Читать книгу Spuren im Nebel - Gabriele Schillinger - Страница 5

Der Therapeut

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An einem Nachmittag fuhr Frank seine Frau zu einem Psychotherapeuten. Er selbst hielt nicht viel davon, aber die Ärzte drängelten dazu. Sie meinten, es wäre wichtig für Sue, denn auch wenn sie sich aufgrund des Unfalls vielleicht nie wieder an die Vergangenheit erinnern würde, bräuchte sie Hilfe, um mit der Situation zu Recht zu kommen. Sue wusste noch nicht, dass die Chance, sich wieder an die Vergangenheit zu erinnern, fast bei null lag. Der Therapeut sollte es ihr vorsichtig beibringen.

Als Sue die Praxis betrat, hatte sie gleich ein komisches Gefühl. Ein Mann um die 40 kam auf sie zu und begrüßte sie freundlich. Der Mann war groß gewachsen und sein Lächeln schien nicht ehrlich zu sein. Sue wusste gleich, dass sie ihn nicht mochte. Sie gab ihm absolut keine Chance in ihr Inneres zu sehen. Frank fuhr sie trotzdem zweimal die Woche in seine Praxis, was Sue zudem sehr auf die Nerven ging. Ihr Ehemann ließ sie nirgendwo alleine hinfahren. Langsam kam sie sich wie eine Gefangene vor. So kam es dann auch bald zum Streit. Sue wollte ihre Arztwege und auch den zum Therapeuten alleine beschreiten, außerdem hin und wieder einmal alleine spazieren gehen. Frank gefiel das gar nicht. Er wollte sie nicht aus den Augen lassen. Sue erklärte warum. Sie empfand dies als sehr einengend. Ein wenig Freiheit und Selbständigkeit musste er ihr schon einräumen. Er blieb stur.

Sue beschloss nicht mehr mit Frank zu reden, bis er aufhörte, sie wie ein kleines Kind zu behandeln. Ein paar Tage später, kam er plötzlich mit einem Straßenplan in der Hand nach Hause. Frank breitete den Plan am Küchentisch aus und rief nach seiner Frau. Er hatte Sue die Route zum Arzt rot eingezeichnet und die zum Therapeuten in blau. Sue schüttelte den Kopf und meinte nur, dass sie sich lediglich an die Vergangenheit nicht mehr erinnern konnte, aber nicht verrückt, oder tatsächlich unselbständig geworden war.

Sue wusste jedoch, dass Frank es nur gut meinte. Wenn er sich besser fühlte, dann nahm sie halt den dummen Plan mit. Erleichtert machte sie sich im Bad fertig und ging gleich los. Frank stand am Fenster, so als wollte er seinem Kind winken, welches gerade in die Schule ging.

Sue war sehr erleichtert, als das Haus hinter ihr verschwand. Die Fahrt mit dem Bus gefiel ihr. Keiner der Mitfahrenden wusste, dass sie einen Autounfall hatte. Niemand sah sie bedauernd an, weil sie ihre Vergangenheit nicht kannten. Sie war nur eine erwachsene Frau, welche mit dem Bus fuhr. Beim Arzt angekommen, setzte sie sich ins Wartezimmer. Einmal alleine im Wartezimmer sitzen, ohne Frank, der ständig mit zum Arzt hineinging. Zum ersten Mal seit ihrem Unfall huschte ein kleines Lächeln über ihre Lippen.

Sue wurde aufgerufen und ging ganz stolz ins Untersuchungszimmer. Der Arzt stelle mit Erstaunen fest, dass sie diesmal alleine zu ihm kam. Sie erzählte von ihrem Kummer, dass sie sich kontrolliert und eingesperrt fühlte. Ebenso klagte sie, dass sie sich dem Therapeuten nicht anvertraute, weil er ihr äußerst unsympathisch war. Der Arzt fragte, woher sie den Therapeuten hatte. Sie erklärte, dass den ihr Ehemann ausgesucht hatte und er angeblich ein guter Freund eines Freundes war. Sue begann zu weinen, sie wollte nicht mehr zu dem Therapeuten gehen, geschweige, ihm von ihren Gefühlen erzählen. Der Arzt kramte in einer seiner Schubladen und zog eine Visitenkarte hervor. Darauf stand eine Psychotherapeutin, die er empfahl. Er griff gleich zum Telefonhörer und machte einen Termin mit ihr aus, dann gab er Sue die Karte.

