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VORWORT

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Es zählt zu den Sternstunden eines Historikers, wenn er – unerhofft und unerwartet – auf handschriftliches Material stößt, das geschichtlich interessant ist und noch niemals veröffentlicht wurde. So fand sich in einer Masse von verschiedenen Dokumenten aus dem österreichischen Kaiserhaus das Tagebuch eines Erzherzogs, das er im Alter von knapp elf Jahren begonnen und zwei Jahre lang mit ziemlicher Regelmäßigkeit geführt hatte. Bei dem jugendlichen Urheber der Schrift handelt es sich nicht nur um einen der ranghöchsten Erzherzoge, sondern auch um den zweitältesten Bruder des nachmaligen Kaisers Franz Joseph, der während der Entstehungszeit des Tagebuchs schon als Österreichs nächster Regent feststand. Seine und seiner Brüder späte Kindertage bilden den Inhalt des Buches, aus dem herauszulesen ist, daß ihm und ihnen das Privatleben das Wichtigste war. Die überraschendste Entdeckung dabei: Der kaiserliche Alltag hätte nicht bürgerlicher und biederer sein können.

Zurück zum Autor, dem zu Beginn des Tagebuchs noch nicht ganz elfjährigen Erzherzog Carl Ludwig. Er war der dritte Sohn Erzherzog Franz Carls und Erzherzogin Sophies, einer geborenen Prinzessin von Bayern, und hatte damals drei Brüder: Franz Joseph, Ferdinand Maximilian und Ludwig Victor, das zweijährige Nesthäkchen der Familie. Als weitere Hauptpersonen seines nächsten Kreises spielten – neben den Eltern – der regierende Kaiser, Ferdinand I., ein direkter Onkel; die Kaiserinwitwe Caroline Auguste (im laufenden Text immer als ›Kaiserin‹ bezeichnet), Stiefgroßmutter und Tante in einem; sowie Erzherzog Ludwig, ein Großonkel, Bruder und geistiger Erbe Kaiser Franz II./I., bedeutende Rollen. Aufgefüllt wird die Szenerie durch Erzieher und Lehrer der jungen Erzherzoge, Damen und Herren im Gefolge der Eltern und ständig an- und abreisende Verwandte, die entweder dem österreichischen Kaiserhaus oder anderen europäischen Regentenfamilien angehörten.

Zum Aussehen des Tagebuchs: Die einzelnen Seiten messen 12,7 cm mal 19,1 cm; das Buch ist 3,5 cm dick (den Buchdeckel miteingeschlossen 4,2 cm), es scheint zweimal gebunden worden zu sein. An einen ersten bestehenden Band wurden später dreißig Seiten angefügt. Danach muß das ganze noch einmal gebunden und – vermutlich zu diesem Zeitpunkt – mit einem dunkelblauen Umschlag aus gepreßtem Leder versehen worden sein. Am Buchrücken befindet sich eine Prägung in Goldlettern: »TAGEBUCH vom 13. April 1844 bis 16. August 1846. Mit Unterbrechungen.« Die Schnittkanten erhielten an allen drei Seiten eine bunte, wellenförmige Musterung, die dem am Vorsatzpapier des Buches entspricht.

Daß dieses Tagebuch begonnen und geführt wurde, hatte vorrangig einen erzieherischen Grund: Kinder aus gesellschaftlich höher stehenden und gebildeten Familien wurden von ihren Eltern zum Aufzeichnen der Tagesereignisse veranlaßt, um Sprech- und Schreibgewandtheit zu erlangen, und wohl auch, um Situationen beurteilen und Menschen einschätzen zu lernen. Die Übung bildete einen Grundstock für das spätere gesellschaftliche Leben: der Schreiber mußte lernen, als Erwachsener eine Konversation führen und in Gang halten zu können. Natürlich ging jedes Kind anders an die Schreibarbeit heran, und es ist rührend zu verfolgen, wie Erzherzog Carl Ludwig das Pensum erledigte. Den unumstrittenen Mittelpunkt seines Denkens bildete die geliebte ›gute Mama‹. Ihrer An- oder Abwesenheit, ihrem Verhalten den Kindern gegenüber galten die meisten Vermerke. Den nächsten Schwerpunkt bildet die eigene Tagesgestaltung und die der Brüder. Die geringste Bedeutung wird dem Lernprogramm beigemessen, obwohl es den größten Teil der Tageszeit einnahm. Aus erhaltenen Stundenplänen aus dem Jahr 1844 ist zu ersehen, daß im Sommer dieses Jahres dreizehn Fächer gelehrt wurden (Geschichte, Geographie, Mathematik, Naturgeschichte, Latein, Ungarisch, Italienisch, Französisch, Böhmisch, Deutsch, Zeichnen, Schreiben und Musik). Während einer Woche wurden die meisten dieser Gegenstände mehrmals unterrichtet. Pro Tag gab es vormittags sechs bis acht Stunden Studium mit den Lehrern – nachmittags wurde das Programm um Turnen, Reiten, Kutschieren, Fechten, Schwimmen, Tanz und Exerzieren erweitert. Abwechslung bildeten im Sommer nachmittägliche Spaziergänge mit den Eltern, im Winter das (auf ein Minimum beschränkte) abendliche Zusammensein mit der Familie.

Erzherzog Carl Ludwig scheint – wie die meisten Kinder im Alter zwischen elf und dreizehn Jahren – den Unterricht nicht besonders geschätzt zu haben. Das hauptsächliche Interesse galt der Familie und der gemeinsamen Freizeitgestaltung, weshalb das Tagebuch vor allem zu einem beredten Zeugen habsburgischen Privatlebens wird. Sehr überraschend dabei: der überaus bürgerlich angelegte Alltag und der anspruchslose Lebensstil. Die meisten Familienmitglieder lebten in anerzogener und überzeugter Sparsamkeit, und es bereitete keinem Aristokraten oder Bürger mittlerer finanzieller Verhältnisse eine Schwierigkeit, den Aufwand des kaiserlichen Haushaltes zu überbieten.

