Читать книгу Anja - das Geheimnis einer Familie - Gabriele Schillinger - Страница 4

Seltsame Gegenstände

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Jahre vergingen und die Schwestern besuchten bereits die Schule, lernten rechnen, lesen und schreiben. Anja hingegen wusste nicht einmal, dass es eine Schule gab, geschweige denn kannte sie Buchstaben. Sie sah die Zwillinge jeden Morgen das Haus verlassen. Sie trugen schwere Rucksäcke am Rücken und ein Elternteil ging mit ihnen fort. Erst am Nachmittag kehrten sie wieder nach Hause zurück. Anja beobachtete, wie sich das Verhalten der beiden über die nachfolgenden Monate veränderte. Sie konnte es nicht erklären, fühlte aber, wie die Sorglosigkeit der Schwestern schrittweise verschwand.

Anjas Erlebniswelt war vor dem Fenster. Sie schaute oft den ganzen Tag hinaus, beobachtete wie der Schnee schmolz, die Bäume grüne Triebe bekamen, die Vögel ihre Lieder sangen, die Blätter wieder abfielen und der Himmel neuen Schnee auf die Erde tanzen ließ.

Anja bemerkte, dass ihre Kleidung zu kurz wurde und nicht mehr den ganzen Körper bedeckte. Im Sommer war dies nicht schlimm, aber an kalten Tagen fröstelte sie oft. Wie lange sie diese Kleider wohl schon hatte?

Auch die Zwillinge waren gewachsen und schienen nicht mehr dieselben Mäntel zu tragen. Leute, die sie vorher kaum auseinanderhalten konnten, hatten es nun leichter. Sie merkten sich einfach die Lieblingsfarben der Einzelnen und wussten dann bald, mit welcher der beiden sie es zu tun hatten. Sofern sie nicht absichtlich einen Streich planten. Anja kannte sie aber auch so auseinander, denn Senta war die Ruhigere und Petra die Quirligere. So war es auch Petra, die manchmal noch zum Fenster im Dachgeschoß sah. Auch wenn es nur ein kurzer Blick war, Anja freute sich darüber, denn es bedeutete, dass sie nicht ganz vergessen war.

Nachmittags schien die Sonne ins Zimmer. Das Mädchen liebte es, mit ihrem Schatten zu spielen. Meist kamen die Zwillinge in ihren Geschichten vor. Anja stellte Situationen nach, als die Zwei noch klein waren. Sie vermisste die Schneeballschlachten ihrer Schwestern. Auch als sie früher Verstecken oder Nachlaufen spielten und herzlich dabei lachten. Obwohl Anja wusste, dass die Zwillinge im Haus waren, konnte sie kein Gepolter oder Gequietschte der beiden hören.

In der Nacht kühlte es ein wenig ab, stundenlang prasselte der Regen aufs Fensterbrett. Anja mochte den Regen, denn das Plätschern beruhigte sie und es roch nach frischer Erde.

Als Vater am Morgen Brot und ein Glas verdünnte Milch brachte, warf er einen Bogen Papier und Stifte auf den Boden. Ohne ein Wort ging er wieder hinaus und versperrte die schwere Holztür. Anja schaute die Sachen ängstlich an. Sie hatte keine Ahnung, was das war. Nachdem sie ihr Brot gegessen hatte, schlich sie vorsichtig um die seltsamen Eindringlinge.

Mit der Zehenspitze berührte sie einen der Stifte, der daraufhin zu rollen begann. Erschrocken hüpfte das Mädchen auf die Matratze. Erst als er wieder in Ruhe war, getraute sie sich erneut die Dinge zu umkreisen. Lange beobachtete sie die Fremdkörper. Ab und zu berührte sie einen der Stifte, um zu testen, wie sie sich verhielten.

