Читать книгу Spuren im Nebel - Gabriele Schillinger - Страница 4

Mexiko

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Sue öffnete ihre Augen. Verschwommen nahm sie ihre Umgebung wahr.

Es war kalt und die Luft fühlte sich beim Einatmen fast eisig an. Langsam gewöhnten sich die Augen an das grelle Licht.

Eine Krankenschwester kam ins Zimmer, lächelte die Patientin an, begrüßte sie und streichelte mütterlich über ihre Wange. Sue war verwirrt, hatte keine Ahnung wo sie sich befand und wie sie dorthin gelangt ist. Die Krankenschwester fragte, wie es ihr geht, ob sie Schmerzen hatte. Sue konnte es nicht sagen, sie stammelte nur, dass ihr fröstelte. Es wurde eine weitere Decke gebracht, die aber nur die äußerliche Kälte linderte.

Der zuständige Arzt kam an Sues Bett und untersuchte ihre Reflexe. Er schien zufrieden zu sein. Sue wollte wissen, was passiert war. Man sagte ihr, dass sie einen schweren Autounfall hatte.

Ihr Ehemann Frank fand sie unweit vom Haus. Sie war mit dem Auto in einen Graben gefahren. Zum Glück kam schnell Hilfe, denn die Verletzungen waren lebensbedrohlich.

Sue konnte sich an nichts erinnern, nicht einmal an ihren Namen. Susan Grimes.

Eine Schwellung im Kopf drückte aufs Gehirn und die Verletzungen am Körper waren sehr schmerzhaft. Deswegen zogen es die Ärzte vor, sie ins künstliche Koma zu versetzen. Erst nach zwei Monaten wurde sie langsam wieder aufgeweckt.

Der Gedächtnisverlust kam von der Schwellung. Es wurde ihr erklärt, dass die meisten Patienten recht rasch wieder zum vollen Gedächtnis fanden.

Dass die Ärzte sie bereits aufgegeben hatten, erzählte ihr jedoch niemand. Ihr Ehemann gab keine Einwilligung, die Geräte abzuschalten und er hatte Recht.

Ein fremder Mann in Anzug stand bei der Türe. Sue schaute ihn skeptisch an. War es ein neugieriger Patient? Nein, er war viel zu schick gekleidet, also konnte er nicht vom Krankenhaus sein.

Der Mann lächelte, setzte sich neben Sue auf das Bett und küsste sie auf die Stirn. Er nahm ihre Hand und bemerkte schnell, dass Sue ihn nicht erkannte. Skeptisch sah Sue den Fremden an. Er stellte sich als ihren Ehemann Frank vor und sagte, wie sehr er sich freute, dass es ihr besser ging. Sue wusste nicht, ob es ihr besser ging. Sie konnte sich ja an nichts erinnern, auch nicht an die Schmerzen, welche sie laut Erzählungen gleich nach dem Unfall gehabt hatte.

Diesem Mann soll sie also die ewige Treue geschworen haben? Sue sah ihn prüfend an. Nichts an ihm erweckte auch nur die kleinste Erinnerung. Eigentlich mochte sie seinen Geruch nicht besonders. Sollte sie ihn jetzt mit „du“ ansprechen? Natürlich, er war doch ihr Ehemann. Zum Glück blieb er nicht lange, denn Sue hatte keine Lust mit ihm zu reden. In Wirklichkeit wusste sie auch nicht, was sie mit dem fremden Mann anfangen sollte.

Die darauffolgenden Tage waren anstrengend, denn die Patientin musste alles neu lernen. Das lange Liegen im Bett ließ die Muskeln schrumpfen. Zudem kamen da noch die erst kürzlich verheilten Brüche und überdehnten Sehnen dazu, welche beim Belastungstraining nicht gerade hilfreich waren. Therapeuten halfen ihr zunächst mit Übungen, um die Muskulatur zu durchbluten und ein wenig zu kräftigen. Später begannen dann die ersten Schritte. Sue dachte nicht, dass es so schwierig war. Sie wackelte hin und her. Ohne Hilfe konnte sie nicht einmal von der Bettkante aufstehen.

Die Krankenschwestern waren sehr bemüht, versuchten ihre Patientin zum Essen und Trinken zu überreden, aber die Küche vom Haus schmeckte ihr so gar nicht. Lediglich das Obst verschlang sie mit Genuss, solange es nicht als Kompott serviert wurde. Sie konnte sich zwar nicht an die Vergangenheit erinnern, aber dass man so viel bei einem Kompott falsch machen konnte, wunderte sie sehr.

