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Mai 1844
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1. Mittags sind wir in den Kaisergarten (= Harrachischer Garten, siehe auch Eintragung vom 28. April) gegangen. Um ½ 4 Uhr Nachmittags haben wir im Prater mit dem Prinzen Nassau, mit der Mama, mit dem Papa und mit noch mehreren Anderen gespeist. Wir haben den neuen Wagen Sandor’s gesehen; er ist sehr lächerlich. Dann haben wir viele Jokeys gesehen, und auch noch viele andere Wägen, es war recht hübsch, aber sehr kalt. Heute Abends war ich allein.
Das mittägliche Zusammensein im Prater vereinte einen Großteil der in Wien lebenden Habsburger sowie etliche Mitglieder anderer Fürstenfamilien. Der elfjährige Carl Ludwig hatte noch einen Prinzen von Nassau wahrgenommen. Vermutlich handelte es sich bei ihm um den in österreichischen Diensten stehenden Prinzen Moritz Nassau, dem Bruder des späteren Großherzogs Adolf von Luxemburg. Selbstverständlich gehörte auch er ›zur Familie‹. Denn der mittlerweile verwitwete Erzherzog Carl, der Bezwinger Napoleons, war mit Prinzessin Henriette von Nassau-Weilburg verheiratet gewesen, die eine direkte Tante von Moritz war.
Mit ›Sándor‹ ist Moritz Graf Sándor von Szlawnicza gemeint, der durch seine Ehe mit Prinzessin Leontine Metternich Schwiegersohn des Staatskanzlers war. Er galt als einer der wagemutigsten Reiter seiner Zeit, verfügte aber auch über etliche Marotten, zu denen das alljährliche Vorführen eines neuen Wagens gehörte. Die Bemerkung, man habe ›den neuen Wagen Sandor’s gesehen; er ist sehr lächerlich‹, entstammte sicher einem Erwachsenenmund, die der selten kritisierende Junge hier übernahm. Obwohl Graf Sándor tatsächlich von der Wiener Gesellschaft belächelt wurde – er hatte von etlichen Stürzen Kopfverletzungen davongetragen, wodurch er absonderlich wurde –, hielt gerade die kaiserliche Familie treu zu ihm. Als er 1850 bei einem Unfall mit dem Hinterkopf an ein eisernes Gitter geschleudert wurde, litt er in der Folge unter Wahnsinnsanfällen. Er verbrachte eineinhalb Jahre in einer Nervenheilanstalt und war in der Folge nur noch bedingt gesellschaftsfähig, wie man den Memoiren seiner Tochter Pauline (verehelichte Fürstin Metternich) entnehmen kann: »… wer nur einige Worte mit ihm wechselte, merkte nichts von seinem traurigen Zustande. Bei einem längeren Gespräche fielen die Wiederholungen alter Geschichten auf … Der Kaiser und der gesamte kaiserliche Hof haben die treu dynastische Haltung meines Vaters nie vergessen. Insbesonders ließen die Frau Erzherzogin Sophie und Erzherzog Franz Carl keine Gelegenheit vorübergehen, ohne ihn, trotz seines Zustandes, zu sich zu rufen, so zwar, daß, wenn er im Sommer nach Ischl kam, er immer gleich zur Hoftafel geladen wurde … Erzherzogin Sophie (richtete es) dann immer so ein, daß kein Fremder an diesem Tage mit zur Hoftafel gezogen wurde, damit er, wie sie so liebevoll sich äußerte, ›die Freude haben möge, seine alten Geschichten ungestört erzählen zu können‹.« (Metternich, S. 53)
Donnerstag
2. Heute sind wir Mittags auf der Bastei und auf dem Glacis (eine der Bastei vorgelagerte, breite, unbebaute Fläche, die die Innere Stadt von den Vorstädten trennte) gegangen. Heute Nachmittags sind wir mit der Mama zum Wassertreter gegangen; es war ziemlich hübsch. Heute war die Großmama mit der Amie bei uns.
