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Circular Quay: Sie liebte sogar den Klang dieser Worte.

Noch bevor sie das hell leuchtende Wasserbecken sah, das anschwoll wie etwas Sexuelles, noch bevor sie das unerhörte Blau und den klaren, ansteigenden Himmel erblickte, wusste sie schon allein aufgrund des Klangs der geträllerten Worte, dass es sich um ein unvergleichliches Kreisrund handeln würde, um den Schlüssel – key/quay – zu einer neuen Welt.

Der Zug schwenkte in weitem Bogen herum, vorbei an robusten Gebäuden, und da war sie, erste Blicke durch schmiedeeiserne Streben, jene verschwommenen Teilansichten waren ihr ein stilles Vergnügen. Mit der Rolltreppe nach unten, die unter der schweren Last der Körper ruckelte, durch das elektronische Drehkreuz, das ihr geknicktes Ticket einbehielt, dann wurde sie in einer Menschenmenge gefangen und nach draußen getragen.

Zunächst war sie verwirrt, erschrocken über das unvermittelte Licht, all die Schilder, das ganze Geschrei. Doch dann öffnete sich ein Ausblick, und sie sah die Anlegestellen der Fähren vor sich, in einer Reihe wie Ferienhäuschen in allen Grundfarben, dazu die schaukelnden Boote, grün und gelb, wie Spielzeug geformt, sie kamen an, nahmen träge Schlangen von Passagieren auf, legten ab. Mit einem Herz wie ein Trampolin betrachtete sie die Brücke zu ihrer Linken: ihre moderne Form, die optimistische Wölbung.

Bekannt durch Postkarten und Fernsehwerbung, aber jetzt hier, hier und jetzt, war das Ding selbst, elegant und faszinierend. Oben waren kleine Fähnchen zu erkennen und die Ameisen-Silhouetten von Menschen, die den mühsamen Aufstieg auf sich genommen hatten. Sie wirkten wie auf den Himmel gestempelt, als könnten sie durch nichts je entfernt werden. Sie wirkten unauslöschlich. Der Kleiderbügel hieß es im Reiseführer, aber sie war so viel graziler, als dieser Begriff vermuten ließ. Die Stimmigkeit, der Bogen, die Spannweite erstarrter harter Arbeit. Die beiden starken Pfeiler an den Seiten, die vielen Millionen Nieten.

Ellie starrte sie staunend an wie ein Kind, frei von Ironie. Sie entsann sich an etwas aus ihrer Schulzeit: Janus war mit seinen beiden Gesichtern auch der Gott der Brücken, denn Brücken blicken in zwei Richtungen und sind daher immer zwiefach. Vage erinnerte sie sich auch an ihre Lehrerin Miss Morrison, die Janus an die Tafel zeichnete, ihre ungeübte Sommersprossenhand fuhr mit der Kreide die Umrisse zweier Profile ab. Mit dem Rücken zur Klasse besaß ihre Erscheinung ein gewisses Pathos. Sie hatte stramme Waden und eine Rückgratverkrümmung, und die Klasse hätte sie ausgelacht, wäre sie keine so großartige Geschichtenerzählerin gewesen, denn Geschichten lassen jedes Bild gegenüber den Worten, auf die es sich bezieht, kleiner werden. Römischer Gott: unterstrichen. Die Janusköpfe passten nicht zueinander. Ein einfaches Bild an der Schultafel zerrte an ihren Gefühlen, und Ellie hatte es geliebt, eben weil es nicht funktionierte, weil es keine Dopplung und keine Symmetrie gibt. Und weil der Anblick von Miss Morrisons strammen Waden sie stets beruhigte und tröstete.

Von irgendwoher war das Didgeridoo eines Straßenmusikers zu hören, unterlegt mit einem elektronischen Beat, bumm-bumm, bumm-bumm, bumm-bumm, bumm-bumm. Es löste sich in der Luft auf, zähflüssig und erst vor kurzem veraltet.

Für Touristen, dachte Ellie, ohne Geringschätzung. Für mich. Für uns alle. Bumm-bumm, bumm-bumm.

Im demokratischen Gedränge, im Durcheinander der Menschen, sah sie Sonnenlicht auf den Köpfen der Amerikaner und Japaner; sie sah kleine Kinder mit Eis und Reisegruppen mit Kameras. Sie hörte, dass schönes Wetter entspannte Plaudereien freizusetzen vermochte. Da war ein Zeitungskiosk mit übereinander präsentierten Zeitungen in mehreren Sprachen, die im sanften Wind leicht bebten, und in Abständen saßen Menschen in Kabinen hinter Glas, verkauften Tickets für die Fähren. Da war eine lebende Statue in pastellfarbener Robe, die nach irgendetwas Klassischem aussehen sollte, einen plattgedrückten Hut vor sich, in dem ein paar Münzen glänzten. Ein Saum aus Schaulustigen hatte sich drumherum gebildet, sie betrachteten die vielen verschiedenen Formen von Kunst.

Janus, daher kommt der Januar.

Ellie drehte sich um wie jemand, dem plötzlich etwas wieder einfällt, wandte sich in die andere Richtung. Sie hatte sie noch nicht in Gänze gesehen. Hinter dem letzten Pier und der letzten Fähre befand sich ein Kai mit einer Reihe hässlicher Gebäude und dahinter, ja, unbeeinträchtigte Sicht.