Fröhlich ging sie nach Hause. Frank wollte sie lieber nichts von der neuen Therapeutin erzählen, sonst gab es wieder nur Streit. Beim Heimweg ging sie bei einer Fleischerei vorbei. Der Geruch von Wurst und Speck lockte sie ins Geschäft. Sue kaufte sich eine Leberkäsesemmel, Frank musste ja nicht alles wissen. Genussvoll biss sie in die Semmel. Ihr Gaumen fühlte sich wie im zehnten Himmel. Wie konnte sie nur Vegetarierin geworden sein? Kurz vorm Haus kontrollierte sie noch schnell, ob sie keine Reste in den Mundwinkeln hatte. Es war schade um den guten Geschmack im Mund, aber sie kaute sicherheitshalber noch an einem Kaugummi, bevor sie die Türe öffnete. Nun fühlte sie sich wirklich wie ein Kind, welches sein erstes Geheimnis vor den Eltern verbarg.

Am nächsten Tag war sie zum letzten Mal bei Franks Therapeut. Sie sagte ihm, dass es wahrscheinlich besser wäre, wenn sie den nächsten Termin bei jemand anderen hätte. Sichtlich war er genauso erleichtert wie Sue, versuchte aber sein Bedauern auszudrücken. Er hatte einem Freund den Gefallen getan, Sue zu betreuen, doch wenn die Sympathie zwischen Klienten und Therapeut nicht stimmte, konnte es auch kein gutes Ergebnis geben.

Sue verabschiedete sich und freute sich darüber, dass sie noch gut eine Stunde für sich hatte. Sie ging in die Stadt, sah sich Schaufenster an, ging in einige Geschäfte, probierte Kleidung an und kaufte sich eine Wurstsemmel, denn den Leberkäse schien sie doch nicht so gut vertragen zu haben. Als sie so durch die Straßen schlenderte, fiel ihr ein, dass sie keine einzige Jeanshose in ihrem Kleiderschrank hatte. Gleich wurde dies geändert und eine gekauft. Frank staunte nicht schlecht, als sie ihm die Hose vorführte. Er dachte, Sue hätte sich etwas gekauft, was ihre Weiblichkeit unterstrich, stattdessen kam sie mit einer Jean an. Der Ehemann lästerte und Sue war enttäuscht. Sie war überzeugt, dass sie betrunken gewesen sein musste, als sie diesen Mann heiratete.

Da Frank das schlechte Gewissen wegen seiner Äußerungen plagte, näherte er sich langsam seiner Frau. Er schlang von hinten seine Arme um sie und flüsterte ihr eine Entschuldigung ins Ohr. Sue zog den Hals ein, sie mochte nicht, wenn er so nah war.

Franks Hände rutschten auf ihre Brüste und Sue versuchte sie vorsichtig daran zu hindern. Seltsamerweise schien ihn die sanfte Abwehr zu erregen, was ja nicht gerade ihre Absicht war. Sue begann sich immer heftiger zu wehren und stieß Frank von sich weg. Der jedoch zog sie erneut zu sich. Seine Stimme schien vor Erregung zu zittern, Sue bekam Angst. Seine Hände schienen schon wieder überall zu sein. Erneut riss sie sich los und lief in den Garten. Sie hörte noch, wie Frank irgendetwas gegen die Wand schmiss, dann knallte eine Türe. Er war gegangen. Sue dachte nur, er sollte sich doch einfach eine Freundin nehmen und sie besser in Ruhe lassen.

Sie ging Frank besser aus dem Weg. Gesprochen wurde nicht viel und auch, wenn er sich sichtlich Mühe gab, lag Spannung in der Luft. Sue war durcheinander, denn bislang gab er sich ruhig und geduldig. In dieser Situation jedoch bekam er einen seltsamen Blick, der sie noch zusätzlich schaudern ließ. Sue wich bei jeglicher, auch zufälliger, Berührung zurück. Das verrückte war nur, obwohl sie sich vor ihm ekelte, hinterließ der Übergriff keinerlei Schock. Natürlich erweckte Franks Verwandlung ein wenig Angst, aber seltsamerweise konnte sie schnell wieder in ihren Alltag übergehen. Wobei gesagt werden muss, dass dieser Alltag nicht besonders aufregend war.


Es war soweit, Sue ging stolz in ihrer Jeans zu der neuen Therapeutin. Frank wusste von beiden nichts, denn zum Glück musste er länger arbeiten. Ansonsten hätte es vielleicht wieder Diskussionen gegeben. Ihr Ehemann war einer dieser Sorte, der nur zufrieden war, wenn die Frau sich nach seinen Wünschen richtete.

