Читать книгу Ein Samstag in Sydney - Gail Jones - Страница 6
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ОглавлениеDer Sommer war beinahe tropisch, kühl im Morgengrauen, feuchtschwül bei Sonnenaufgang, regnerisch am späten Nachmittag und in der Nacht. Ellie hatte mit so viel Feuchtigkeit nicht gerechnet, so vielen Hautgerüchen und so viel Sinnlichkeit.
An jenem Morgen öffnete sie das Fenster, schob es gegen den Widerstand des verwitterten Holzes und der Zeit nach oben, war dankbar, so nahe der Innenstadt eine Altbauwohnung gefunden zu haben. Sie hatte das Halbdunkle, Unterteilte eines Art-déco-Gebäudes – dunkelrote Backsteine und schattige Nischen, etwas Gemütliches, Europäisches, ein Hauch von Ausland, erinnerte entfernt an etwas anderes. Aber sie passte sehr gut zu ihr; sie entsprach der Enthaltsamkeit und stillen Inwendung ihres gelehrten Lebens. Sie befand sich in keinem der klobigen, gläsernen und robusten Hochhäuser, wie sie die Schnellstraßen säumten, die sich zur Stadtmitte und zum Hafen hinschlängelten. Stattdessen gab es hier Moreton-Bay-Feigen, Palisanderholz- und Eukalyptusbäume mit schuppiger Borke; außerdem erklang Vogelgezwitscher über den Dächern – Würgerkrähen und Honigfresser –, ein Maß an Leben abseits des tosenden Verkehrs und der städtisch generierten Ablenkungen. Von hier aus, vom Badezimmer, vom kleinen Fenster über dem Waschbecken, konnte Ellie auf die Dächer der Vorstadt blicken, auf die Satellitenschüsseln und Antennen. Sie konnte die renovierten Anbauten sehen, die Solarmodule und den Rost an den ärmlicheren Häusern. Eine Aussicht auf Hypotheken, Familien, Graffiti in Seitenstraßen, den Wunsch nach einem Zweitwagen und einem größeren Leben, sowie die Bedeutung all dessen. Der Turm einer verlassenen Kirche war gerade noch zu sehen. Er zeigte gen Himmel wie die Antenne eines vergessenen drahtlosen Codes.
Ellie würde heute begreifen, dass sie James niemals entkommen konnte. Er hatte sich in ihr Leben geprägt, so wie sie sich als vierzehnjährige Liebende aneinandergepresst hatten. In ihre Erinnerungen. Für jetzt und immerdar.
Ellie würde sich in aller Klarheit an die liebe Miss Morrison erinnern, ihre Lehrerin in der siebten Klasse, als hätte sie ein verblichenes Foto aus einem staubigen Album gerissen. Obwohl sie vier Jahre lang nicht mehr an sie gedacht hatte, würde sie sie den ganzen Tag über mit sich tragen, dicht bei sich wie ein Neugeborenes.
Die Zeitungen würden Ellie beunruhigen – der Krieg im Irak, die entsetzlichen Gräuel, die Gewalt, die sämtliche Erwartungen von Kriegstreibern und Pazifisten übersteigt. Aufgrund all dessen, ihrer Vorfreude auf James, ihrer Kindheitserinnerungen, der verstörenden Kontinuität von Kriegsgeschichten, war Ellie an diesem Samstagmorgen für Schönes empfänglich. Morgens wachte sie stets ohne Erwartung einer Katastrophe auf. An diesem feuchtklaren Morgen war sie im blauen Licht erwacht, und noch bevor die Sonne im Spalt zwischen den Vorhängen zur brennenden Zündschnur wurde, hatte sie bereits fünf interessante Dinge gefunden, über die es sich nachzudenken lohnte.
Nach dem nächtlichen Regen wirkte alles hell und gereinigt. Geblieben waren isolierte Pfützen, die gestochen scharf und glänzend den Himmel enthielten, und ein frischer, perlenbesetzter Glanz auf Bäumen und Kletterpflanzen. Nebenan sandte ein Wachsblumenbaum, ein altes verdrehtes Monstrum, Düfte als einheimischen Segen in ihre Räume.