Sie war mondweiß und schien eine große ernste Ruhe in sich zu tragen. Der Fächer ihrer Kammern wirkte zusammengeschoben, dem Wasser zugeneigt. Ein sich entfaltendes Ding, eine Jalousie, eine Art Abfolge. Ellie staunte, dass ein so einzigartiges Gebäude überhaupt je erschaffen werden konnte, etwas so potenziell Launisches oder Eigentümliches. Und dann diese flehende Form, wie ein Körper, der sich in eine tiefe Verbeugung oder eine theologische Geste begibt. Ellie konnte sich Musik dort vorstellen, aber keine Menschen. Sie schien in einem Zustand der Wachsamkeit gegenüber akustischen Bedeutungen zu verharren, konzentriert auf Schallwellen, dem Kreisen und Fließen geöffnet.

Ja, da war sie. Lehnte am klaren Morgenhimmel.

Ellie hob ihre Kamera und drückte ab. Das meistfotografierte Gebäude Sydneys. Im Sucher wurde es zu einer Ansammlung aus Ebenen und Kurven: perfekter Futurismus. Marinetti hätte es erträumt haben können.

Unvermittelte Freude war heutzutage nicht mehr angesagt. Ganz zu schweigen von der banalen Begeisterung für das berühmte Wahrzeichen einer Stadt. Aber Ellies Herz ging auf wie jene Form, die sich ins Blau hinein entfaltete; sie war erfüllt von kitschigem Entzücken und primitiver Euphorie. Hoch oben hinter ihr verhallte das Geräusch eines Zuges, und das Didgeridoo setzte inzwischen kaum noch hörbar sein sanftes Klagen fort. Ein Kind stieß einen spitzen Schrei aus. Eine Fähre legte ab. Von einer anderen Seite kam das Scheppern einer fallenden Gangway, dann die Schritte der von Bord gehenden Passagiere. Irgendwo hinter ihr die Rolling Stones – »Jumpin’ Jack Flash« –, ein blecherner Klingelton. Das jetzt weit entfernte bumm-bumm, bumm-bumm, bumm-bumm und über all dem eine Melodie aus Stimmen, die dem Wasser zu entsteigen schienen.

Ellie hatte das Gefühl, an der Schnittstelle zahlreicher Informationsströme zu stehen. Warum sollte sie sich nicht trotz allem freuen? Warum nicht wie ein Kind sein? Sie nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche und hob sie fröhlich: cheers.

Sie ging los. Mit ihrem Sonnenhut aus Baumwolle, ihrem kleinen Rucksack und diesem unerwarteten Pochen in der Brust trat Ellie hinaus in den lieben langen Tag in Sydney. Sonnenschein wirbelte um sie herum. Der Hafen funkelte fast. Sie hob ihr Gesicht zum Himmel und lächelte in sich hinein. Es kam ihr vor, als würde sie – ja, doch, ja – Licht atmen.


James DeMello blieb eigensinnig freudlos. Noch bevor der ratternde Zug in den Bahnhof einfuhr, wusste er bereits instinktiv, dass er enttäuscht sein würde. Er betrachtete die ledrigen Hände der alten Frau neben sich und spürte das Gewicht der Zeit, all jene Male und Korrosionen. Sie ähnelten den Händen seiner Mutter, Zeichen einer Geschichte, die er nicht wollte. So viel Vergangenheit, dachte er, kehrt in den Körpern anderer zurück.

James erhob sich von seinem Platz, um den Händen zu entfliehen, hielt sich an einer kalten Metallstange fest und blieb stehen. Der Zug schwenkte in einem weiten Bogen herum, vorbei an robusten Gebäuden, und bis in seine Gliedmaßen hinein spürte er, wie die Lok bremste und sich die in Stahl eingepferchten Körper versteiften. Als die Waggontüren aufgingen, folgte er dem Mann vor sich, ging auf die nach unten führende Rolltreppe zu, die Hände in den Taschen.

Am Fuß der Rolltreppe bogen alle zum Kai ab, eine bewegliche Masse, der Architektur zugetan. Vor ihm waren Fahrkartenschalter für die Fähren, daran LED-Leuchtschriftanzeigen in Orange, und Menschen unterschiedlichster Nationen standen für eine Fahrt an. All das hatte etwas Geschmackloses, fand er, und nicht genug Ruhe. Ein Kind schrie, und er zuckte grundsätzlich genervt zusammen; der Rest war ein einziger Missklang, dazu die vage Bedrohlichkeit der Massen.

James wandte sich nach rechts, ging automatisch und folgte anderen. Da waren Schaufenster mit kunstvollen Souvenirs geschmückt, kleine weiße Tischchen mit leeren Weingläsern, außerdem Kellner, angetan mit schwarzen Schürzen und Überheblichkeit. Für den Ansturm um die Mittagszeit war es noch zu früh, aber sie bereiteten sich träge darauf vor. Ein Mann stand mit finsterem Blick und verschränkten Armen dort, betont tatenlos. James stellte sich Sydney von einer Kellnersippe bevölkert vor, einer Geheimgesellschaft von Männern und Frauen, die Rituale der selbstgefälligen Überlegenheit und geheimnisvolle Gesetze befolgten, vereint in der Verachtung gegenüber jenen, die sie bedienten. Sie trafen sich hauptsächlich montags, wenn viele Restaurants geschlossen hatten, und nahmen zeremonielle Mahlzeiten ein, in deren Verlauf sie kleckerten und fluchten.