Der erste gemeinsame Ausgang mit der Mutter ›zum Wassertreter‹ hatte sicherlich einen medizinischen Hintergrund. Daß Erzherzog Carl Ludwig die Räume dort ›ziemlich hübsch‹ fand, mag entweder mit der ungewöhnlichen Einrichtung zusammenhängen, eher aber mit seiner glücklichen Stimmung: Er durfte nach etlichen Wochen der Entbehrung endlich wieder mit der geliebten Mutter ausgehen. An den Abenden wurde die strenge Trennung (in geschlossenen Räumen) aber weiter aufrechterhalten.
Seit 1. Mai waren zumindest gemeinsame Ausgänge erlaubt, weshalb in den Eintragungen der folgenden Tage von Spaziergängen mit den Eltern zu lesen ist. Außerdem wird eine neuerliche Besserung im Befinden des Bruders Franz Joseph verzeichnet (4. Mai).
Sonntag
5. Mittags waren wir in der Stadt, auf der Bastei und auf dem Glacis. Heute hat der Maxi bei der Mama gespeißt. Nachmittags waren wir ein wenig in der Stadt. Dann sind die Cameraden gekommen und wir haben im Kaisergarten exercirt und gespielt. Abends war die Großmama mit der Amie da.
Eine besondere Hervorhebung – gleichzeitig aber auch eine besondere Enttäuschung – enthält der Vermerk, daß der Bruder Ferdinand Maximilian (wie sonst alle Brüder) das Mittagessen gemeinsam mit der Mutter einnehmen durfte. Er war schon früher an Scharlach erkrankt gewesen, weshalb man ihm das Zusammensein mit ihr früher erlaubte.
Montag
6. Heute Mittags waren wir in einem Gewölb (vermutlich in einem tiefliegenden Verkaufsladen) und haben etwas gekauft. Nachmittags sind wir mit der Mama im Prater spazierengegangen. Heute Abends bin ich allein, aber der Maxi ist mit der Mama im Theater, wo die Elßler tanzt.
Abermals durfte der Bruder Ferdinand Maximilian der Mutter Gesellschaft leisten. Der sicherlich sehr enttäuschte Carl Ludwig verbrachte die Zeit wie üblich ›allein‹ mit einem Erzieher.
Mit der im Theater tanzenden ›Elßler‹ ist die damals weltberühmte Balletteuse Fanny Elßler (1810–1884) gemeint, die durch die Neuartigkeit ihres Tanzstils und durch ihre Schönheit zu den meistbewunderten Tänzerinnen ihrer Zeit zählte.
Dienstag
7. Heute ist der Onkel Carl mit dem Fritz angekommen. Mittags waren wir im Augarten, wir sind auch geritten. Nachmittags bin ich mit dem Papa allein ausgegangen, und zwar in den Prater und dann ist die Mama gekommen. Wir sind mit ihr herumgegangen, dann bin ich mit dem Papa in das Kärntnerthortheater gegangen, dort hat die Elßler in einem neuen Ballet getanzt; es war sehr hübsch.
Bei Onkel Carl handelt es sich abermals um Erzherzog Carl, den Sieger über Napoleon. Fritz (Erzherzog Friedrich) war einer seiner Söhne, der drei Jahre später im Alter von nur 26 Jahren verstarb.
Erzherzog Carl Ludwig besuchte an diesem Abend mit seinem Vater offensichtlich dieselbe Vorstellung, die sein Bruder tags zuvor gesehen hatte. Sie fand im heute nicht mehr existierenden ›K.k. Hoftheater nächst dem Kärntner Thore‹ (dem Stadttor an der Kärntner Straße) statt, das an der Hinterseite – der damals noch nicht bestehenden – Staatsoper lag. Dort wurden vor allem Ballette sowie italienische und deutsche Opern aufgeführt.
Mittwoch
8. Mittags haben wir dem Onkel Carl eine Visite gemacht und dann sind wir in den Kaisergarten gegangen. Mittags war der Fritz bei uns. Nachmittag sind wir mit der Mama und mit dem kleinen Ludwig im Augarten herumgegangen. Abends kam die Großmama mit der Amie.