Die Therapeutin war gleich von Beginn an sympathisch. Sie schien recht natürlich und einfühlsam zu sein. Sue erzählte von ihrem Autounfall und dem Koma. Sie berichtete von dem Gedächtnisverlust und ihrem fremden Ehemann, für den sie so überhaupt nichts Positives empfand. Die Therapeutin riet ihr, offen mit Frank darüber zu sprechen. Es war wichtig, ihm zu sagen, wie sie sich fühlte. Er selbst hatte es sicherlich auch nicht leicht, mit der Situation umzugehen. Wenn er über Sues Gefühle Bescheid wüsste, dann gäbe sie ihm die Möglichkeit, besser auf sie einzugehen. Unter Umständen bekam sie dann auch mehr hilfreiche Antworten auf ihre Fragen.

Aus der ersten Therapiestunde wurden spontan zwei, denn Sue sprach wie aufgezogen. All das, was sie bislang unterdrückte und nur mit sich selbst ausmachte, brach auf einmal heraus. Sue dachte bei der Heimfahrt noch über den Vorschlag nach, mit Frank mehr über ihre Gefühle zu sprechen. Vielleicht sollte sie einmal darüber schlafen. Sie würde erst am nächsten Tag entscheiden, ob sie Frank so viel anvertrauen wollte.

Zu Hause angekommen überraschte es sie, dass ihr Mann doch früher als gedacht von der Arbeit zurück war. Er hing schon wieder am Telefon und wie immer ging er gleich in ein anderes Zimmer, damit Sue nicht mithören konnte. Er meinte, dass er bei geschäftlichen Telefonaten absolute Ruhe benötigte. Im Prinzip war es ihr sowieso egal, mit wem er sprach. Sie hatte genug mit sich selbst zu tun. Als er das Gespräch beendete, erfuhr Sue von seinen Plänen. Frank hatte auswärts an einem Projekt zu arbeiten und würde deswegen für eine Woche verreisen. Was arbeitete er eigentlich? Sue fragte nach, aber ihr Ehemann winkte erneut ab und meinte, dass er sie nicht mit Unnötigem belasten wollte. Zudem könne er seinen Beruf nicht in kurzen Worten erklären. Komisch, warum machte er aus seinem Beruf so ein Geheimnis, ein paar Informationen hätten ihr vielleicht beim Erinnern geholfen. Frank war schon ein eigenartiger Mann. Sein dominantes Verhalten machte ihn nicht wirklich beliebter, sondern drängte ihn noch weiter vom Herzen seiner Frau weg. Seine ständigen Entscheidungen, was für sie gut war und was nicht, nervten. Irgendwie passten sie überhaupt nicht zusammen.

Sue richtete sich etwas zum Essen her, danach setzte sie sich vor den Fernseher. Wenn Frank nichts von sich preisgab, dann wollte sie auch nicht mehr mit ihm reden. Irgendwann schlief sie ein und als sie erwachte, war ihr Ehemann bereits abgereist. Der Himmel erhellte sich und ein paar Vögel zwitscherten im Garten. Sue zog sich den Morgenmantel über, öffnete die Türe zum Garten und ging hinaus. Die Luft roch nach Freiheit. Eine ganze Woche konnte sie machen wozu sie Lust hatte. Aber wozu hatte sie denn Lust?

Im Haus gegenüber stand eine Frau und winkte freundlich. Sue dachte sofort darüber nach, ob sie die Nachbarin vielleicht kannte? Die Frau kam näher und grüßte erneut. Sie hieß Sue in der Nachbarschaft Willkommen. Ah, war die Frau erst eingezogen?

Wie sich jedoch herausstellte, wohnte sie bereits seit vielen Jahren in dieser Straße und Sue war die neue Nachbarin. Jetzt war sie verwirrt. Frank hatte nie erwähnt, dass sie erst kürzlich hergezogen waren. Er ließ sie im Glauben, schon vor längerer Zeit in diesem Haus zu wohnen. Wo waren sie vorher, noch bevor der Unfall passierte?

Die Nachbarin lud spontan zu einer Tasse Kaffee ein. Sue war begeistert, eine Tasse Kaffee! Sie nahm die Einladung gerne an, ging ins Haus zurück, zog sich was Anständiges über und machte sich auf den Weg zum gegenüberliegenden Haus. Die Nachbarin stellte sich als Ann vor und da sie es vorzog, mit einem freundschaftlichen Du zu reden, tat es ihr Sue gleich.