Schirme mit Kaffee-Logos flatterten im Wind. James umrundete einen, dann einen weiteren, fragte sich, ob er Koffein brauche.

Dann sah er sie in mittlerer Entfernung, zu vorweggenommen, um einzigartig zu sein. Sie tauchte auf T-Shirts auf, auf Handtüchern, sogar kleine Schneekugeln aus Plastik gab es damit; sie konnte nie anders denn als Nachbildung existieren, die das Prestige eines Wahrzeichens für sich in Anspruch nahm. Ihre Schlünde öffneten sich in ständigem Verschlingenwollen gen Himmel.

Weiße Zähne, dachte James. Beinahe wie Zähne. Und obwohl er zuvor zahllose Bilder dieses Gebäudes gesehen hatte, fiel ihm die Analogie erst jetzt, hier und jetzt, auf. Das Monumentale ist nie genau das, was wir erwarten.

Auf einem Jahrmarkt in Sydney, einer Easter Show vor langer Zeit, hatte er einmal in das gähnende Maul eines Hais geblickt, in das große Oval einer unerhörten, unsagbaren Bedrohung. So war der Tod, das wusste er, er hatte die Form von elfenbeinernen Dreiecken. Der Tod war die kraftlose Panik, in der man sich selbst als rohes Fleisch vorstellt. Oder noch weniger; als etwas, das es zu verschlingen gilt, ein treibendes, essbares Nichts in von Blut getrübtem Wasser.

Am Eingang zum Festzelt hatte ein Schild »Ungeheuer der Tiefe« angekündigt, und ein alter Mann mit ungepflegten Bartstoppeln und einem Anflug von Verfall im Gesicht hatte ihn mit einer leichten Berührung seines Hinterkopfes hereingeführt. Er kann den Augenblick noch immer sehen, jene im braunen Licht leuchtenden Zähne, kalt und verstörend. Er kann ihn noch riechen: den Gestank von abgestandenem Tabak und ungewaschener Kleidung, dazu ein stechender Geruch, als hätte jemand in eine Ecke gepisst. Als sich der Zelteingang mit einem leisen Pfffhh schloss und ihn einsperrte, war James sicher, er würde dort sterben, in die Dunkelheit verschluckt werden wie in den Bauch einer Bestie. Abergläubisch und ängstlich hatte er seine Füße in ein schmales Dreieck aus Sonnenlicht gestellt, das durch den Eingang fiel. Er blickte von seinen Schuhen zu den Zähnen und noch einmal zurück: von den Schuhen zu den Zähnen, von den Zähnen zu den Schuhen. Er konnte weder das Haigebiss in seiner vollen Größe betrachten, noch gar nicht hingucken. Er war ein Kind, das sich entsetzlich fürchtete vor dem, was ihm seine Phantasie eingeben mochte.

Der stinkende Mann trat hinter ihn, und James spürte seine Hand auf der Schulter. Er erstarrte gefügig und blickte im Schein des Zitronenlichts nur auf seine Schuhe mit den gebundenen Schnürsenkeln. Und dann machte er sich los, James drehte sich um und floh. Er stieß gegen die Zeltöffnung, panisch, und fiel vornüber aufs Gesicht.

Warum, fragte er sich jetzt, schauderte die Zeit immer wieder auf diese Weise und ließ ihn stets zu dem unzureichenden Jungen zurückkehren, der er einmal war, in kurzer Hose und voller Angst vor dem gezackten Anblick weißer Zähne? Eine wenige Minuten währende Erfahrung, Jahre her und zweifelsohne stark übertrieben.

James wandte sich um, genervt von der lächerlichen Belagerung durch seine Erinnerung.

Nein, nein, nein. »Clocks« von Coldplay schoss ihm in den Kopf: closing walls and ticking clocks – das war der Fluch seiner Generation, dass man für alles den passenden Soundtrack hatte.

James wandte sich ab und ging über den Pier zurück. Er sah die Brücke, sah die Fähren, sah die pfirsichfarbene Fassade des Museum of Contemporary Art; sie war mit roten Transparenten behangen, die für irgendetwas warben. Sein Blick war teilnahmslos, entrückt. Was es zu sehen gab, empfand James als nicht weiter erwähnenswert, trist im Rahmen seiner schlechten Laune, er kehrte zum Hafen zurück und verzog sich in ein Café, als müsste er sich gegen das verteidigen, was andere unterhielt. Leute rauschten um ihn herum, allesamt in eigenen Gedanken, jeder – die Vorstellung war flüchtig – mit einer eigenen Ahnung von dem, was ein einzelnes Leben zunichte machen kann, Zähne, eine Berührung, ein brauner Raum, festgefroren in der Zeit nach einem Blick zwischen zwei Zeltbahnen hindurch. Aber die Masse war ein Kollektiv und unbestimmt. Sie hatten keine Verbindung zum Ich. Sie waren ungeniert autonom. Die Massen, wie er sie gerne nannte.