Es war bereits ein Monat vergangen, doch wollte sich kein Stück der Erinnerung zurückmelden. Ein Psychologe der Klinik kam zu Sue und sollte ihr schonend beibringen, dass vielleicht nicht mehr alles aus ihrer Vergangenheit zum Vorschein kommen würde. Die Chancen hatte man zwar gering eingestuft, aber möglicherweise half ihr eine vertraute Umgebung. Deswegen entschieden sich die Ärzte sie nach Hause zu entlassen.

Sue musste weiterhin Medikamente einnehmen und regelmäßig einen Psychotherapeuten besuchen. Ebenso konnte sie jederzeit zu einer physikalischen Therapie ins Krankenhaus kommen. Wenn sie wollte, konnte sie natürlich auch von zu Hause aus ihre Muskeln weiter trainieren.

Frank holte Sue ab. Es war ihr nicht ganz wohl bei der Sache. Irgendwie widerstrebte es ihr, mit diesem fremden Mann in ein gemeinsames Heim zu fahren. Seine Versuche, bei den Besuchen im Krankenhaus ihr Vertrauen zu gewinnen, scheiterten kläglich.

Er erklärte seiner Frau, dass sie sich in Mexiko befanden. Die Krankenschwestern hatten sie diesbezüglich bereits unterrichtet, doch sie erwähnte es ihm gegenüber nicht. Sue hatte keine Lust mit diesem Mann zu reden. Irgendwie verspürte sie Ablehnung und Hass, wenn sie seine Stimme hörte. Warum dies so war, konnte sie sich selbst nicht erklären.

Frank parkte vor einem überaus gepflegten Haus.

Wie ein wohlerzogener Herr öffnete er die Wagentüre auf Sues Seite und bot seine Hand hilfreich an. Seine Frau zog es jedoch vor, alleine auszusteigen. Sie betrachtete das Haus und fand dessen Ausstrahlung irgendwie kalt. Die Hoffnung, dass es im Inneren gemütlicher war, bestätigte sich leider nicht.

Frank folgte ihr auf Schritt und Tritt. Sie bemerkte sehr wohl, dass er auf jubelnde Äußerungen wartete, doch diesen Gefallen wollte sie ihm nicht machen. Zudem fand sie die Einrichtung ungemütlich und einfallslos. Um ihrem Ehemann zu entkommen, verabschiedete sie sich ins Bad, um zu duschen. Zum Glück war die Türe versperrbar, was Sue nur zu gerne nutzte. Keine Ahnung, auf welche Gedanken Frank vielleicht kommen würde. Die Dusche schien bislang das schönste an diesem Haus zu sein. Es tat ihrer Seele unheimlich gut, unbeobachtet Zeit für sich zu haben. Sie ließ lange das warme Wasser über den Körper fließen. Ihre Beine waren jedoch noch nicht so kräftig, also setzte sie sich in die Duschwanne und genoss weiter.

Es dauerte nicht lange, Frank klopfte an der Türe. Er wollte wissen, ob alles in Ordnung war. Konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen?

Als sie nach einer Weile wieder aus dem Bad kam, erwartete sie der Ehemann bereits. Er hatte den Tisch im Wohnzimmer gerichtet und bat sie höflich zum Essen. Sue konnte diese übertriebene zuvorkommende Art nicht leiden. Dennoch setzte sie sich. Frank schob ihr den Sessel unter den Po, was fast in einer Katastrophe endete, weil Sue erschrak.

Sie stocherte in dem seltsamen Grünzeug herum. Es war nicht wirklich definierbar, was diese Speise enthielt. So wie es aussah, so schmeckte es auch. Sue beschloss sich ins Bett zu verabschieden. Sie gähnte auffällig, sodass Frank derjenige war, der ihr diesen Vorschlag machte. Komisch, dass es ihr so Freude bereitete, wenn sie vor ihrem Ehemann flüchten konnte.

Die Tage vergingen und es wollte sich einfach keine Erinnerung melden. Frank war nicht sehr hilfreich, er glaubte seine Frau von allem fernhalten zu müssen.

Sue stand im Wohnzimmer, drehte sich im Kreis. Keine der vorhandenen Gegenstände erweckte nur im Geringsten Vertrautheit. Auch die Einrichtung war weder ihr Stil, noch farblich ansprechend. Was jedoch war denn eigentlich ihr Stil? Welche Farben mochte sie? Sue fühlte sich leer und dennoch überfordert.