Das Tagebuch endet zwei Jahre, nachdem es begonnen worden war, im Sommer 1846 und scheint keine Fortsetzung erhalten zu haben. Denn während dieses Zeitraums war das angestrebte Ziel erreicht worden: Schrift und Orthographie des jungen Mannes hatten sich wesentlich verändert, und auch die Wortgewandtheit war dem zeitgenössischen Konversationston schon sehr nahe gekommen. Natürlich entsprach der Stil des Dreizehnjährigen noch nicht dem eines Erwachsenen. Aber Erzherzog Carl Ludwig hatte jenes Alter erreicht, in dem Kinder des 19. Jahrhunderts von ihren Eltern in die meisten Gesellschaften miteinbezogen wurden. Dort erhielten Sprechstil, Wortgewandtheit und Urteilsvermögen ihren letzten Schliff. Da Erzherzogin Sophie eine besonders aufmerksame und liebende Mutter war, hat sie ihre Söhne schon früh als vollwertige Gesprächspartner anerkannt, weshalb es ihnen nicht schwer fiel, sich bald auch im größeren Gesellschaftskreis zurechtzufinden.

Im Hinblick auf die stilistische Entwicklung sei darauf hingewiesen, daß die Eintragungen anfangs etwas knapp gehalten und die Höhepunkte des Tages in wenigzeiligen Bemerkungen abgehandelt wurden. Sehr bald ist aber auch zu erkennen, daß das Erzählvolumen vom Grad der Begeisterung des jungen Erzherzogs abhing. Denn auch in den ersten Aufzeichnungen finden sich längere, spannend erzählte Geschichten. Zu den am ausführlichsten behandelten Themen zählen die Besichtigungen technischer Errungenschaften wie die eines Eisenbahnwagens, der erstmals die Strecke zwischen Wien und Graz befuhr (22. Oktober 1844), oder Ballonfahrten (22. und 25. September 1845, 26. Oktober 1845); Familienfeste, die im Zusammenhang mit Kostümierungen, Tanzveranstaltungen oder Theateraufführungen standen (1. und 4. Februar 1845, 15. Mai 1845, 4. November 1845); eine mehrwöchige Bildungsreise durch Oberitalien (2. September bis 5. Oktober 1845); öffentliche Empfänge oder Veranstaltungen (30. Dezember 1845, 18. Juni 1846); Kinderulk (1. April 1846) sowie historische (Tages)Ereignisse wie der Selbstmord eines Mannes während einer Burgtheatervorstellung (16. Mai 1846), der Tod Papst Gregors XVI. (6. Juni 1846) oder ein Aufstand der nationalistischen Polen in Krakau (23. Februar bis 5. März 1846).

Zurück zum Schreibstil und zum erzieherischen Wert des Tagebuchs. Im Hinblick auf die Rechtschreibung wurden anfangs (wahrscheinlich von einem der Erzieher) stilistische und orthographische Unebenheiten korrigiert und einige ausländische Namen oder Fremdwörter, die der junge Erzherzog nur phonetisch wiedergab, ausgebessert. Sie enden – vermutlich auf Wunsch des Verfassers – nach einigen Seiten. Im gedruckten Text werden aber, unabhängig vom Original, die bekannten Familien- und Geschlechternamen in der richtigen Schreibung wiedergegeben sowie der einfacheren Lektüre halber einige fehlende Kommata ergänzt. Vornamen wurden, um Verwirrungen zwischen Originaltexten und Erläuterungen zu vermeiden, unverändert belassen (alle Karls mit »C« und Viktor mit »c« geschrieben). Wenn von einer Person nur ein Initial des Vornamens erscheint, dann war der Taufname nicht zu eruieren.

Im allgemeinen wurde die Schreibung Erzherzog Carl Ludwigs beibehalten, die hauptsächlich den Regeln der Zeit entsprach. Wenn das Verständnis eines Absatzes gefährdet schien, wurde dem Text eine Erklärung hinzugefügt. Außerdem sei darauf hingewiesen, daß in den vergangenen 150 Jahren die Bedeutung einiger Wörter wechselte: So verwendete man »artig« im Sinn von freundlich/freundschaftlich, »merkwürdig« im Sinn von bemerkenswert, »peinlich« im Sinn von peinigend usf.

In Bezug auf die – oft innerhalb einer Eintragung wechselnden – grammatikalischen Zeiten Vergangenheit und Gegenwart sei bemerkt, daß die Berichte nicht immer zur selben Tageszeit verfaßt wurden. Schon Erlebtes wird in einer Vergangenheitsform erzählt: »Nachmittags waren wir im Kaisergarten …«, während auf eben stattfindende oder kommende Ereignisse in der Gegenwart hingewiesen wird: »Der Hildegarde zu Ehren ist heute große Familientafel beim Kaiser. Abends sind wir allein.« (aus der Eintragung vom 14. Mai 1844)

Mit der Veröffentlichung dieses Bandes wird Einblick in einen sehr privaten Lebensbereich der kaiserlichen Familie gewährt. Denn abgesehen von der Wiedergabe der Tageserlebnisse und von der Nähe des Erzählers zu den Ersten Personen des Landes entsprang dem Kindermund doch viel Spontanes und Wahrhaftes, das ein erwachsener Schreiber (im Hinblick darauf, daß ein Späterer seine Zeilen lesen könnte) sicherlich unterdrückt hätte.

Gabriele Praschl-Bichler

Wien, im September 1997

Kaiserliche Kindheit

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