In den blauen Schatten des Cafés fand James einen freien Stuhl mit dem Rücken zum Fenster. Er fühlte sich leicht krank. Er fühlte sich unglaubwürdig. Ein Kellner mit einer Haut wie Bimsstein und einem strähnigen Pferdeschwanz nahm seine Bestellung professionell cool entgegen und entschwand anschließend wieder. Auch er gehörte zu der Geheimgesellschaft, ein kriecherischer Mitläufer. Mit dem Klappern von Besteck und dem Klirren der Teetassen, dem infernalischen Getöse der Kaffeemaschine und dem Brüllen des Milchschäumers schwoll auch das Gewirr der Stimmen an. Was aber war es darüber hinaus? Der Sommer aus Vivaldis Vier Jahreszeiten dudelte vor sich hin. Wie er das hasste: wenn Musik nebensächlich im Hintergrund lief.

Als sein Espresso mit einem Glas Wasser eintraf, schluckte James eine Xanax, würgte seinen Kummer herunter. Chemie, dachte er, um fehlgeleitete Chemie zu korrigieren. Neural künstlich, in biochemisch ausgezeichnetem Zustand, dem abgespannten, kranken Körper so etwas wie Selbstheilung abringen. Vielleicht würde er in einen Spiegel sehen und über seine Wiederherstellung staunen. Noch könnte er sich erholen.

Jedes Geräusch war wie verstärkt; das Café war alles andere als ein Rückzugsort. Der Lärm hallte von den gläsernen Wänden wider. Ein Ständer mit abgegriffenen Zeitschriften, von denen ihm glatte Gesichter mit Schmollmündern entgegenblickten, lehnte an der Wand und lud die Gäste zum trägen Durchblättern ein. Ringsum sah James Abfall – eine Serviette zerknüllt zu einer aufblühenden Kugel, Ringe von Getränkedosen, ein Schokoriegelpapier, gefaltet wie Origami, aufgerissene Zuckertütchen, Essensabfälle, die Kleinigkeiten aus gekauftem Krempel, die Menschen überall zurücklassen, mit denen sie, wie im Märchen, eine Spur aus Müll legen, um später in einem sagenumwobenen finsteren Wald gefunden zu werden.

Jemand hatte eine winzige Pyramide aus Zucker auf dem Tisch aufgeschüttet. James presste sie mit seinem Zeigefinger platt und dachte, er würde gleich aufschluchzen.

Die Tradition aller todten Geschlechter lastet wie ein Alb auf dem Gehirne der Lebenden. Eines seiner Lieblingszitate. Karl Marx. 1852.

Sogar der Kaffee war bitter.


Pei Xing war schon oft hier gewesen, aber sie liebte die Bahn, die hoch oben durch das eiserne Gerüst ratterte, das der alten Waibaidu-Brücke ähnelte, das Gedränge der Massen und den wiederhallenden Lärm der Menschen, die zum Kai hinuntergingen. Westliche Menschen fühlten sich, das hatte sie gehört, in großen Menschenansammlungen einsam; dabei schien das so falsch zu sein, denn gerade dort gab es eine Vitalität, ein Chi, zwischen all den Körpern, einen kollektiven Geist, eine Verschlingung. Die Rempeleien, die Berührungen, das Volk in Bewegung zu erleben, das war etwas Wunderschönes. Niemand sah sie, das wusste sie; sie war eine unscheinbare grauhaarige Frau und obendrein noch Asiatin.

Ching-chang-chong. Chinesen sehen doch alle gleich aus.

Ihre Eltern hätten es nicht verstanden: dass sie in Australien lebt, hier zu Hause ist.

Pei Xing bog mit den anderen um die Ecke und fuhr die Rolltreppe hinunter. Vor ihr stand ein junger Mann, der seine kleine Tochter führte. Er hielt ihre Hand hoch und schob sie vorwärts.

»Achtung jetzt, Schatz.« Das Kind setzte seine Füße vorsichtig auf die bewegliche Treppe, behielt sie bis ganz unten im Blick, als fürchtete sie auszurutschen. Sie war hübsch, ihre Haare auf chinesische Art in zwei geflochtene Zöpfe geteilt, ihr Gesicht strahlte vor Vorfreude und Aufregung. Pei Xing glaubte, sie käme vielleicht vom Land und würde all dies zum ersten Mal sehen. Ihre Bewegungen hatten etwas Zaghaftes und ganz und gar Unschuldiges.

Das reine Herz des Bauern.

Es hätten die geschmeidig wogenden Bewegungen eines Drachen sein können, diese Gestalten, die auf der Rolltreppe herunterglitten, wie ein einziges Wesen sehnig und leicht zuckend durch den Tunnel ins grelle Licht dem Wasser entgegenströmten.

Am Kai kaufte sich Pei Xing ein Eis bei ihrem Freund Aristos. Sie kannten sich schon lange, und auch deshalb kehrte sie immer wieder gerne zum Kai zurück, um ein paar Sätze mit dem alten Mann hinter dem Tresen zu wechseln. Er war zur selben Zeit nach Sydney gekommen wie sie, irgendwann Ende der Achtziger.

»Hey, Chinablume!«

»Hey, alter Fischer!«

»Immer noch so mager, Chinablume.«

»Immer noch zu dick!«

Der alte Fischer lachte. Das war ihr Ritual, ihre Sprache der Verbundenheit.