Die Möbeln, das Sofa und sogar die Bilder an der Wand wirkten kalt und unnahbar auf sie. Nichts in diesem Raum lud einen zum Erholen ein. All die vielen teuren Kleider im Schrank, welche Sue keineswegs gefielen. Sie suchte nach gemeinsamen Fotos, vielleicht von einem Urlaub, oder ihrer Hochzeit. Da nirgendwo eines zu finden war, fragte sie Frank danach. Der jedoch hatte gerade dann nie Zeit, wenn Sue etwas brauchte. Abends vertröstete er sie immerzu auf den nächsten Tag.

Am nächsten Morgen weckte er sie mit einem ausgiebigen Frühstück auf. Sue leerte sich Kaffee in die Tasse. Erstaunt schaute sie das recht durchsichtige Gebräu an. Dieser Kaffee konnte einfach kein Muntermacher sein. Frank schüttete ihr Milch dazu und meinte, sie mochte ihn immer sehr hell. Damit dieser Kaffee hell wurde, bedarf es lediglich einen Tropfen Milch. Sie kostete vorsichtig, denn es lag ihr fern, Franks gute Absicht zu kritisieren. Ein Schluck genügte, um zu bemerken, dass mit dem Kaffee etwas nicht stimmte. Sie fragte vorsichtig, ob dies ein Entkoffeinierter ist und Frank begann zu lachen. Er erklärte ihr, dass sie einen Tee vor der Nase hätte, denn Kaffee mochte sie eigentlich nicht. Seltsam, Kaffee und Fleisch war ihr doch sehr vertraut und auf diese Dinge sollte sie freiwillig verzichtet haben? Besser sie widmete sich dem Obst und mit dem Kuchen zusammen schaffte sie sogar den Tee. Am Ende waren ihre Geschmacksknospen zwar nicht zufrieden, aber sie war immerhin satt.

Inzwischen konnte sie sich überhaupt nicht vorstellen, was sie an Frank jemals fand und weshalb sie ihn dann auch noch heiratete. Ein Mann, der selbst zu Hause in Anzug und Krawatte herumlief. Jemand, der Glasränder am Tisch nicht leiden konnte und seine Socken nach Farben sortierte. Ein richtiger Spießer. Selbst wenn er Sue einen Kuss auf die Wange gab, dann wirkte es perfekt und antrainiert. Viel zu perfekt, als dass dieser Wärme spenden könnte.

Nach langem Drängeln sagte Frank, dass Sues Eltern vor ein paar Jahren verstarben, was die Erinnerung an Vergangenes auch nicht gerade leichter machte. Fotos aus ihrer Kindheit hätten ihr vielleicht helfen können. Doch da gab es nichts mehr. Frank erzählte, dass Sues Eltern starben, als ihr zu Hause abbrannte. Vom Haus soll nichts mehr übrig geblieben sein. Diese Nachricht stimmte sie traurig. Also war da nur dieser fremde Mann, für den sich keine positiven Gefühle entwickeln wollten.

Sue wollte wissen, auf welchem Friedhof ihre Eltern lagen, doch die beiden waren ja bereits eingeäschert und Sue soll die Asche ins Meer gestreut haben. Jegliches Hilfsmittel, die Erinnerung an ihr Leben wieder zu finden, löste sich in Luft auf. Mit den kärglichen Informationen ihres Ehemanns konnte sie auch nicht viel anfangen.

Sue ging in die Küche. Im Kühlschrank waren wieder nur vegetarische Speisen zu finden. Es hieß, dass sie aus Überzeugung kein Fleisch aß. Komisch nur, dass sie einen richtigen Heißhunger auf Wurst hatte. Selbst auf ihr Bitten weigerte sich Frank, Fleisch zu kaufen.

Der Arzt meinte, es könnte schon vorkommen, dass frühere Eigenschaften zum Vorschein kommen. In diesem Fall war es die Lust etwas anderes zu essen.

Noch am selben Abend stellte sie ihren Ehemann Fragen über ihre finanzielle Situation. Sie wusste zwar, dass er sich diese Woche noch frei genommen hatte, aber wie verdiente er eigentlich sein Geld? Zudem konnte doch unmöglich sein, dass sie selbst immer nur zu Hause war.

Wie erwartet bekam Sue wieder keine schlüssige Antwort. Frank meinte, es wäre zu früh, um sie mit solchen Sachen zu belasten. Er versicherte, dass sie genug Geld hatten. Nein, eigentlich sagte er, sie wären reich und deswegen war es nicht nötig, seine Frau arbeiten zu schicken. Doch irgendetwas musste sie doch einmal beruflich gemacht haben? Genau das wollte er ein anderes Mal erzählen.