Donnerstag
9. Heute haben wir mit der Mama und mit dem kleinen Ludwig im Augarten gefrühstückt. Der Abbé Kiss (ein Geistlicher, der die jungen Erzherzoge im Ungarischen unterrichtete) hat da gespeist. Nachmittag sind wir geritten. Wir sind zur Herzogin von Köthen und zum Fritz gegangen. Abends bin ich allein gewesen.
Mit der ›Herzogin von Köthen‹ ist wohl eines der letzten – nicht genau zu bestimmenden – Mitglieder der fürstlichen Familie von Anhalt-Köthen gemeint. Dieser Zweig der Fürsten von Anhalt starb noch im 19. Jahrhundert aus.
Freitag
10. Mittags waren wir im Kaisergarten und haben dort gespielt. Nachmittags sind wir mit dem Papa und mit der Mama im Prater spazierengegangen. Abends war die Großmama bei uns.
Samstag
11. Mittags sind wir in den Prater gefahren. Nachmittags ist die Hildegarde mit dem Albert von München angekommen; ich habe sie aber heute noch nicht gesehen. Abends sind wir allein, bis ½ 9 Uhr, dann ist die Großmama gekommen mit der Amie.
Erzherzog ›Albert‹ (Albrecht), ein Sohn Erzherzog Carls, hatte am 1. Mai, also zehn Tage vor dieser Eintragung, in München Prinzessin Hildegard von Bayern geheiratet. Sie war eine Tochter König Ludwigs I. und eine direkte Nichte Erzherzogin Sophies (somit auch eine Cousine des Tagebuchschreibers). Da Carl Ludwig sie an diesem Tag, an dem sie in der Hofburg dem engsten Familienkreis vorgestellt wurde, nicht gesehen hatte, stattete er ihr am folgenden Tag den Gegenbesuch ab.
Sonntag
12. Mittags sind wir in den Schwarzenbergischen Garten gegangen, und dann sind wir wohl etwas später zur Hildegarde und zum Albert gegangen. Heute haben wir wieder zum ersten Mahle seit der Krankheit des Franzi beim Kaiser gespeist, auch die Hildegarde. Nachmittags sind wir in den Prater gefahren; es war recht hübsch. Die Hildegarde war auch dort.
Allsonntäglich fanden unter Anwesenheit des jeweils regierenden Kaisers Familiendiners statt, an denen die meisten in Wien anwesenden Erzherzoge teilnahmen. Durch die Scharlacherkrankung Franz Josephs waren seine Brüder und Eltern für Wochen davon ausgeschlossen gewesen. Sonntag, der 12. Mai, markierte das Ende der streng eingehaltenen Quarantäne.
Daß in den folgenden Wochen in den Eintragungen Carl Ludwigs ›Hildegarde‹ eine bedeutende Rolle spielte, hängt mit der kindlichen Begeisterung für das neuhinzugekommene Familienmitglied zusammen und natürlich auch mit den zahlreichen Empfängen, die man ihr zu Ehren gab.
Montag
13. Heute haben wir mit der Mama im Augarten gefrühstückt. Der Wittek speiste bei uns. Nachmittags sind wir in Schönbrunn gewesen, aber es hat geregnet. Heute geht die Hildegarde zum ersten Mahl in das Kärntnerthortheater; das Theater ist besonders beleuchtet. Abends sind wir allein.
›Gefrühstückt‹ meint eine Essenseinnahme um die Mittagszeit und bedeutete für die jungen Erzherzoge Unterbrechung nach vier, fünf Stunden Unterricht.
Festbeleuchtungen eines Gebäudes (›das Theater ist besonders beleuchtet‹) wurden zu Ehren hoher Persönlichkeiten veranstaltet. An diesem Abend galt sie natürlich der neuvermählten Erzherzogin Hildegard.
Dienstag
14. Mittags waren wir bei der Parade, wobei der nach Linz bestimmte Regent H. Homburg vom Regiment Hrabovsky abgelöst wurde. Nachmittags waren wir im Kaisergarten und im Volksgarten (ein an der Hofburg gelegener öffentlich begehbarer Park). Der Hildegarde zu Ehren ist heute große Familientafel beim Kaiser. Abends sind wir allein.
Die mittägliche Veranstaltung war militärischer Natur und fand vermutlich in Anwesenheit des Kaisers statt.