Aristos schabte eine Kugel ihrer Lieblingssorte – Haselnuss – und drückte das Eis mit dem Löffelrücken zu einer ungleichmäßigen Form zusammen. Wie immer weigerte er sich, Geld von ihr anzunehmen, hielt sie aber zum Plaudern auf. Sein Rücken schmerze wieder, sagte er, und die Arthritis habe sich auch wieder gemeldet. Voula wolle ihn immer noch zu einer Reise in die Heimat überreden, die er sich nicht leisten konnte. Eleni erwartete sein erstes Enkelkind, Gott sei’s gelobt. Und Dimitris, dieser Tunichtgut, trank immer noch zu viel.

Im Gegenzug erzählte Pei Xing, dass Jimmy beruflich nach wie vor recht erfolgreich war, ein braver Junge, er strengte sich sehr an. Ein treuer Sohn. Seine Freundin aus Hongkong, Cindy, war eine ganz reizende junge Frau.

Als Pei Xing über den Tresen blickte, sah sie die Zukunft. Aristos wirkte verletzlich. Der Tod kam auf ihn zu. In einem kurzen Moment sah sie ihn: graue Schwingen, eine fedrige Präsenz, die über Aristos’ müdem erröteten Gesicht schwebte. Sie sah seine Augen sich sanft schließen, wie in Zeitlupe, dann ging das weiche lebhafte Gesicht in eine harte starre Maske über. Sie hörte ihn einen Atemzug ausstoßen, den zarten Hauch, der dieses Leben vom nächsten trennt. Und in derselben halben Sekunde sah sie auch, wie sehr er geschuftet und gelitten hatte und dass er jetzt zum unabwendbaren Sterben überging.

Es gibt Dinge, die man weiß, aber niemals sagen kann. Es gibt plötzliche Intuitionen, unfehlbar, und man kann nur den Kopf vor dem Schicksal neigen und vernünftigerweise schweigen. Das Fleisch schmolz immer schon, die Zeit wurde ständig ausgehöhlt. Die Geschichte der Völker und der langsame Abwärtssog. Trotz all dem, der Eiscreme, der Menschenmenge, dem herrlichen Sommertag, war keine Seele vor plötzlicher Auslöschung gefeit, das wusste Pei Xing. Aristos hielt inne und schloss den Mund, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Er lächelte, wenn auch traurig. »Ach! Was soll man machen?«, sagte er und zuckte übertrieben melancholisch mit den Schultern, fuchtelte mit seinem Löffel, blickte zum Himmel hinauf und zeigte an, dass alles, was er vor sich hatte, in Frage stand, die Eiscreme, die Menge, der herrliche Sommertag.

Pei Xing betrachtete die bunte Reihe der Behälter vor sich. Sie trugen wunderschöne Bezeichnungen: nocciola, limone, bacio, fragola.

»Du gibst den Menschen zu essen«, sagte sie leise. »Das ist gut. Menschen zu ernähren.«

Es war die einzige Segnung, die sie aufbringen konnte, eine kleine Anerkennung seiner Tätigkeit. Sie wollte einfach nur ihr Mitgefühl zeigen und ihm sagen, dass sie es wusste. Sein faltiges Gesicht verzog sich. Seine Augen wurden feucht. Auch er wusste es, das wurde ihr jetzt klar. Ah, er wusste es.

Pei Xing sagte Auf Wiedersehen, vielleicht zum letzten Mal, und ging langsam davon, bemühte sich, die Vision nicht zu verdichten oder voreilig zu trauern. Aristos winkte, sah dabei aus wie ein griechisch-orthodoxer Priester. Seine zum Himmel hin geöffnete Hand hing einige Sekunden lang in der Luft. Er hätte ein Ikonenheiliger sein können, bereits vor langer Zeit.

Es war Pei Xings Schicksal, Dinge im Voraus zu wissen, ihre ganz besondere Bürde. Selbst als Kind hatte sie schon Dinge gewusst, hatte den Tod frühzeitig kommen sehen, in den Falten eines Gesichts gelesen, was bevorstand. Sie wandte sich um, wie man dies tut, wenn man in die Zukunft schaut. Der Körper ist auf diese Weise intelligent, instinktiv wendet er sich den Dingen zu oder schmettert sie ab. Sie entfernte sich von den beiden Teenagern, die nun Aristos Aufmerksamkeit beanspruchten. Da war noch eine andere alte Freundin, Mary, die sie seit langem schon aufsuchen wollte. Mary schlief mit ihren Habseligkeiten in eine Ecke verkrochen unter dem Eisenbahnbogen, nur teilweise vor den Blicken der Kaibesucher verborgen. Ihre Plastiktüten waren zu sehen, aber sie war irgendwo anders, schmutzig streifte sie umher, suchte etwas zu trinken. Der Plastikberg wirkte instabil, als könnte er mit einem Niesen zum Einsturz gebracht werden. Pei Xing bückte sich in den vermüllten Raum, der Marys Zuhause war, schreckte ein wenig zurück wegen des Gammelgeruchs und steckte einen Zehn-Dollar-Schein dorthin, wo ihre Freundin ihn finden würde, da war sie sicher. Dann blieb sie eine Minute lang still stehen, blickte noch einmal auf die Plastiktüten, das klägliche Häufchen eines Lebens, spürte Traurigkeit in sich ansteigen über die verkehrte Ordnung der Dinge, über Mary, die nun verloren war, ihr gesamtes Leben vergebliches Verlangen, über Aristos, der sterben und nicht mehr am Wasser stehen, und über seine Frau Voula, die weinen und ihre Heimat nie wieder sehen sollte.

