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Anja - das Geheimnis einer Familie
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das Geheimnis einer Familie
Thriller
von Gabriele Schillinger
Ein altes Haus, mitten in einem großen Wald. Meterhohe Nadelbäume, die schon Geschichte schrieben, wechselten sich mit einem saftigen Jung Wald ab, bei dem dicht aneinander gereihte Bäume nur wenig Platz für Pfade ließen. Es duftete nach feuchter Erde und Pilzen. Ab und zu ließ sich ein Reh blicken, doch das kleinste unbekannte Geräusch trieb es schnell zur Flucht.
Ein sorgfältig angelegter Gemüsegarten versorgte die im Haus wohnende Familie mit Lebensmitteln; benötigtes Fleisch wurde gejagt oder beim Nachbarn gekauft. Geschäfte waren knapp eine Gehstunde entfernt und leicht durch den Wald erreichbar. Für gewöhnlich fuhr jedoch der Vater ins Dorf, dafür hatte er sich einen holprigen autobreiten Weg frei gefahren.
Es war ein schönes Haus, abgeschieden aber nicht abgeschnitten von der Gesellschaft.
Das Ehepaar Elisabeth und Robert wohnte mit ihren Kindern in dieser kleinen Idylle, die schon viele Jahre im Familienbesitz war. Die Töchter Senta und Petra waren eineiige Zwillinge. Das Ehepaar war stolz auf die süßen Mädchen, brüstete sich gerne mit ihnen, doch von ihrer erstgeborenen Tochter Anja sollte lange niemand wissen.
Das Mädchen lebte am Dachboden, auf dem sie sich seit ihrer Geburt aufhielt. Wenn Vater Anja das Essen brachte, versperrte er hinter sich den Raum. Lange wussten die Zwillinge nichts von ihrer Schwester, denn Anja wurde versteckt und verschwiegen. Den Grund kannten nur die Eltern und da es offiziell die Kleine gar nicht gab, brauchten sie auch niemandem Erklärungen abgeben.
Es war nicht so, dass sie Anja hassten oder angeekelt von ihr waren, sie liebten sie sogar auf ihre eigene Art und Weise. Nur gab es etwas Unüberwindliches, ein Geheimnis, welches die Familie verbarg.
Anja hatte eine in die Ecke geschobene Matratze, die schon längst zu klein geworden war. Mutter hatte kürzlich frische Bettwäsche gebracht. Anja liebte den Geruch der Tücher und verharrte lange unter der Decke, um den Duft einzusaugen. Dies war einer der schöneren Tage für Anja, sie hatte eine Aufgabe, die Zeit vergehen ließ.
Auf der anderen Seite des Raums gab es einen Eimer, um die Notdurft zu erledigen und einen weiteren mit einem rostigen Wasserhahn darüber, um sich zu waschen.
Ein Fenster erhellte tagsüber das Zimmer und versorgte Anja mit frischer Luft, doch dicke Eisenstangen verhinderten, dass die Kleine hinausklettern konnte. Es wollte ja niemand, dass es sich verletzte.
Kurz nach ihrer Geburt teilte Robert den Dachboden, um ein Zimmer für sie zu errichten. Die Wände zogen sich zwei Meter in die Höhe, bis der Dachstuhl begann. Eine Decke dazwischen gab es nicht. Er verputze die Mauern, die jedoch viel zu feucht waren, um den Verputz lange zu halten. An einigen Stellen brach er großflächig ab und die nackten Ziegel kamen zum Vorschein. Wenn Anja Langeweile hatte, kratzte sie manchmal in den Fugen, doch Vater fand dies nicht besonders lustig und schimpfte lauthals, wenn er es bemerkte. Er kam dann mit einer zerbeulten Schüssel und spachtelte das Mauerwerk wieder zu. Für das Mädchen war es ein willkommener Zeitvertreib, denn nun konnte sie das Ganze erneut hinunterkratzen.
Anja war nun schon sechs Jahre alt, konnte aber kaum sprechen. Ihr fehlten jegliche sozialen Kontakte, um Worte zu lernen. Die Eltern gaben nur das Notwendigste von sich und blieben meist nur kurz im Raum. Auch besaß sie keinerlei Spielsachen, weil man Sorge hatte, dass sie sich verletzen könnte.
Ganz anders war es bei den Zwillingen, sie hatten mehr als sie brauchten. Es war viel zu viel und die Kinder konnten den Wert der Sachen nicht mehr schätzen. Das Spielzeug kugelte im ganzen Haus herum. Die meisten Gegenstände waren kaputt getreten oder erfreuten sich keiner Beachtung mehr. Die Mädchen waren zwei Jahre jünger als Anja, konnten bereits deutlich sprechen, doch ihre Wertvorstellungen waren hinter denen ihrer Schwester.
Senta und Petra waren unruhig. Es war Winter und da durften sie nicht so oft draußen sein wie im Sommer. Zudem arbeitete der Vater noch an einem Zaun der Wildschweine abhalten sollte die Kinder zu verletzten. Wenn Robert den fertig gestellt hatte, durften die Mädchen auch einmal alleine vorm Haus spielen. Mutter könnte dann die Beiden vom Fenster aus beobachten und trotzdem ihre Arbeit in der Küche erledigen.