Mittwoch
15. Heute ist der Namenstag der Mama und der Geburtstag des kleinen Ludwig. In der Früh sind wir zum Frühstück zur Mama gekommen, und ich habe der Mama eine Zeichnung, einen Engel und einen Vorsprung (vermutlich eine dazupassende Konsole) dazu geschenkt, und der Maxi hat ihr sein Portrait und einen Teufel von Papier maché (in einer Klebetechnik, bei der aus Papierresten und Leim plastische Figuren geformt werden) geschenkt, und wir zusammen haben dem kleinen Ludwig ein lebendes Lamm geschenkt. Zum Frühstück ist der Onkel Ludwig, die Großmama und der Onkel Johann gekommen. Wir waren mit der Mama in der Messe. Wir haben beim Kaiser gespeist. Die Hildegarde ist etwas unwohl. Nachmittag sind wir mit dem Papa auf der Bastei herumgegangen, und dort sind wir dem Kaiser begegnet, dann sind wir in das Kärntnerthortheater gegangen, nähmlich in die italienische Oper: »Maria di Rohan«; es war sehr hübsch.
Wenn ein Familienfesttag anfiel, wurde dem betreffenden Mitglied zu Ehren die Tagesgestaltung verändert. So wurde das sonst getrennt eingenommene Frühstück von Kindern und Eltern zusammengelegt und die jungen Erzherzoge meist vom Unterricht befreit.
In der Erzählung scheint von zwei ›Frühstücken‹ die Rede zu sein: das eine wurde frühmorgens im kleinen Kreis genommen, das zweite am späten Vormittag in erweiterter Gesellschaft. Die Mittagstafel eines Festtages fand – wie die sonntäglichen Diners – im großen Familienkreis und im Beisein des Kaisers statt.
Zu den beliebtesten Mitgliedern der Familie zählte Erzherzog Ludwig. Er war ein jüngerer Bruder von Carl Ludwigs Großvater, Kaiser Franz II./I., zum Zeitpunkt der Eintragung 61 Jahre alt und galt als hochbegehrter Gesellschafter. Obwohl niemals verheiratet, verehrte er schöne Frauen, wobei Erzherzogin Sophie und ihre Zwillingsschwester Marie, Königin von Sachsen, zu seinen Favoritinnen zählten. Für Carl Ludwig und seine Brüder galt er – im Fall der Abwesenheit der Eltern – als Ersatzvater, der sie mit Spiel und Unterhaltung erfolgreich von ihren kleinen Sorgen abzulenken verstand.
Erzherzog Johann entstammte derselben Generation wie ›Onkel Ludwig‹. Bei ihm handelt es sich um einen in der Familie nicht unumstrittenen Mann. Er hatte sich seit seiner Jugend gegen Zeremoniell und Etikette aufgelehnt und früh dem Hofleben entsagt, um (zunächst in Tirol, später) in der Steiermark ein Leben nach eigenen Vorstellungen zu führen. Dazu gehörte für ihn die Verbindung mit einer Frau ›aus dem Volke‹ – er war seit 1827 mit der Bürgerlichen Anna Plochl verheiratet – und die Verwirklichung zahlreicher anderer Ideale, die in den seltensten Fällen mit denen der kaiserlichen Familie übereinstimmten.
Donnerstag
16. Heute ist Christihimmelfahrt; Mittags sind wir in den Prater gefahren, aber es hat geregnet; der Abbé Kiss speiste bei uns, und gleich nach dem Essen sind wir in den Kaisergarten gegangen, um ihm Alles zu zeigen. Nachmittags sind wir mit der Mama, und mit dem Papa in den Prater gegangen. Wir gingen Abends zur Mama und haben dort Thee getrunken. Mehrere Damen waren bei der Mama; die Herzogin (unleserlich), die Gräfin Maria (unleserlich), die Gräfin Erdödy, das Fräulein Fuchs, die Gräfin Schönborn und die Gräfin Stadion.
An diesem Tag durften die Erzherzoge Ferdinand Maximilian und Carl Ludwig das erste Mal nach der Scharlacherkrankung ihres ältesten Bruders wieder an einer Abendgesellschaft ihrer Mutter teilnehmen.
