie draußen Wache bis zum Morgengrauen; erst als sie Faustina in ihrer Kammer rumoren hörte, legte sie sich erleichtert schlafen.

Tribolo sah sie erst zum Mittagessen wieder, seine Augen waren rotumrändert und das Gesicht wieder so aufgedunsen wie bei seiner Ankunft. Er entschuldigte sich bei Camilla für die Umstände, die er ihr gemacht hatte, zumal sie leider umsonst gewesen waren, und zeigte sich entschlossen, Ranunculo und seine Bewohner jetzt gleich zu verlassen. Er lachte besonders viel und laut und schien sich keinerlei Sorgen zu machen. »Ich muß nämlich«, hier hob er Selvaggia in die Höhe und schwenkte sie dreimal durch die Luft, »zum verrücktesten Maler der Toskana. Er heißt, wie er ist: Ghiribizzo. – Wenn der Venezianer noch kommt, zeigst du’s ihm allein«, flüsterte er der kleinen Schwester ins Ohr, bevor er sie wieder zu Boden ließ. »Es geht um hundert Florin.«

Flugs war er fort, und Selvaggia fühlte weder Erleichterung noch Bedauern. Alle übrigen Spätsommertage wartete sie darauf, daß dieser Seefahrer aus Venedig, den sie sich von Nacht zu Nacht furchterregender und gewalttätiger vorstellte, noch käme und daß sie ihm zu Willen sein müßte. Aber er kam nicht.

Labyrinth der unerhörten Liebe

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