Die Beiden verstanden sich auf Anhieb. Ann war Schriftstellerin, deswegen arbeitete sie vorwiegen von zu Hause aus. Sie lebte zudem alleine in dem großen Haus, deswegen freute sie sich über ein wenig Gesellschaft. Das Haus war vorwiegend aus Holz gebaut, strahlte daher eine wunderbare Wärme ab. Anns Garten war nicht so kahl rasiert wie bei Sue, sondern naturbelassener, aber nicht chaotisch, sondern richtig romantisch mit Blumen, welche auch noch in der kühleren Zeit Bienen anlockten. Der Gehweg war ein einzigartiges Mosaik und schlängelte sich um den Gemüsegarten. Mittendrinn war eine alte Schaukel für zwei Personen, rechts und links Laternen, die abends brannten. Sue konnte gar nicht genug bekommen. Augen und Nase waren hell wach und sogen all die schönen Eindrücke ein. Die Frauen beschossen jedoch den Kaffee drinnen zu trinken, denn es zog ein frischer Wind auf.

Im Haus, mit Blick in den Garten, erzählte Sue dann ihre Geschichte. Es fiel ihr überraschend leicht zu reden. Ann war eine gute Zuhörerin, sie schaute kein einziges Mal uninteressiert aus, oder unterbrach Sues Redefluss.

Ihre neue Freundin wunderte sich, dass Frank nichts von ihrem erst kürzlichen Einzug erzählte. Unter diesen Umständen war es kein Wunder, weshalb Sue hier alles so fremd vorkam und keine Erinnerung hochkommen wollte.

Sie schlug vor, einmal ins Internet zu schauen, vielleicht könnten sie Spuren von Sues Vergangenheit finden. Ach ja. Internet gab es ja auch in dieser Welt.

Beide saßen mit großen Augen vor dem Laptop und suchten nach Sues Namen, aber es wollte sich kein Eintrag finden. Ann fragte nach Sues Mädchennamen, aber den wusste sie natürlich nicht. Sie versuchte Frank anzurufen, er müsste ihn doch wissen, aber es ging niemand ans Telefon. Die Frauen gingen ins andere Haus, um in Sues Habseligkeiten nachzusehen, ob sich ein Dokument finden ließ. Die Sachen waren schnell durchgesehen, denn eigentlich besaß sie nur Kleidung, ein paar Bücher und Schuhe. Aber sie musste doch eine Geburtsurkunde, Heiratsurkunde, oder einen Pass haben. Es war nichts zu finden, auch nicht im Wohnzimmer und Franks Arbeitsraum war wie immer versperrt. Dort konnten sie leider nicht nachschauen. Weshalb machte es ihr Frank so schwer, sich an Vergangenes zu erinnern? Was wenn etwas passierte, sie ihre Dokumente brauchte und er war wie gerade eben nicht erreichbar?

Die Beiden saßen am Boden, rundum aktuelle Rechnungen und Belege, die absolut keinen Hinweis auf die Vergangenheit gaben. Auch jetzt war kein einziges Foto zu finden, nicht einmal von der Hochzeit. In dieser extremen Ordnung war absolut nichts Gefühlsbetontes zu sehen, jedoch das Durchsuchen ging schnell.

Ratlos sahen sie sich an. Ann sprang plötzlich auf und meinte, sie sollten noch einmal ins Internet schauen, ob etwas vom Autounfall zu finden wäre. Die Journalisten bauten meist unwichtiges in die Nachrichten hinein. Genau dieses Unwichtige könnte eine interessante Information für Sue sein. Sie gingen erneut in Anns Haus zurück, aber auch diesmal konnten sie nichts finden. Es war, als hätte es nie einen Autounfall in der Gegend gegeben. Der Ort wurde in den letzten Jahren kein einziges Mal in den Medien erwähnt.

Die Zeit verging und Ann musste noch an ihrem Buch weiterschreiben. In einem Monat hatte sie Abgabetermin und den wollte sie nicht versäumen. Also verabschiedeten sich die Frauen, versprachen aber den Kaffeetratsch bald zu wiederholen.

Ann war die erste Person, welche aktiv versuchte, etwas über Sue herauszufinden. Es tat gut, nicht immer alleine grübeln zu müssen.