Es war soweit, Vater hatte den Zaun fertig. Die Zwillinge konnten es kaum erwarten. Sie schlüpften schnell in ihre Jacken, zogen sich Stiefel an und vergaßen fast auf die Kopfbedeckung. Mutter hielt sie zurück. Ohne Haube Fäustlinge durfte im Winter niemand außer Haus.
Vor der Türe war ein schmaler Weg frei geschaufelt, doch dieser war für die Mädchen uninteressant. Sie warfen sich gleich in den hohen Schnee und versanken fast gänzlich darin. Lautes Lachen hallte durch den Wald.
Anja hob ihren Kopf vom Polster, sie hörte die Stimmen ihrer Schwestern. Sie konnte die gesprochenen Worte nicht zuordnen, aber die Gefühle darin erahnen. Da sie nun groß genug war, um aus dem Fenster zu schauen, das sich genau oberhalb der Haustüre befand, sah sie die Mädchen im kalten Weiß herumtollen. Wie sich Schnee anfühlte, wusste Anja, denn manchmal blieb ein wenig an den Eisenstangen hängen. Anfangs erschrak sie noch, weil er in den warmen Händen schnell schmolz und dann zu Boden tropfte. Diese Verwandlung war ihr bis heute noch unklar, ebenso warum er vom Himmel auf die Erde tanzte.
Schnee war zu ihrem Spielzeug geworden. Sie konnte ihn formen oder einfach aufessen.
Petra und Senta bewarfen sich mit Schneebällen und lachten herzhaft, wenn sie getroffen hatten. Anja hatte eine Idee. Sie griff aus dem Fenster, holte sich eine Handvoll Schnee vom kleinen Fensterbrett, formte wie ihre Schwestern eine Kugel daraus und warf sie zwischen den Stangen hinaus. Der Ball landete genau vor den Füßen der übermütigen Kinder. Sie hoben den Kopf und erblickten Anja am Fenster. Sie erschraken derart, dass sie laut schreiend ins Haus stürmten. Mit groß aufgerissenen Augen und zitternden Händen zeigten sie nach oben. Robert ahnte, was passiert sein musste, Anja hatte die Zwillinge erschreckt oder gar bedroht. Die Beiden hörten bereits, wie die Eltern von dem Mädchen am Dachboden sprachen und wie gefährlich sie war. Auf keinen Fall durfte man ihr in die Augen schauen, sonst schlich sie sich in den Kopf und machte einen verrückt. Wenn die Eltern das sagten, dann musste es doch wahr sein.
Anja hatte keine Ahnung, was los war. Sie vernahm zwar, dass sich die Zwillinge fürchteten, aber weshalb, war ihr nicht klar. Sie wollte doch nur ein wenig mit ihnen spielen, auch so viel Spaß haben wie die anderen Kinder. Traurig setzte sie sich wieder auf die Kante der Matratze. Plötzlich waren schwere Schritte auf der Treppe zu hören.
Vater betrat mit wütendem Gesichtsausdruck den Raum. Er stapfte zu Anja und schlug ihr ins Gesicht, sodass die Lippe aufplatzte. Ein Tropfen Blut suchte sich den Weg zum Kinn, was Roberts Zorn jedoch nicht bremste. Laut schimpfend zog er sich den Gürtel aus den Hosenschlaufen und drosch damit mehrmals auf seine Tochter ein. Bevor er endgültig ging, versetzte er ihr noch einen Fußtritt. Anja lag am Boden und weinte. Ihr Körper schmerzte, die Haut brannte und das Herz schien gebrochen. Weshalb war dies eben passiert? Was hatte sie falsch gemacht?
Sie dachte daran, was sie ihren Eltern bloß damit antat, dass es sie überhaupt gab. Sie machte ihnen doch nur Arbeit und Probleme. Anja gab sich selbst die Schuld, einfach nur, weil sie existierte.
An diesem Abend bekam sie nichts zu essen, auch erkundigte sich niemand nach ihren Wunden. Noch immer kullerten Tränen über die Wangen. Es lag auf der Hand, sie war einfach anders. Bei niemandem sonst sah sie jemals, dass aus den Augen Wasser tropfte. Auch die rote Flüssigkeit aus den Lippen war seltsam und schmeckte metallisch, fast wie der rostige Wasserhahn im Raum.
Im Winter wurde es schnell dunkel und da es kein Licht im Zimmer gab, kroch sie vorsichtig unter ihre Schlafdecke. Jede Bewegung schmerzte, selbst die Bettwäsche fühlte sich auf den Gürtel Striemen hart an. Obwohl sie nichts gegessen hatte, spannte der Magen. All die Traurigkeit schien sich darin eingenistet zu haben. Jedes Mal, wenn sie an Vaters Gesichtsausdruck dachte, schien ihr Herz zu zerplatzen.
In dieser Nacht schlief Anja erst spät ein. Sie hatte Angst, dass er noch einmal zurückkommen könnte. Am besten sie war ganz leise, so als wäre sie gar nicht da.