Ellie hatte früh schon das Haus verlassen, um Zeitungen zu kaufen, war über Pfützen gesprungen und unter tropfendem Blattwerk dahingeeilt. Mit jedem Schritt zertrat sie herabgefallene Blüten. Wachsblumensterne lagen überall und vereinzelt auch Jasmin; die bräunlichen Blütenblätter einer Kreppmyrte waren über die Straße geschwemmt worden und verstopften nun die Gullys. Die Welt befand sich in liebevoller organischer Auflösung. Ellie sammelte ein paar Wachsblumenblüten, die sie in einer Schale zu Hause auf den Tisch stellen wollte, hielt sie beim Gehen sanft vor die Brust, die Zeitungen zur widerspenstigen Rolle geformt unter dem Arm. Ein so schlichtes Auflesen. Ein so schöner klarer Himmel. Sie war frei von Gedanken und glücklich. Sie spürte die ausgelassene, vage Euphorie eines neuen Tages in einer neuen Stadt.
Im Badezimmer malte sie sich Kajal um die Augen und Pink auf die Lippen. Später würde sie James treffen, nach all den Jahren, und sie war jetzt schon verlegen in Erwartung seines strengen Urteils. Ihre betonten Lippen wirkten nuttig und zu auffällig, aber einem Mittagessen am Hafen und dem Exhibitionismus in den Cafés von Sydney durchaus angemessen. Sie wollte früh zum Circular Quay, da sie ihn noch nicht gesehen hatte, wollte herumspazieren, Maulaffen feilhalten, wie ihr Vater sagen würde, und Ausschau halten, um James unbemerkt zu beobachten, wenn er eintraf. Sie würde Maulaffen feilhalten, würde Leute beobachten, durch die Stadt streifen, das Gewusel der Massen genießen und die unberechenbaren Bewegungen des Menschenverkehrs, der flutartig an Ampeln heranschwappte, seine rhythmischen Fortbewegungsschübe, nichts Besonderes zu tun zu haben, bis es Zeit für das Treffen war. Sechs Wochen. Seit sechs Wochen lebte sie in Sydney und hatte noch immer den Quay nicht gesehen. Die Wohnungssuche, das Einleben; jetzt hatte ihr James’ E-Mail gestattet, einen Tag für Besichtigungen freizunehmen.
Ellie machte sich einen Kaffee und breitete die Samstagszeitungen auf dem Tisch aus. Da waren die üblichen Schrecken. Der Krieg im Irak, die Bomben in Afghanistan, die Raffgier der großen Mächte und die Unterwerfung der kleinen. Auf der Titelseite war ein Foto von einer verzweifelten Frau mit Kopftuch, in zerrissener, drastischer Trauer über den toten Körper ihres Sohnes gebeugt. Das Bild war exemplarisch und vertraut. Sie war die namenlose Mutter, die einen namenlosen Sohn verloren hatte, das gefällige Porträt eines weiteren Angriffs, und es war ausgewählt worden, weil ihre verzerrten Gesichtszüge und ihre Verzweiflung, das Flehen ihrer erhobenen Hände, pantomimisch über das hinausgingen, was journalistisch möglich war.
Die ungeheure Sichel des Todes.
In die Geschichte würde diese Zeit als unerbittliche Wiederholung eingehen. Wie viele Bilder der Trauer mochte der Leser einer beliebigen Zeitung sehen? Wie viele Bilder von aufgerissener Erde oder von Sanitätern, die mit einer Trage vorübereilen, eine Gestalt zu klein, zu anonym und zu tödlich reglos unter einem Tuch? Wie lange würden diese Bilder noch etwas bedeuten? Ellie dachte an den japanischen Fotografen Hiroshi Sugimoto, der Filme im Kino fotografierte. Er ließ die Blende im dunklen Zuschauerraum geöffnet und belichtete seinen Film über die gesamte Dauer der Vorführung. Das Ergebnis waren nicht wild und kompliziert übereinandergelagerte Bilder, sondern schlichtes weißes, reines Licht, aufblitzendes Nichts. Zu viele Bilder, die einander überlagern, ergeben eine Leerstelle. Sie stellte sich vor, wie Hiroshi Sugimoto seine Fotos in einer Galerie betrachtete und über das Mysterium staunte, das dieses Übermaß an Auslöschung bewirkt.