Sue dachte nach, was konnte sie mit dem angebrochenen Tag anfangen? Frank hatte ihr doch eine Kreditkarte dagelassen, also konnte sie auch damit einkaufen gehen. Kurz darauf saß sie im Bus in die Stadt und kaufte sich einen Laptop mit Internetzugang. Sie fühlte sich lebendig, wie schon lange nicht mehr. Mit Anns Zuversicht, etwas zu finden, wuchs ihr eigener Tatendrang.

Was konnte ihr Besseres passieren? Frank war weg und Ann trat in ihr Leben. Eine gute Nachbarin, die sich jetzt schon wie eine Freundin anfühlte.

Auf der Heimfahrt dachte Sue nach, weshalb sie eigentlich immer mit dem Bus unterwegs war. Wenn sie einen Autounfall hatte, dann müsste doch Autofahren kein Problem sein.

Zu Hause angekommen schaute sie gleich in die Garage, aber Auto fand sie keines darin. Frank war mit dem seinen unterwegs, aber wo war ihr Auto hingekommen? Ach ja, der Unfall. Bestimmt war es ganz kaputt. Also musste auch ein fahrbarer Untersatz her. Gleich Morgen wollte sich Sue darum kümmern, denn am Geld sollte es nicht mangeln. Frank schien genug zu verdienen, was auch immer er arbeiten mochte.

Den restlichen Tag beschäftigte sie sich mit alten Nachrichten im Internet, aber fündig wurde sie nicht. Abends kam Ann noch überraschend auf ein Glas Rotwein vorbei. Sie bot Sue an, ihr beim Autokauf behilflich zu sein. Ann brachte Sue in politischen und kulturellen Dingen am neuesten Stand. Sie lachten viel und es war schön, einmal über anderes als ihrer Vergangenheit zu reden. Es gab ihr das Gefühl, einfach nur ein Mensch zu sein, der sich unterhielt. Ann hatte auch keine Erwartung, dass sie sich Erinnerungen meldeten. Frank machte zwar den Eindruck, viele Erinnerungen verhindern zu wollen, aber wenn sie sich bei manchem ungeschickt anstellte, konnte er sehr unangenehm werden. Er meinte in solchen Momenten meist, dass sie sich zu wenig anstrengen würde, denn dies oder jenes konnte sie früher immer.

Bei Ann konnte sie offen über ihren Heißhunger nach Fleisch reden, über die Lust nach einer Tasse Kaffee, oder die Neigung zu bequemer Kleidung. Ann hauchte mit ihrer humorvollen Art, dem kalten Wohnzimmer Leben ein. Zudem brachte sie Blumen von ihrem Garten mit, über diese sich Sue riesig freute. Die Vase stand mitten am Tisch, damit der Duft der Blüten überall zu riechen war.

Nach der zweiten Flasche Wein ging Ann wieder nach Hause. Sue fühlte sich zum ersten Mal nach ihrem Unfall zufrieden. Mit ihrer neuen Freundin konnte sie Zeit und Kummer vergessen. Welch ein Glück, dass sie ihr begegnet war.


Das Autohaus war voll mit neuen und gebrauchten Wägen. Die Auswahl fiel schwer. Sue wollte lieber ein gebrauchtes Auto kaufen. Sie meinte, bei einem Neuen wäre es schade, wenn sie ihn vielleicht wieder zusammenfuhr. Beide Frauen lachten, denn keine von ihnen hatte eine konkrete Erinnerung an den Unfall und so erlaubte es ihnen die Gefühlswelt, Späße darüber zu machen. Sue hielt nach einem optisch ansprechenden Auto ausschau. Ann erfragte dann die technischen Qualitäten und verhandelte den Preis. Sue bezahlte mit Franks Kreditkarte, die anscheinend kein Limit hatte. Anscheinend stimmte es, dass sie viel Geld hatten.

Der Verkäufer übergab die Papiere und Nummerntafeln.

Sue konnte den Wagen gleich mitnehmen und setzte sich schwungvoll hinter das Steuer. Die Frauen fuhren mit dem Bus in die Stadt, damit sie nicht mit zwei Autos heimfahren mussten. Ann saß am Nebensitz und beobachtete Sue, die auf einen Schlag ein wenig hilflos ausschaute. Sie konnte sich einfach nicht erinnern, wie ein Auto zum Laufen gebracht wird. Die Versuche, zu starten, scheiterten. Immer wieder soff der Wagen ab.