Sue dachte nach, sie musste doch wenigstens eine gute Freundin haben, der sie sich anvertraute. Aber auch hierbei sollte sie erfahren, dass es niemand derartigen gab. Weder Freunde noch Familie. Frank und sie hatten sich bei einer Selbsthilfegruppe kennengelernt, in der nur familienlose Mitglieder teilnahmen. Als Sue die Gruppe besuchen wollte, hieß es, dass der Leiter verstorben war und deshalb die Gruppe aufgelassen wurde. Jeder Hoffnungsschimmer, einen Hinweis auf die Vergangenheit zu bekommen, scheiterte. Es war, als hätte es Sue noch nie gegeben. Irgendetwas stimmte da doch nicht.


Sue stand meist spät auf. Sie ging in den Garten, ließ sich in einen Sessel nieder. Jede Faser in ihrem Körper schmerzte. Auch die verheilten Knochenbrüche meldeten sich beim Wetterumschwung. Die einen Ärzte rieten ihr zu viel Bewegung, um die Muskeln wieder aufzubauen, die Anderen verordneten viel Ruhe, um das leere Chaos im Kopf zu schlichten. Es war beides anstrengend.

Am liebsten wollte Sue schlafen, um nichts von diesem unzufriedenstellenden Leben mitzubekommen. Aber auch diese Flucht gelang nicht immer, denn ein richtig tiefer Schlaf wollte sich nur in der Nacht einstellen. Was Sue nicht wusste, Frank gab ihr regelmäßig eine Schlaftablette in das Abendessen. Eigentlich sollte sie nur ab und zu einmal eine davon nehmen, wenn das Schlafen gar nicht funktionierte.

So kam es auch dazu, dass Frank eines Morgens plötzlich auf Sues Bettseite lag und seinen Körper an den ihren schmiegte. Sue hatte diese Annäherung nicht bemerkt, deswegen erschrak sie, als sein Geruch so nahe schien. Vorsichtig versuchte sie seine Hand von ihrem Bauch zu heben. Doch irgendwie rutschte sie ihr aus den Fingern und landete genau auf ihrem Po. Ein grummeln war zu vernehmen, Frank wurde langsam wach. Er begann Sue zu streicheln, wanderte wieder auf ihren Bauch und schließlich weiter hinauf zu den Brüsten. Sie versuchte seine Hand wieder dort wegzunehmen, doch je mehr sie daran zog, desto fester wurde sein Griff.

Frank wurde zunehmend gröber und quetschte ihre Brüste schmerzhaft zusammen. Sue bat ihn darum, aufzuhören. Er murmelte nur, dass sie sich nicht so zieren muss, er wüsste doch, dass sie es hart mochte. Nun glitt seine Hand in ihre Shorts und obwohl sie die Beine fest zusammenpresste, gelang es ihm, diese brutal auseinanderzuziehen. Sue schrie, hielt sich die Hände vor die Augen. Gerade als er kurz davor war, in sie einzudringen, ließ er plötzlich von ihr ab. Er sagte, dass es ihm furchtbar leidtäte. Sie wäre wahrscheinlich noch nicht so weit.

Sue rollte sich zusammen und weinte. Danach ging sie ins Badezimmer, um seinen Geruch vom Körper abzuduschen. Die Brüste schmerzten ihr noch eine ganze Weile und auf den Innenschenkeln bildeten sich blaue Flecken.

Sie konnte den Montag kaum erwarten, denn da wollte Frank wieder arbeiten gehen.


Der Herbst war bereits eingezogen. Die Blätter schimmerten in verschiedenen Farben und raschelten leise, wenn der Wind an den Bäumen vorbei blies. Frank kam in den Garten, um Sue eine Decke zu bringen, damit sie sich nicht erkältete. Er packte sie fest ein und streichelte über ihre Wange. Sue erschrak und zuckte zusammen. Keine Ahnung, ob Frank es bemerkte, er küsste ihre Stirn und ging wieder ins Haus zurück.

Es war sehr seltsam, dass sie ein fremder Mann so oft berührte. Wie lange waren sie eigentlich schon verheiratet? War möglicherweise die große Liebe schon vorbei? Konnte sie sich deswegen nicht an ihn erinnern und ekelte ihr vielleicht deshalb, wenn er sie berührte?

Die Grübelei machte sie müde. Sue nickte ein, träumte von den bunten Blättern und einem saftigen Steak. Nach dem Sonnenuntergang trug Frank sie vorsichtig ins Bett, wo sie dann gleich weiterschlief.


Spuren im Nebel

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