Von irgendwoher in der Straße ertönte eine Sirene. Dann noch eine, gefolgt von einer weiteren, einem schrillen Jaulen. Ellie wollte sich schützen vor dem, was ihre Laune kippen könnte. Sie las nur die ersten beiden Absätze über den Irak, dann suchte sie die Inlandsnachrichten. Die Artikel handelten immer noch vom Regierungswechsel und den »Flitterwochen«, die auf den Amtsantritt folgten (seltsam, dachte sie, diese sexuellen Konnotationen). Aber es lag Optimismus in der Luft und ein Hauch von Neubeginn. Der noch recht junge Premierminister, dessen Mondgesicht strahlte, wirkte sehr zufrieden mit sich, wie ein Schulsprecher im Blazer bei einer Preisverleihung. Ellie staunte immer wieder, wie viele männliche Politiker sich ihr Kleinejungengesicht bewahrten. Oder wie vielen es gelang, verdutzt über ihre eigenen maßgeblichen Ankündigungen zu wirken, wenn sie im Scheinwerferlicht der TV-Studios darauf bestanden, dass eine unsinnige Entscheidung in bester Absicht getroffen wurde. Die Mikrofone sahen aus wie lauschende Insekten, vornübergebeugt saugten sie den Nektar des Skandals. Jetzt gab es eine neue Regierung. Möglicherweise durfte man noch Veränderungen erwarten; und würde möglicherweise enttäuscht. Ellie hatte die Literaturbeilagen aus den Zeitungen genommen. Die würde sie sich für später aufheben, um die literarischen Dimensionen der Welt in Ruhe zu überfliegen, diese unermüdliche, scheinbar heldenhafte Sinnproduktion. Sie hatte derzeit kein Geld, um sich neue Bücher zu kaufen, aber dafür gab es ja Bibliotheken, die sie sehr schätzte, und außerdem diese kompakten Beschreibungen anderer Welten.
Eine der Mitarbeiterinnen in ihrer Stadtteilbibliothek sah aus wie Miss Morrison. Warum war ihr dieser Zusammenhang vorher nie aufgefallen? Und beide ähnelten, wiederum in einer seltsamen Anverwandlung, der Königin von England, deren absonderlich steifem Gesicht, dem strichschmal angespannten Mund. Miss Morrison zeichnete etwas an die Tafel und schrieb tolle Wörter, unterstrich sie mit einem übergroßen Eichenholzlineal, das klatschte, wenn es traf. Wenn sich Ellie heute an sie erinnerte, dann oft in statischer Rückschau, die Frau unbestimmten Alters, die vermittels eigener Botschaften kommuniziert, abgewandt, ernst, mit dem Rücken zur Klasse. Die Kinder ihrer Kleinstadtschule, James saß neben ihr, verspürten den Impuls, sie zu verspotten, allerdings irgendwie gedämpft und respektvoll. Außerhalb der Schule konnte James jedoch grausam sein. Er war das Kind – eines gibt es immer –, das andere parodierte. Zum schuldbewussten Vergnügen seiner Klassenkameraden äffte er Miss Morrisons gebückte Haltung nach, imitierte ihre sehr hohe Stimme und tat, als würde er Worte an einer unsichtbaren Tafel unterstreichen, anschließend drehte er sich mit verächtlicher Grimasse zu seinen Klassenkameraden um.
Ellie faltete die Zeitungen zusammen und trank ihren Kaffee aus. Wachsblumenduft hing im Raum. Ein weiterer sonnendurchfluteter Tag von der Art, wie er die Stadt im besten Licht erscheinen lässt. Von der Art, wie Pauschalreisen ihn versprechen, mit Strandvolleyball, ausgelassenen Kindern und den Schatten bebender Palmen über unglaublich grellblauem Wasser. Trotzdem, Sydney überraschte sie. Würde sie es immer so sehen? Würde der Circular Quay seiner eigenen Reklame gerecht? Ellie berührte ihre bemalten Lippen, dachte an ihre Haare und ärgerte sich anschließend über die Reste der Eitelkeit, die sie längst zu eliminieren versucht hatte.
Als sie mit der Tasse aufstand und an die Spüle ging, erinnerte sie sich mit einem Gefühl der innigen Verbundenheit an James und Miss Morrison. James hatte im Unterricht Nasenbluten bekommen und Miss Morrison hatte ihm den Kopf nach hinten in den Nacken gelegt, ihre linke Hand ruhte dabei auf seiner Stirn, in der rechten hielt sie ein Tuch, vollgesogen und rot, und presste es ihm unter die Nase. Eine Art lebendiges Gemälde: Die Lehrerin beflissen, bestimmt, übernahm die Kontrolle über den Körper des Kindes; der Junge war mürrisch, aber gefügig, verlegen wegen seiner blutenden Nase und seiner öffentlichen Unterwerfung. Miss Morrison zwang ihn nieder, hielt ihn dort, und seine Klassenkameraden sahen böswillig fasziniert zu. Ellie hatte etwas sagen oder Krankenschwester sein wollen, hätte ihm am liebsten selbst die Hände aufs Gesicht gelegt, feuchtkalt und liebevoll, aber stattdessen saß sie auf ihrem Platz und sah wie alle anderen zu, bedauerte ihn stillschweigend.