Ihre Freundin bemerkte schnell, was gerade passierte und schlug vor, dass sie erst einmal das Auto nach Hause bringen würde. Sie tauschten die Plätze. Die Heimfahrt erfolgte stillschweigend. Sues Euphorie wurde gebremst und da ihr Gefühlszustand noch recht instabil war, sank die restliche Stimmung für diesen Tag schnell nach unten.

Ann wusste, dass ihre Freundin jetzt Zeit für sich brauchte. Zeit, um das Erlebte zu verarbeiten und verabschiedete sich, mit dem Vorwand Schreiben zu müssen, in ihr Haus. In diesem Fall konnte sie Sue nicht helfen, da musste sie vorerst einmal alleine daran arbeiten. Später waren Späße und Aufmunterungen gut, damit sie nicht in dieser Trauer hängen blieb.

Sue legte sich gleich ins Bett, Tränen kullerten ihr über die Wangen. Ihre Gefühlswelt schwankte sehr zwischen Euphorie und Kraftlosigkeit. Doch so ist es halt im Leben. Von weit oben fällt man manchmal auch weit hinunter.

Sie rollte sich zusammen, zog sich die Decke über den Kopf und schlief bald schluchzend ein.


Am nächsten Tag fuhr Sue mit dem Bus zu ihrer Therapeutin.

Frau Meksch meinte, es wäre recht ungewöhnlich, dass Sue nicht mehr Auto fahren konnte, aber möglicherweise vergaß sie mit dem Autounfall auch ihre Fahrkenntnisse. In den meisten Fällen würden vorwiegend Dinge und Personen vergessen werden, nicht aber Erlerntes, welches unbewusst ausgeführt wurde. Doch der Autounfall war ja mit starken Gefühlen verbunden, also könnten da ihre Fahrkünste mitgerutscht sein. Kann auch sein, dass sich das Unterbewusstsein entschloss, diese Kenntnisse vorerst einmal aus Schutz verschlossen zu halten. Auch die Zeit heilt manchmal Wunden. Wenn Sue also erst viel später wieder mit dem Autofahren konfrontiert würde, dann käme die Unsicherheit, die meist nach so einem Unfall auftritt, nicht mehr so stark hervor. Frau Meksch war tatsächlich eine Künstlerin, jede Situation auch von einer guten Seite zu beleuchten.

Am Ende des Gespräches wies sie darauf hin, wie wichtig es war, mit Frank über ihre Gefühle und Wünsche zu sprechen. Vielleicht würde er dann im Zuge dessen auch offener zu ihr sein. Zudem meinte sie, dass Sue zuerst einmal ihren Gedächtnisverlust akzeptieren müsse, damit überhaupt die Möglichkeit einer Erinnerung gegeben sei. Sie sagte, dass sich Sue zu viel Druck machen würde und genau das verhindere die Offenheit für die Anreize zum Erinnern.

Sue grübelte, so hatte sie das Ganze noch überhaupt nicht gesehen. Vielleicht hatte Frau Meksch ja recht und Sue sollte lernen, gelassener mit ihrer Situation umzugehen. Vielleicht wollte sie es am nächsten Tag versuchen, denn heute hatte sie sich noch eine Recherche vorgenommen.

Nach der Therapiestunde ging sie auf die nächstgelegene Polizeiwache. Sue fragte nach, ob in den letzten Monaten ein schwerer Unfall auf der Hauptstraße passiert war. Zuerst wollte ihr niemand Auskunft geben, doch nachdem Sue ihre Lage erklärte, schaute ein Beamter im Computer nach. Er hatte keinen Eintrag über einen Autounfall, weder vor ein paar Monaten noch vor einem Jahr. Sue war erstaunt und bat den Polizisten, noch einmal nachzusehen, der aber meinte nur, dass sich auch dann nichts finden lassen würde. Er schlug Sue vor, noch einmal ihren Ehemann zu fragen, vielleicht hatte er sich beim Straßennamen geirrt. Ja, mit Frank hatte sie sowieso einiges zu besprechen. Sie bedankte sich bei dem Beamten und verabschiedete sich.

Die Therapiestunde wirkte noch nach. Ann meinte, dies wäre ein gutes Zeichen, denn dann bewege sich etwas in ihr. Vielleicht sollte sie wirklich ihren jetzigen Zustand akzeptieren und mehr nach vorne schauen, anstelle zurück. Sie musste ja deswegen nicht aufhören nach Hinweisen zu suchen.


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