Pei Xing wartete in der Schlange und kaufte sich eine Fahrkarte für die Fähre. Der Mann am Schalter erkannte sie nicht, obwohl sie bereits viele Male seine Kundin gewesen war. Sie war froh, dass es eine von den alten Fähren war, grün, gelb und hölzern, wie ein Boot, das sie als Mädchen auf dem Huangpu-Fluss gesehen haben könnte; die neueren weißen, schlank und glänzend, waren einfach nicht dasselbe. Supply hieß die Fähre.

Pei Xing fand einen Sitzplatz weiter hinten und aß ihr Eis. Das Boot ächzte und quietschte, schaukelte sanft, dann schwankte es mit einem pochenden Puls davon, den sie nun und auch früher schon als menschlich wahrnahm. Andere nahmen Platz, telefonierten, sandten SMS, reduzierten die Welt und ihre unendlichen Gefühle auf wenige leuchtende Codes. All jene flinken Zappelfinger, rätselhafte Kreisläufe tippend. All jene Mikroprozessorenzeichen und elektronischen Hallos. Der Mann, der sich auf den Platz neben ihr setzte, klappte einen buchgroßen Laptop auf. Eine angenehme Harmonie, G-Dur, ertönte, und das Gerät leuchtete auf wie eine persönliche Lampe.

Ich bin alt, dachte sie und wandte sich ab, um aus dem Fenster zu sehen. Ja, ich bin alt.

Da war sie, jadeweiß über dem Wasser. Sie konnte sich nie satt daran sehen. Ein Fixpunkt, auf den sie sich verließ. Die Formen ruhten aufeinander wie gestapelte Porzellanschüsseln, zerbrechlich, geneigt, unerwartet harmonisch.

»He«: Harmonie.

Sie sah das chinesische Schriftzeichen, Weizen und einen Mund; sie sah die schwungvollen acht Züge des Wolfshaarpinsels. Sie spürte die Hand ihres Vaters auf ihrem Rücken, er korrigierte ihre Haltung, während er sie in Kalligrafie unterrichtete. Manchmal korrigierte er auch die Höhe ihres Kinns mit der zartesten Berührung, einer einzigen Fingerspitze, dann beobachtete er sie, wie sie den Pinsel in die Tinte tauchte und sich an einem schwierigen Schriftzeichen versuchte.

Das Bauwerk glitt vorbei. Pei Xing erlag der Illusion, es würde sich bewegen, während sie noch immer stillstand. Sie blickte zurück, um es davontreiben zu sehen, es wurde immer kleiner und zum Ornament, klein genug, um in der Hand gehalten zu werden. Jemand an der Reling draußen bewegte sich und versperrte ihr die Sicht.

Mary, wo war Mary? Ach, die arme Seele. Und Aristos, armer Aristos.

Pei Xing spürte das Vibrieren der Fähre und vernahm das gemurmelte Brummen des Motors. Sie schloss die Augen und sah sich selbst, wie andere sie vielleicht sahen: als Miniatur, eine Chinesin mit unergründlicher Aura. Eine Art Type, oder eine Leerstelle. Dann sah sie sich selbst von innen: Jene Schichten des Ich reisten langsam, sachte über das Wasser und durch die Zeit, das Kind, das eine weiße, zarte Teetasse von seiner Mutter bekam, die Schülerin mit Zöpfen, der man beibrachte, still zu sitzen, die Hände in den Schoß zu legen, die Geliebte, die der Vereinigung mit dem Körper eines Mannes gewölbte Räume öffnet, die Mutter, die sich weinend vor Freude über den Kopf ihres kleinen Sohnes beugt. In dem wilden Durcheinander beim Verlassen Shanghais waren diese Formen des Ich ineinander übergegangen; jetzt in der rückblickenden Betrachtung war sie in der Lage, diese aufzufächern. Heutzutage hatte sie sich angewöhnt, sich selbst auf diese Weise zu betrachten, die Concertina eines Lebens, in dem sie ihre eigenen Falten und Zwischenräume sah. Ich habe viele Leben gelebt. Das hatte etwas Tröstliches, nicht eine zu sein, sondern viele, nicht nur eine Sprache zu sprechen, sondern mehrere, nicht eine für sich alleinstehende Vergangenheit zu haben, sondern gleich einen ganzen Strang, multiple Vergangenheiten.

Sie musste ein wenig eingenickt sein. Als sie blinzelnd aufwachte, hatte die Fähre das Nordufer erreicht, die Passagiere standen auf und machten sich bereit auszusteigen. Da war die Unruhe aufbrechender Körper, Stimmen erhoben sich, sprachen über den Zielort, Handtaschen wurden umgehängt oder geöffnet, oder man griff nach einem Handy. Irgendwoher kam Mozart – oder bildete sie sich das nur ein? –, ein Hauch von Cherubinos Arie schwebte durch die Luft. Draußen strahlendes Licht. Hohe Bäume neigten sich im Wind, der vom Wasser kam. Dort waren die Häuser reicher Menschen und die Biegung eines steilen Anstiegs von Schlingpflanzen und Blumen bekränzt.

Die Fähre rammte den kleinen Anlegesteg eines Paradieses, das alle für selbstverständlich hielten.


Als Catherine aus dem Zug stieg, ließ sie ihre Fahrkarte fallen. Scheiße: Sie brauchte sie zum Verlassen des Bahnhofs.