Bei den anwesenden Damen handelt es sich um Gräfin Ernestine Erdödy, Sternkreuzordensdame und Palastdame; ein nicht genauer zu bestimmendes Fräulein Fuchs; die seit 1841 verwitwete Gräfin Ernestine Schönborn, Obersthofmeisterin der Erzherzogin Sophie, und Gräfin Maria Anna Stadion-Thannhausen, eine ihrer Hofdamen.
Freitag
17. Mittags waren wir auf der Bastei und im Kaisergarten; heute habe ich den Franzi gesehen (wohl nur von weitem, denn seine Quarantäne war noch nicht aufgehoben). Es geht ihm gut. Nachmittags waren wir mit der Mama und mit dem Papa im Prater. Abends sind wir nach dem Souper zum Johannes von Nepomuck (eine Statue) bei den (außerhalb der Bastei gelegenen) Stallungen und dann in den Volksgarten gegangen.
Die nächsten Tage waren von Spaziergängen und Alltagsgewohnheiten geprägt. Sonntag (19. Mai) exerzierten die jungen Erzherzoge – vermutlich gemeinsam mit ihren Kameraden – im Kaisergarten. Diese militärische Übung zählt zu den wenigen im Tagebuch erwähnten Unterrichtsstunden, was darauf schließen läßt, daß Carl Ludwig sie nicht ungern hatte. Den darauffolgenden Abend gab es ein Hofkonzert, an dem die Kinder – von der Galerie aus zusehend – teilnehmen durften.
Dienstag
21. Mittags waren wir im Augarten und um ½ 4 Uhr Nachmittags sind wir auf den Glashausball gegangen, und haben dort getanzt; ich habe die Quadrille mit der älteren Taaffe getanzt und mit der jungen Bellegarde den Cotillon, nach dem sind wir in den Prater spazierengegangen. Abends waren wir bei der Mama. Die Tante Amelie und der Prinz Wasa waren dort.
Schon sehr früh durften die Erzherzoge an Kinderoder Adoleszentenbällen teilnehmen, die am Nachmittag oder frühen Abend stattfanden und – wie die meisten Bälle bei Hof – zeitlich genau begrenzt waren. Carl Ludwig war wie seine Brüder ein begeisterter Tänzer und Ballbesucher – eine Leidenschaft, die er bis an sein Lebensende beibehielt.
Der elfjährige Tagebuchschreiber erwähnte zunächst einen Tanz mit der ›älteren (von zwei Schwestern) Taaffe‹. Vermutlich ist damit eine der drei Töchter Graf Ludwig Taaffes, k.k. Kämmerers, Geheimen Rats, Präsidenten der Obersten Justizstelle und der Hofkommission in Justizgesetzsachen, gemeint. Es wird sich dabei wohl nicht um die älteste, neunzehnjährige Clementine gehandelt haben, sondern eher um die nächstältere Walburga, die zu dem Zeitpunkt aber auch schon siebzehn Jahre alt war. Wahrscheinlich besuchte sie gemeinsam mit ihrer vierzehnjährigen Schwester Amalie den Ball, weshalb Walburga als ›die ältere‹ der beiden bezeichnet wurde. Der auf jeden Fall enorme Altersunterschied von sechs Jahren, den Walburga von ihrem Tänzer trennte, wurde durch seinen Status wettgemacht: Carl Ludwig war ein ranghoher Erzherzog, mit dem zu tanzen jeder auch noch so alten Gräfin eine Auszeichnung darstellen mußte.
Mit der ›jungen Bellegarde‹ ist die 14jährige Pauline gemeint, deren Vater, August Graf Bellegarde, Obersthofmeister der Kaiserin Caroline Auguste war.