Senta und Petra schliefen ebenfalls schlecht. Das Mädchen am Dachboden wollte ihnen nicht aus dem Kopf gehen. Es schaute überhaupt nicht so gefährlich aus. Dennoch musste stimmen, was die Eltern erzählten, denn weshalb sonst dachten sie noch immer an sie? Bestimmt war dieses seltsame Mädchen bereits in ihre Köpfe eingedrungen.
… Hoffentlich kommt sie nachts nicht ins Zimmer. Hoffentlich hatte Vater ein gutes Schloss an ihre Türe gemacht, damit dieses Wesen nicht ausbrechen konnte …
Als Anja aufwachte, erinnerte sie gleich die erste Bewegung an den Vorfall am Tag zuvor. Ein Stich durchfuhr ihr Herz und erneut liefen Tränen aus den noch verquollenen Augen. Wut und Verzweiflung stiegen langsam in ihr hoch. Diese richteten sich aber nicht auf den Vater, oder ihren Schwestern, sondern viel mehr auf sich selbst. Warum hatte sie bloß den Schneeball hinuntergeworfen? Sie begann sich mit den eigenen Fäusten auf den Kopf zu schlagen, als wollte sie sich selber bestrafen, dass es sie überhaupt gab. Irgendwann versank sie in eine mehrstündige Ohnmacht. Niemand bemerkte es, denn an diesem Tag öffnete sich kein einziges Mal die Türe zu ihrem Zimmer. Es gab weder Essen, noch jemanden, der nach ihr sah.
Senta und Petra warfen Schneebälle an Anjas Fenster. Auch wenn die Angst noch so groß war, die Neugier siegte. Anfangs versteckten sie sich hinter einem Baumstamm, später jedoch wurden sie mutiger. Anja lag allerdings noch ohnmächtig in ihrem Bett und konnte den Einsatz der Zwillinge überhaupt nicht wahrnehmen.
Erst am nächsten Morgen erwachte Anja wieder. Vater brachte Frühstück und stellte es wortlos auf den kleinen Tisch vor dem Fenster. Als Anja sich langsam aufsetzte, jammerte sie leise vor sich hin. Jede Bewegung tat weh. Nun bemerkte sie, wie ausgetrocknet ihr Mund war und ging ganz vorsichtig zu dem Tablett, auf welchem Tee stand. Es war selten, dass Anja Tee bekam, meist war es ein Krug Wasser oder verdünnte Milch. Gierig führte sie die Tasse zum Mund, was zur Folge hatte, dass die angeschwollene Lippe erneut aufplatzte.
Ein paar Stunden später kam Mutter ins Dachgeschoß. Sie schaute ihrer Tochter fast nie ins Gesicht, aber Anja kannte jedes Detail in dem ihren. Sie näherte sich mit einer Tube Salbe in der Hand und hockte sich vor das Mädchen. Ganz vorsichtig cremte sie die blauen Flecken am Körper ein - eine Zärtlichkeit, die Anja bisher nicht kannte. Das Mädchen wollte diesen Augenblick niemals vergessen. Er würde auch in Zukunft noch oft über schmerzhafte Momente helfen.
Als Elisabeth ihren Mann vorm Haus hörte, steckte sie schnell die Salbe in ihren Schurz. Sie erhob sich und eilte wieder aus dem Raum. Anja konnte Furcht in den Augen ihrer Mutter sehen. Hatte auch sie etwa Angst vor Vater?
Es dauerte lange bis die Schmerzen nachließen und die Flecken auf der Haut verblassten, doch die Narben im Herzen blieben.
Anja dachte viel darüber nach, weshalb sie so einsam im Dachgeschoß leben musste. Es konnte nur an ihrer Andersartigkeit liegen und dass sie so viele Fehler machte. Doch was war eigentlich anders an ihr?
Bislang dachte sie immer, alle kleinen Wesen schauten so aus wie die Zwillinge, also auch sie selbst. Sollte das etwa nicht der Wahrheit entsprechen? Sie hatte sich noch nie in einem Spiegel gesehen, geschweige denn gewusst, dass es einen gab. Vielleicht war sie so hässlich wie der Postbote?
Die Gedanken des Mädchens drehten sich im Kreis.
Langsam verabschiedete sich der Winter. Selbst als Vater nach dem Abendbrot das Geschirr und die Laterne holte, konnte das Mädchen noch ein paar Umrisse im Raum erkennen. Anja freute sich schon auf den Frühling, denn der brachte wieder etwas Wärme. Zudem kehrten die Vögel wieder zurück und sangen ihr den ganzen Tag über Lieder vor. Der Wortschatz des Mädchens machte kaum Fortschritte. Sie kannte nur den Namen einzelner Dinge, doch für ganze Sätze reichte es noch lange nicht. Robert zeigte meist nur auf den Teller, befahl mit einem Wort, dass sie essen sollte. Mehr kam da meist nicht. Die Worte der Schwestern waren nicht immer verständlich, oder vom Fenster aus einfach zu leise.