Im Dämmerlicht des Bahnhofs flatterte sie unter laufende Schuhe. Aber dann blieb die Fahrkarte liegen, und sie bückte sich danach, richtete sich wieder auf und hielt sie wie ein besonderes botanisches Exemplar hoch erhoben, das papierne Blütenblatt einer seltenen Orchidee, die man nur auf Bahnhöfen findet.

On a wet black bough.

Auf einem nassen schwarzen Ast.

Sie fuhr mit der Rolltreppe abwärts und bewegte sich mit der Menge wie mit einem einzigen Körper.

»Achtung jetzt, Schatz«, hörte sie eine Stimme zu einem Kind sagen, und sie wurde erfüllt von poetischem Impuls und zärtlicher Neigung. Das Kind war ein Mädchen mit glitzernden rosa Klammern im gescheitelten Haar. Ihr Vater hielt ihre Hand über den Kopf und führte sie nach unten. Catherine betrachtete ihr schwingendes Kleid, ihre nackten Beine und die Riemen ihrer Sandalen. Ein Erinnerungsfetzen wurde wach, den sie jedoch nicht richtig zu fassen bekam.

Unten – am Kai – suchte Catherine sie dann sofort. Sie fragte einen arabisch aussehenden Mann an einem Zeitungsstand: Er lächelte freundlich und streckte seinen speckigen Arm nach rechts. Auf diese Weise wies er ihr den Weg, ohne ein Wort zu sagen.

Catherine ging vorbei an dicht gedrängten Anlegestellen und Cafés und dem wilden Trubel der Freizeitmassen. Es gab Schlangen an den Fahrkartenschaltern der hübschen, altmodischen Fähren, die einheitlich smaragdgrün und gold gestrichen waren, und Leute spazierten einfach nur umher, standen am Kai oder ließen sich fotografieren. Da war eine lebende Statue, unmenschlich starr, ein römischer Gott.

Dort hinten schmiegte sie sich in die Biegung der Hafenanlage, die gefalzte Form streckte sich nach oben, wie zum Leben erwachte Blütenblätter. Die Spitzen hätten auch aus einer Schale weißer Rosen kommen können, es war der Moment, wenn sie müde werden und erschöpft die Köpfe hängen lassen, kurz vor dem Verblühen. Blown, dieser seltsame Begriff, a bowl of blown roses. Sie hatte nicht erwartet, dass etwas so von Grund auf Hartes und Helles an Wind und Blumen erinnern könnte. Sie hatte nicht erwartet, auf obskure Weise an ihren eigenen Körper verwiesen zu werden.

»Gib mir einen Kuss!«

Catherine hörte einen schottischen Akzent, eine Spur von beschwipstem Überschwang.

Und dann: »Über den Jordan, das Auto; scheiß Karre, das war’s, hinüber, denke ich, verkaufen oder was? Ja? Was meinst du? Was? Was hast du gesagt?« Mit überlauter Stimme in ein Handy gesprochen.

Catherine liebte australische Akzente und wie sie durch die Luft schnarrten. Das Gespräch wurde in einem freundlichen Knurrton geführt. Französisch war da auch – sie erkannte die Silben, die sie zum ersten Mal als Schulmädchen in Dublin gehört hatte – und Fragmente von, was war das? – melodiösem Mandarin. Catherine sah einen jungen Mann, der nach seiner Freundin griff. Er packte sie um die Taille, warf sie herum und küsste sie theatralisch, beendete den Kuss mit einem dicken Schmatz. Es war der Schotte, ebenfalls ein Besucher, wie sie selbst. Er trug eine NYC-Kappe auf dem Kopf und strahlte das unbesonnene Selbstbewusstsein eines Frischverliebten aus.

Und das war der Moment, in dem sie daran dachte: Schönheit wie ein Kuss.

An einem Tag wie diesem, einem strahlenden Januartag, an dem das Licht vom Himmel fließt und das Verwehte nicht Auflösung, sondern Zeichen von Vollkommenheit ist, wenn sich andere Leben ringsum zu öffnen und aufzublühen schienen, ließ sich leicht glauben, dass die Anrufung von etwas Schönem Erotik barg. Das war es, Erregtheit, die Ruhe eines neuen Vergnügens, der Trost einer plötzlichen Verbindung, intim und unvorhergesehen. Aus einer Art demütigem Instinkt heraus neigte sie den Kopf, dann hob sie ihn wieder und sah erneut die Blütenblätter.

Catherine ertappte sich dabei, wie sie an den Geliebten dachte, den sie zurückgelassen hatte. Sie dachte an Lucs Mund, seine körperlichen Reize, und die gezackte Narbe auf seiner Oberlippe, das Mal, das zurückgeblieben war, nachdem er als Kind mit einem Korkenzieher gespielt hatte. Es war das Merkmal, an dem sie ihn erkannte, die Vertiefung, die seine Wunde war. Wenn sie sich liebten, suchte ihre Zunge mit einem vorwitzigen Kuss danach. Jetzt dachte sie daran, wie ihre Lippen seine Brust mit Küssen bedeckten, seine Haut schmeckten. Sie dachte an ihre Hände, die in einer schwülen, warmen Nacht nach seinen kühlen Pobacken griffen; wie herrlich männliche Pobacken ganz allgemein waren, stets unverdorben, auch wenn andere Körperteile schon hingen oder sich verfärbten. Sie betrachtete ihn gerne beim Schlafen, mit dem Gesicht nach unten, einen Arm unter den Körper geschoben, die süße und schläfrige Komprimierung seines Gesichts. Selbst sein Schnarchen hatte ihr gefallen, wie es in den Tiefen seines Schlafs nachhallte, die Bettdecke beben ließ, ihn irgendwie ernst machte, älter und verletzlicher. Catherine empfand Wollust hier in der Öffentlichkeit, wo sie in einiger Entfernung zum Baudenkmal stand. Ihren Besichtigungen unterlag das Chaos erinnerter Berührung.