James hatte oft Nasenbluten. Es gehörte zu den Beschwerden, die Begabte ereilen, die sie den anderen scheinbar gleichmachen, verletzlich und alltäglich. James gewöhnte sich an, immer ein paar Taschentücher dabeizuhaben und schon beim allerersten Anzeichen von Blut das Klassenzimmer zu verlassen. Ellie hatte ängstlich Mitleid empfunden; der Junge, sonst der Star der Klasse, ein intellektueller Überflieger, stand in einer feuchten verborgenen Ecke, und das Blut floss nur so aus ihm heraus, der Kopf war nach oben gerichtet, Flüssigkeit lief ihm in die Kehle, und im Mund hatte er den Geschmack von etwas Saurem und Innerem wie dem Tod. Wenn James danach ins Klassenzimmer zurückkehrte, blickte er niemandem ins Gesicht, nahm aber seine besserwisserische, rotzfreche Haltung ein, gab mit seiner Belesenheit an und stellte geistreich seine Freunde bloß. Miss Morrison war gereizt – Ellie merkte es ihr an –, bewahrte sich aber ihre distanzierte Zuneigung, die schlaue Kinder hervorrufen. Kaum war da ein vulgärer Blutfleck auf James’ kariertem Hemd, konnte keinerlei Tollkühnheit ihn zum Verschwinden bringen, James’ Macht wieder herstellen.
Und nun war da Miss Morrison, die ihn in ihren Armen wiegte, ihm wie eine Mutter den Kopf hielt. James hatte das benommene, verlassene Aussehen eines Kindes, das schwach oder kurz vor der Ohnmacht war, unwillentlich innerlich zusammenfiel, schlaff und nachgiebig wurde wie eine Pflanze. Es war eine Vision, die sie wie ein Fresko verband, patiniert und mit altersbedingten Rissen ließ es seine Bedeutung durch die Zeit hindurch strahlen wie unter dem Bogen einer italienischen Kirche hindurch. Ellie widerstand dem Wort pietá, aber es war dennoch präsent und verlieh einem letztlich doch sehr gewöhnlichen Missgeschick Würde.
Miss Morrison sah wunderschön aus, auf die Art, wie Zärtlichkeit schön macht, eine Art äußeres Anzeichen für den weichen Fall, den sie ihm bereitete. Ellie wunderte sich darüber, dass sie auf diese Weise an ihre Lehrerin dachte, fand ihre Kindheit im Rückblick voll eben jener Zärtlichkeit, die sie vermisste, an die sie sich erinnern wollte und die sie gefunden hatte, als sie mit der Schläfrigkeit, die einer entspannten postkoitalen Zuversicht vorausgeht, in die Arme eines Mannes rollte. Ihr ehemaliger Geliebter war ein sanfter Mensch, und sie träumte immer noch von ihm, wollte ihn. Die Sache war nicht zu Ende. Und ihr Begehren hörte nicht auf. Wahre Gefühle lassen sich nicht abschließen; so viel wusste sie.
Ausfindig gemacht hatte James Ellie durch eine gemeinsame Freundin, die eine kleine Lifestyle-Kolumne in einer Tageszeitung schrieb. Ellie hatte ihn nicht mehr gesehen, ungefähr seit sie fünfzehn waren, und war neugierig, weshalb James sich nun aus heiterem Himmel mit ihr treffen wollte.
Er war ein gut aussehender Junge gewesen, groß – einer jener Highschool-Schüler, denen der spätere Erfolg sicher war –, aber sie hatte auch den James gekannt, der eine Straßenecke weiter wohnte, das einzige Kind einer vom Vater verlassenen Mutter. Er war der Junge, der allein Fahrrad fuhr und scheinbar keine Freunde hatte. Sie erinnerte sich, wie er in der körnigen Lavendeldämmerung die Straße auf und ab radelte, auf dem Hinterrad fuhr, Staub aufwirbelte und, als es dunkel wurde, wieder verschwand. Die Gestalt eines Jungen. Eine einsame Gestalt. Selbst da sah sie eine stumme Gequältheit in seiner monotonen Routine, im bedeutungslosen Schlittern über den Kies.