Die Neugier wuchs, die Angst wurde kleiner. Der Papierbogen fühlte sich kühl an. Sie legte sich ein Blatt auf die Wange, was sichtlich angenehm war. Weil im Sommer die Temperatur im Raum meist sehr hoch war, beschloss sie, die kommenden Nächte auf dem Papier zu schlafen. Es dauerte nicht lange und aus den Bögen wurden viele kleine Teile. Vater war wütend, er zog Anja an den Haaren. Zur Strafe kam er mit einer Schere ins Zimmer und schnitt ihr die langen Haare ab.

Das Mädchen weinte und wusste wieder, dass es anders war.

Lange schaute es auf die am Boden liegenden Büschel. Sie legte sich die Strähnen auf den Kopf, doch wollten sie nicht oben bleiben. Selbst das darauf Herumklopfen half nichts. Anja verstand nicht, weshalb ihr Vater das getan hatte. Er war wütend, doch weshalb?

Immerfort griff sie nach den kurzen, ungleich geschnittenen Haaren. Sorgfältig sammelte sie die abgeschnittenen Strähnen vom Boden auf und legte sie auf das Kopfpolster. Vielleicht waren sie ja am nächsten Morgen wieder angewachsen. In der Früh jedoch waren sie im ganzen Bett verstreut und kitzelten am ganzen Körper.

Eine Woche später brachte Robert erneut Papier. Er knallte den Bogen auf den Tisch, die Stifte legte er daneben, warf Anja einen bösen Blick zu und ging wieder.

Nachdem sich das Mädchen nicht mehr getraute, die Sachen anzugreifen, kam eines Tages Mutter in den Raum. Es war äußerst selten, dass sie die vielen Stufen hochstieg, denn es erschöpfte sie viel zu sehr. Elisabeth war nicht so hysterisch wie der Vater. Manchmal dachte das Mädchen sogar ein kleines Lächeln in ihren Mundwinkeln zu entdecken.

Sie hockte sich vor den Tisch und hielt Anja die Hand entgegen. Das Mädchen erhob sich langsam und ging vorsichtig auf sie zu. Die Mutter nahm einen der Stifte und begann eine Blume zu zeichnen. Anjas Augen waren groß aufgerissen und konnten sich kaum von der Skizze lösen. Der Mutter huschte ein kurzes Grinsen über das Gesicht.

Anja wusste, dass Vater weggegangen war, denn sie konnte fast alles vom Fenster aus beobachten. Mutter hielt ihr einen Stift hin und zeigte, wie sie ihn halten sollte.

Robert kam wieder zurück, da sprang Elisabeth mit einem Ruck hoch, eilte zur Türe und verschwand.

Anja strich sanft über die gezeichnete Blume. Ihr war klar, dass Vater nicht wissen durfte, dass seine Frau bei ihr oben war, deswegen versteckte sie schnell das wunderschöne Werk.

In Laufe der Jahre lockerte sie da und dort einmal einzelne Ziegel, die ihr als kleine Schatzkammern dienten. Hinter dem einen lag eine Vogelfeder, in einem anderen wiederum eine Nuss oder eine Strähne ihrer eigenen Haare. Viele der Sachen trug entweder der Wind, oder so mancher Vogel ans Fenster. Die Zeichnung bekam jedoch einen Ehrenplatz, gleich über ihrer Schlafstelle. Sie sollte sie in dunklen, kalten Tagen im Schlaf beschützen.