Ein gesellschaftliches Detail am Rande: Wäre Erzherzog Carl Ludwig zum Zeitpunkt dieses Balles an die 18 Jahre alt gewesen und würde er den Cotillon mit der Gräfin Bellegarde während einer Saison noch einmal getanzt haben, dann hätte er sie innerhalb der nächsten Monate heiraten müssen. Dieser Tanz galt für Heiratsfähige damals als öffentliches Bekenntnis der gegenseitigen Liebe. Allerdings hatte der erwachsene Carl Ludwig sehr darauf geachtet, wann und mit wem er den Cotillon tanzt, da er wußte, daß die Verbindung mit einer Gräfin unstandesgemäß war und mit großer Wahrscheinlichkeit den Ausschluß aus dem Kaiserhaus nach sich gezogen hätte.
Tante Amelie und Prinz Wasa waren Geschwister, Kinder des letzten regierenden Königs von Schweden aus dem Hause Wasa, und mit Erzherzogin Sophie im ersten Grad vercousint. Ihre Mütter, Friederike und Karoline, Königinnen von Schweden und Bayern, waren Schwestern und Töchter des Erbprinzen Carl Ludwig von Baden. Amelie war seit Kindertagen die beste Freundin Sophies, mit der sie über Jahre hindurch einen innigen Briefverkehr hegte. Sie blieb unverheiratet und lebte als erwachsene Frau vorwiegend in Wien. Ihr Bruder, Prinz Gustav Wasa, der als Offizier in der österreichischen Armee diente, wäre der schwedische Thronprätendent gewesen, wenn sein Vater, König Gustav IV. Adolf, nicht im Jahr 1809 den Thron verloren hätte.
Mittwoch
22. Mittags sind wir mit der Mama und mit dem kleinen Ludwig in den Pratergarten gefahren, und haben dort mit der Mama, mit dem kleinen Ludwig, mit der Gräfin Arco, mit der Stephanie (unleserlich), mit der Gräfin Schönborn, mit der Marie Stadion und mit der Marie Vécsey gefrühstückt. Wir sind wieder zum Franzi in unsere alte Wohnung gezogen; er befindet sich sehr wohl. Nachmittags fuhren wir in den Prater, und sind dort dem Stephan, dem Kaiser und dem Franzi begegnet. Wir waren bis ¼ 10 Uhr Abends bei der Mama. Heute war auch der schöne Ball im Augarten, den der Gordon (vermutlich der damalige englische Botschafter in Wien) gibt. Die Mama geht auch hin.
An diesem Tag wurde die Krankheit Franz Josephs offiziell für beendet erklärt. Die Brüder Ferdinand Maximilian und Carl Ludwig zogen zurück in ihre Wohnung, die sie mit dem ältesten Bruder teilten. Deshalb fanden etliche Familienzusammenkünfte statt, um die Quarantäne feierlich zu beschließen.
Bei den neu hinzugekommenen Gesellschafterinnen während des Praterspaziergangs handelt es sich zunächst um eine – ohne Vornamen unter einer Vielzahl von weiblichen Familienmitgliedern nicht zu bestimmende – Gräfin Arco und um eine in den folgenden Eintragungen zigmal zitierte Gräfin Marie Vécsey, die mit der Leitung der Kammer des dreijährigen Ludwig Victor betraut war. Ihr Rang muß dem einer Aja entsprochen haben, obwohl sie den Titel – verwunderlicherweise – nicht führte.
Freitag
24. Um 9 Uhr frühstückten wir mit allen Carlischen und auch mit dem Papa und mit der Mama. Wir machten Visiten und später sind wir mit dem Papa und mit der Mama in den Prater spazieren gegangen. Abends besucht uns Albert. Um ½ 9 Uhr gingen wir zur Mama. Franzi ging in das Kärntnerthortheater, wo die Elßler tanzte.
›Alle Carlischen‹ meint den – zu diesem Zeitpunkt – in Wien lebenden Teil der Familie des verwitweten Erzherzog Carl. Dazu gehörten der mit Hildegarde von Bayern verheiratete Sohn Albrecht (›Albert‹) und die Kinder Carl Ferdinand, Marie Karoline und Wilhelm. Da ›Albert‹, der älteste Sohn Erzherzog Carls, als einzelner Abendbesuch noch einmal erwähnt wird, kam er an diesem Tag offensichtlich zweimal.