Und da war noch etwas. Als Catherine innehielt, sah sie zu ihrer Linken die Brücke über dem Wasser, den Hafen und eine kleine Fähre, die gen Norden tuckerte. Brücke, Wasser, Hafen, Fähre: Sie alle loderten, alle waren erleuchtet. An diesem Flecken Erde sammelte sich das Licht wie von der Sonne doppelt konzentriert. Vielleicht das Wasser und seine besonderen lichtbrechenden Eigenschaften, jene glänzenden Blütenblätter, die Geografie geschützter Räume oder auch die blinzelnden Hochhäuser am gegenüberliegenden Ufer, vielleicht trugen sie alle zu einer gesteigerten Leuchtkraft bei.

Catherine kramte in ihrer Tasche nach ihrer Sonnenbrille, dachte an Lucs blasse Schulter, von hinten betrachtet. Sie spürte die flüchtige Berührung, geisterhaft, eines unrasierten Kusses. Elvis Costellos »I Want You« ging ihr traurig durch den Kopf.

Wie kamen die Australier nur mit diesem ganzen Licht zurecht?

Als Catherine eine schattige Stelle suchte und ihre Sonnenbrille aufsetzte, sehnte sie sich kurz nach einem bedeckten Himmel und in Nebel getauchten Dingen. Das traurige Gesicht ihrer Mutter flackerte durch ihre Erinnerung, eingerahmt von einem billigen Nylontuch zwinkerte sie ins sprühende Meer. Das musste Sandymount gewesen sein, und das Meer war wie flüssige Asche. Es musste kurz danach gewesen sein. Eine Woche, nicht mehr. Mitten im Winter. Dem Trauerwinter. Chrysanthemen, keine Rosen.

Wie ein Standbild aus einem Schwarzweißfilm der fünfziger Jahre – das Gesicht der Frau leicht vom Zuschauer abgewandt, es schwenkt zum Ozean, der Ton ist irisch, elend, der Soundtrack getragen, ein Bach-Cello. Diese Szene hätte Fiktion sein können, aber sie war bereits unabänderlich.

Und jetzt blickte sie über den weiten, sie umfassenden Hafen, die überwältigende Schicht aus Sonnenfeuer und Oberflächenglanz, die sich bis in die Ferne erstreckte, und sie fragte sich, was sie hier machte, hier in Sydney, in Australien. Unruhe hatte sie bewogen, rund um den ganzen Erdball umzuziehen. Das Stellenangebot war auf ein Jahr befristet, aber das genügte; sie hatte die Notwendigkeit verspürt, London zu entkommen. Sie hätte dort nicht bleiben können, bei Luc, sie wäre herzlos geworden im Sumpf ihres Kummers. Sie hoffte, er würde ihr vergeben, ihr folgen und verstehen, weshalb sie geflohen war. Die Ruhe ihrer beider Leben war durch ihre starrsinnige Trauer zerstört. Sie hatte ihre Gespräche entstellt, ihre Zufriedenheit verdorben, die Räume zwischen ihnen bis zum Rand erfüllt. Elf Monate war es jetzt her, und noch immer konnte sie sich nicht davon befreien.

Catherine bemerkte die winzigen menschlichen Gestalten, die sich in einer Reihe auf der Brücke fortbewegten. In ihrer Schlichtheit und ihrem vage unsinnigen Bestreben wirkten sie wie gezeichnet.

Wie klein wir aussehen können. Nirgendwohin unterwegs, nur hoch und wieder runter.

Flaggen wehten oben auf dem Scheitel des Bogens, wie auf einem bezwungenen Berg. Es gab keine einzige Wolke. Der Himmel war eine hohe Kuppel.

I beheld the bridge.

Ich wurde der Brücke gewahr.

Gewahrwerden. Woher kam das? Seit dem Todesfall brachen verirrte Vokabeln zu ihr durch, als wäre die zeitgenössische Sprache verbraucht und ungenügend. Erkoren. Noch so ein Wort. Erkoren. Es ließ an Manuskripte mit Goldrändern denken, an wunderbare Hinfälligkeit und an so brüchiges Papier, dass es hinter Glas aufbewahrt werden muss.

Catherine wandte sich ab, beinahe den Tränen nah, aufgrund des Wirrwarrs aus Assoziationen, das sie weder entschlüsseln noch einsehen konnte. Wie durcheinander dieser Ort sie gemacht hatte, dieser Circular Quay, der sich im Kreis der verlorenen Zeit und der ungebetenen Wiederholungen drehte.

Catherine entdeckte die schottischen Liebenden. Sie hüpften fast. Er hatte den Arm um ihre Schulter gelegt und sie ihren um seine Taille. Wie ausgesprochen gut sich ihre Körper aneinanderfügten, wie wunderbar, ihrer gewahr zu werden.

Ein Samstag in Sydney

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