Anja betrachtete den Stift in ihrer Hand. Die angespitzte Seite pikste ein wenig, wenn man mit dem Finger darauf drückte. Mutter konnte mit dieser Seite Striche auf das Papier zeichnen, vielleicht gelang es auch ihr? Ungeschickt hielt sie den Stift in der kleinen Hand und zog vorsichtig über den Bogen. Eine fast durchsichtige Linie erschien verwackelt auf der Seite. Anja musste ganz nah heran, um sie sehen zu können und doch erfreute sie ihr Werk. Es folgten noch viele dieser Linien, eine stärker, die andere wiederum schwächer aufgetragen. Der Stift wurde ihr langsam vertrauter. Obwohl es noch sehr unbeholfen aussah wie sie ihn hielt, schien sie die Sache zunehmend unter Kontrolle zu haben. Sie malte solange verschiedene Formen, bis die Mine bis aufs Holz abgeschrieben war oder wegen des starken Drucks brach. Zum Glück hatte sie noch weitere Stifte, die aber auch bald verkritzelt waren. Zum Schluss verwendete sie noch die abgebrochenen Minen, bis auch diese zu Ende waren. Ob Vater ihr noch etwas davon bringen würde?

Anja schaute aus dem Fenster. Eine leichte Brise bewegte die Blätter auf den Bäumen, die ein gleichmäßiges Rascheln von sich gaben. Oben auf der Krone eines der Laubbäume wurde fleißig an einem Vogelnest gebaut. Bald würden dort kleine Vogeljunge einziehen, die das Mädchen dann beobachten konnte. Ach wäre es nicht schön, solche Momente auf dem Papier festhalten zu können?

Vater hatte schon vor einiger Zeit gesehen, dass die Stifte aufgebraucht waren. Obwohl es Anja meist unheimlich war, wenn er nach oben kam, freute sie sich darüber, wenn es um ihr neues Spielzeug ging. Er kniete sich plötzlich vor den Tisch und spitzte die abgebrochenen Stifte mit seinem Messer an. Als er das Lächeln im Gesicht seiner Tochter sah, schenkte er ihr einen bösen Blick, was Anjas Lächeln schnell verschwinden ließ. Als er wieder gegangen war machte sie sich Vorwürfe. Wie konnte sie es wagen, ihn anzulächeln? Sie, das Unglück im Leben der Eltern. Hoffentlich war er ihr nicht allzu böse und nahm ihr die Stifte wieder weg. Als das Abendessen kam, war sie erleichtert, denn es schien alles soweit in Ordnung zu sein.

Senta und Petra hatten Freundinnen zu Besuch. Sie hielten sich vor dem Haus auf und machten viel Lärm. Anja war sehr erstaunt, dass die fremden Mädchen so ganz anders aussahen, als ihre Schwestern. Sie dachte immer alle Kinder schauten gleich aus. Nun kamen Zweifel auf, ob sie den Zwillingen überhaupt gleich war. Also die Haare waren es nicht mehr, denn die Schwestern hatten schönes langes Haar, Anjas jedoch war ungleich und kurz geschnitten. Genau beobachtete sie die Unterschiede an den Kindern. Es war nicht nur das Aussehen, auch die Körperbewegungen, Stimmen und deren Haltung war komplett unterschiedlich.

Da Anja beim Belauschen der Zwillinge ein paar Worte erlernte, versuchte sie heraus zu bekommen, um was es in deren Gespräche ging. Die Freundinnen betonten jedoch manches anders, so dass dieser Umstand und ihr spärlicher Wortschatz kaum ausreichte sie zu verstehen.

Die Mädchen redeten durcheinander, lachten eigenartig schrill und schubsten sich zum Spaß gegenseitig weg. Anja wurde das Gequietschte zu viel. Sie zog sich vom Fenster zurück, verschloss es und hielt sich die Ohren zu. Der Lärm ließ es in ihrem Kopf drehen und brachte eine innere Unruhe hervor. Sie war die Stille im Wald gewohnt, Vogelgesang, das Rauschen der Blätter, Regentropfen, oder einzelne Stimmen, aber nicht das unangenehme Geschrei, welches die natürlichen Geräusche verdrängte. Erst als die Mutter zum Abendessen rief, verabschiedeten sich die fremden Kinder und gingen ihres Weges. Anja war erleichtert, brauchte aber noch lange, um sich wieder zu beruhigen. Leider kamen die Freundinnen der Zwillinge von da an öfter zu Besuch. An diesen Tagen lag Anja meist im Bett, mit dem Kissen auf den Kopf gedrückt, um dem Lärm zu entfliehen. Als die Schulferien vorbei waren wurde es ruhiger. Endlich konnte sie wieder beim Fenster hinausschauen, Vögel belauschen und das Treiben im Wald beobachten. Am Himmel zogen dunkle Wolken auf, welche ständig ihre Formen wechselten. Bald darauf begann es zu regnen. Das Trommeln am Fenster klang wie ein Lied, das eine Geschichte erzählt. Sie lauschte aufmerksam dem Geklopfe und schlief schließlich dabei ein.