Samstag
25. Mittags waren wir im Augarten. Nachmittags sind wir nach Schönbrunn gegangen. Abends waren wir bei der Mama.
Daß man am Nachmittag nach Schönbrunn ›ging‹, bedeutet, daß an diesem Tag einer der zweimal pro Jahr stattfindenen Umzüge stattfand. Im Frühjahr wechselte die kaiserliche Familie von der in der Wiener Innenstadt liegenden Hofburg in das Landschloß Schönbrunn, im Herbst fand die Rückübersiedlung statt. Für die jungen Erzherzoge bedeutete der Aufenthalt in Schönbrunn eine Verminderung des theoretischen Unterrichtsstoffs, mehr Lehrstunden im Freien und viel gemeinsame Zeit mit den Eltern, mit denen man ausgiebige Spaziergänge unternahm.
Pfingstsonntag – Sonntag
26. Heute ist Pfingstsonntag. Mittags waren wir im Boulingrin und haben dort mit den Bombelles gespielt. Wir speisten bei der Mama. Nachmittags waren wir mit der Mama und mit dem Papa in dem bothanischen Garten, und beim Richter von Lainz (einem Speiselokal in der Nähe des Lainzer Tiergartens, der zu den kaiserlichen Jagdrevieren gehörte und im Westen von Schönbrunn liegt). Abends waren wir bei der Mama.
Die Bezeichnung ›Boulingrin‹ besteht seit dem 17./18. Jahrhundert als französisierte Fassung des englischen Wortes ›Bowling Green‹. In Schönbrunn war damit ein innerhalb des Schloßparks abgegrenzter Teil bezeichnet, der an die Orangerie anschloß und sich bis zum Meidlinger Tor erstreckte. Das Boulingrin umfaßte einen Kinderspielplatz mit Schießbuden, einen Kaninchenstall, eine Schaukel und ein kindergerechtes Festungswerk. Später wurde auch eine kleine Meierei angelegt. Das ›Café Meierei‹ erinnert bis heute an den einstigen Kinderspielplatz der Erzherzoge. Im Inneren des Kaffeehaus-Pavillons befindet sich übrigens ein Aquarell der spielenden Kinder vor demselben Gebäude im Originalzustand.
Pfingstmontag – Montag
27. Wir speisten bei der Mama. Nachmittags waren wir mit der Mama beim guerra. Es war sehr schön. Abends waren wir bei der Mama.
Eine für Erzherzog Carl Ludwig typische Eintragung: zwei Zeilen mit drei Hinweisen auf ein Zusammensein mit der geliebten Mutter.
Wer oder was sich hinter ›guerra‹ (Krieg?/Kriegsheld?) verbirgt, läßt sich nicht nachvollziehen. Vielleicht ist damit ein – verwandter oder gut bekannter – Militär gemeint, den man mit diesem Spitznamen rief. Die Eintragungen der beiden nächsten Tage wiederholen Spaziergänge und abendliche Zusammentreffen mit Erzherzogin Sophie.
Donnerstag
30. Heute ist der Namenstag des Kaisers und des Maxi. Er (der Bruder) hat von der Mama ein großes Theeservice bekommen. Wir speisten beim Kaiser. Nachmittag regnete es, und wir spielten in der Gallerie (in einem der großen Säle des Schlosses) mit den Cameraden. Nachher war ein Gouter (ein gemeinsames Essen mit den Studien- und Spielkameraden) und dann blieben wir bei der Mama.
›Maxi‹, der zweitälteste Bruder Erzherzog Carl Ludwigs, hieß – wie früher erwähnt – Ferdinand Maximilian, weshalb er den Namenstag mit seinem Onkel, Kaiser Ferdinand I., feierte.
Die folgenden, wenig ereignisreichen Tage waren geprägt von Turn-, Reit-, Fecht- und Schwimmstunden, Kutschieren sowie von Promenaden mit den Eltern, der Großmutter und Erzherzog Ludwig. Abwechslung bot erst wieder Donnerstag, der 13. Juni, als man eine illustre Verwandte, ›Tante Louise von Parma‹, in ihrem Quartier in Wien besuchte. Sie entstammte der Generation der Eltern Erzherzog Carl Ludwigs und war in erster Ehe mit Kaiser Napoleon I. von Frankreich verheiratet. Aus dieser Verbindung war ihr einziger legitimer Sohn hervorgegangen: der jung verstorbene Napoleon II., der unter seinem späteren Titel eines Herzogs von Reichstadt besser in Erinnerung ist. Noch während der bestehenden Ehe mit dem im Exil lebenden Napoleon empfing Louise als frisch eingesetzte Herzogin von Parma zwei uneheliche Kinder von ihrem Liebhaber Adam Graf Neipperg, die trotz späterer Heirat niemals legitimiert wurden. Dieser Ehe folgten etliche Liebschaften mit Lehrern der Kinder, Opernsängern und Gefolgsleuten sowie eine letzte, dritte Ehe mit Carl Graf Bombelles.
Zurück zu Carl Ludwig und seinen Brüdern. Ab 14. Juni dominierte wieder das Schönbrunner Alltagsleben, das sich in Exerzieren, Fechten, Turnen, Spielen im Freien und gemeinsamen Erlebnissen mit den Eltern und der Großmutter erschöpfte. Die geringe Abwechslung zielte darauf hin, die Kinder nicht von ihren Studien abzuhalten, da der Abschluß des Jahresunterrichts bevorstand. Die schriftlichen und mündlichen Prüfungen fanden zwischen 17. und 19. Juni statt. Ihr Ende wurde bei einem gemeinsamen Theaterbesuch mit den Eltern feierlich begangen.
Am 20. Juni begannen Ferien vom theoretischen Unterricht, und das Freizeitprogramm nahm einen größeren Teil im Tagesablauf ein. Alle praktischen Übungen und Unterrichtsstunden wurden aber weitergeführt. Am 24. Juni fand sogar eine Prüfung im Schwimmunterricht statt, wobei Erzherzog Carl Ludwig eine Art von Freischwimmerabzeichen errang.
Verschiedene knappe Eintragungen, die sich in nichts von den vorhergehenden unterscheiden, werden bis 4. Juli geführt, brechen dann aber bis 11. Oktober ganz ab. Die kaiserliche Familie hielt sich während dieser Zeit in Ischl (erst ab 1906 ›Bad‹ Ischl) auf, von wo die jungen Erzherzoge, Franz Joseph, Ferdinand Maximilian und Carl Ludwig, am 5. September eine mehrwöchige Bildungsreise antraten. Sie ging in Begleitung von vier Kammerherren Erzherzog Franz Carls, die bei seinen drei ältesten Söhnen als Erzieher tätig waren (den Grafen Coronini, Bombelles und Morzin sowie Baron Gorizzutti), von Salzburg über Berchtesgaden nach Innsbruck und ins Stubaital, von wo aus Bergtouren unternommen wurden. Dann setzte man die Reise in Richtung Bodensee fort, besuchte von dort aus das bayerisch-königliche Schloß Hohenschwangau und lenkte weiter gegen Süden nach Bozen und Brixen. Nach einigen Tagen des Aufenthalts ging es – über Lienz, die Radstädter Tauern und das obere Ennstal – zurück in Richtung Ischl, wo die Kinder schon auf der Strecke von der ungeduldig wartenden Mutter in Empfang genommen wurden. Allerdings mußten sie – um einer möglichen Anstekkungsgefahr zu entgehen – sofort nach Wien weiterreisen, da ihr jüngster Bruder, der zweijährige Ludwig Victor, in Ischl an Masern erkrankt war.
Ende September, Anfang Oktober scheinen die Kinder in Begleitung ihrer Erzieher wieder in Schönbrunn gewesen zu sein. Um diese Zeit muß der regelmäßige Unterricht eingesetzt haben. Die Eintragungen ins Tagebuch wurden ab 11. Oktober wieder aufgenommen. Carl Ludwig scheint im Zuge des neuen Unterrichtsplans dazu angehalten worden zu sein, pro Tag eine ganze Seite mit Tageserlebnissen zu füllen. Diese Übung wurde allerdings nur bis zum 26. November durchgehalten, ab dann überwiegen wieder knappe, zwei- bis vierzeilige Berichte im Stil der früheren Artikel.