Die Wochen vergingen und Anjas Zeichnungen nahmen langsam Form an. Immer wieder beobachtete sie die Natur. Man konnte fast sagen, sie studierte jedes einzelne Baumblatt, Tiere, Schatten und den Himmel.

Wenn Vater Nachschub an Papier und Stifte brachte, nahm er einfach einige ihrer Zeichnungen mit, den Rest warf er verknüllt in einen Eimer. Wenn das Mädchen sich eine der Skizzen aufbewahren wollte musste sie einen neuen Ziegel lockern, um sie dahinter zu verstecken. Zum Glück zählte Robert nie die Papierblätter nach, ansonsten hätte er es bemerkt und wäre wieder wütend geworden. Anja wusste nicht was mit den Zeichnungen passierte. Es reichte ihr einfach nur kritzeln zu können, Spaß dabei zu haben. Irgendwie war sie auch Stolz darauf, wenn der Vater welche davon mitnahm, dann waren sie wahrscheinlich gut gelungen.

Eines Tages brachte Robert drei Äpfel in Anjas Zimmer. Er stellte sie sorgfältig auf den Tisch. Das Mädchen war verwirrt. Meist bekam sie nur einen davon und diesen auf einem Tablett mit den restlichen Speisen. Immer wieder tippte er auf die Äpfel und dann auf ein Blatt Papier. Anja verstand, sie sollte die Äpfel nicht gleich essen, sondern zuerst zeichnen. Es war eine schwierige Aufgabe, denn auch wenn sie sich noch so sehr konzentrierte lief ihr das Wasser im Mund zusammen. So wunderschöne und makellose Früchte bekam sie ansonsten nie. Nachdem sie mit der Zeichnung zufrieden war, griff sie nach einen der Früchte und aß sie gierig. Danach kam die Angst, wie der Vater wohl reagiere, wenn nur mehr zwei der Äpfel da waren. Als sie ihn auf der Treppe hörte verkroch sie sich schnell ins Bett. Vielleicht tat er ihr nichts, wenn er dachte sie schläft. Anja hatte Glück er nahm die Zeichnungen, die zwei Äpfel und ging wortlos. Schade, dass er auch das Obst mitnahm, hätte sie es bloß versteckt.

Es war Herbst. Anja war wieder ein großes Stück gewachsen und bekam ein neues Kleid, welches ihr ein bisschen zu lang war, aber dafür mehrere Jahre passen würde.

Der Wind wurde heftiger, die Tage wieder kürzer und so auch die Zeiten, zu denen genug Licht zum Zeichnen waren. Wie ein Wunder kam es ihr vor, als Vater einmal die Öllampe von Mittag bis spät abends auf den Tisch stehen ließ. Zuerst dachte sie er hätte einfach auf die Lampe vergessen, doch nachdem dies öfter geschah, bemerkte sie seine gute Absicht dahinter. Welch gnädiger Mann er doch war, einer so missratenen Person wie ihr ein solches Geschenk zu machen. Welch ein Glück sie hatte, obwohl so viel Arbeit mit ihrer Existenz verbunden war, sie bekam Licht und Essen. Anja hielt gerne an den Gedanken fest, dass Vater ihr gut gesinnt war.

Anja - das Geheimnis einer Familie

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