Manchmal hörte sie seine Mutter James rufen; sie rief ihn zum Essen, bestand auf seiner Gesellschaft, sie sprach Italienisch, um ihren Sohn an ihre Seite zurückzuholen. Manchmal nahm das Rufen kein Ende. Ellie wusste, wo sich James versteckte, wenn er nicht entdeckt werden wollte, hätte es aber niemals verraten; das gehörte zu ihrem Pakt. In dem schmalen Spalt zwischen Schulende und Abendbrot, in dem sich die Kinder erholen oder einen Ort abseits der Enge eines Schreibtischs und allgemeiner Vorschriften fanden, kehrte James in ihr Versteck zurück, wo er ungestört und selbstbeherrscht sein konnte, wenn er nicht gerade Fahrrad fuhr.
Erwachsene unterschätzen das Maß an Einsamkeit, das nötig ist, um dem Schulleben etwas entgegenzusetzen. Ganze Generationen von Schulkindern sehnen sich danach, in Ruhe gelassen zu werden. Überall. Millionen. Einfach nur in Ruhe gelassen zu werden. Um in launischem Lärm oder in Stille die Zuflucht zu finden, die ihnen abhanden kam.
Zwischen Spott und Meisterschaft fand James seinen eigenen Weg, und als er am Ende der zehnten Klasse ein Stipendium an einer Jungenschule in der Stadt bekam, wunderte sich niemand, dass er wegging. Seine Mutter war stolz und zu Tode betrübt. Ellie sah sie ein beschränktes Leben leben, gegen Ende des Tages lauerte sie stets im Morgenmantel unweit des Briefkastens. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich anzuziehen oder den Tag von der Nacht zu trennen. Ihr Gesicht wirkte völlig erschöpft und ihr Gebaren unstet; ihr verfilztes Haar stand um ihr trauriges, fast puppenartiges Gesicht ab. Sie hatte sich eine Geste des Bindens und Lösens ihres Gürtels angewöhnt, sodass ihre Hände ständig eilig agierten und nicht stillhalten konnten. Sie redete auf Italienisch mit sich selbst, unterstrich ihren Ausländerstatus, erklärte allen, sie sei in ihr Geburtsland zurückgekehrt und nun dort eingeschlossen, allein, durch Worte andernorts gebunden. Die Leute tratschten, verachteten oder bemitleideten sie auf meist stumpfe und wenig hilfreiche Weise, nahmen ihre Hände, sodass sie allein wegen der menschlichen Berührung in Tränen ausbrach, stellten ihr Essen auf die Veranda, das zu essen sie sich allerdings weigerte. Der Verein der Landfrauen versuchte, sie in Einkaufsausflüge und soziale Aktivitäten einzubeziehen. Wie Ellie gehört hatte, wurde am Schluss dem Amt lediglich mitgeteilt: Die Frau sei eine Gefahr für sich selbst.
Eines Tages war James’ Mutter nicht mehr da. Ellie wartete und beobachtete, aber Mrs DeMello kehrte nicht zurück. Ellie starrte den Briefkasten an, so wie sie seine Besitzerin angestarrt hatte, und spürte, dass es einen heimlichen Beschluss gegeben haben musste.
»Klapse«, sagten die Nachbarn. »Die haben sie in die Klapse gesteckt.«
Und Ellie stellte sich einen stummen, verzweifelten Ort vor, voller Menschen, die auf dieselbe Art beraubt waren wie Mrs DeMello, deren Gesichter sich nervös hinter vergitterten Fenstern aneinanderreihten, die Augen krank aufgrund des Verrats.
Ellie wünschte, sie hätte geantwortet, als Mrs DeMello ihren Sohn in der Abenddämmerung gerufen hatte. Inzwischen wusste sie, was es bedeutet, wenn ein Rufen unbeantwortet bleibt und die eigene Stimme nicht so schallt, wie sie soll. Und Teil des Unglücks dieser Frau war zu wissen, dass auch James sie verlassen hatte, erschrocken über die eigenen Enthüllungen und ihre gemeinsame Intimität.
Obwohl Ellie James vermisste, konnte sie niemandem davon erzählen. Es gab keine Zusammenfassung der Schnittstellen zweier junger Leben, oder dessen, was sie taten, oder wo sie sich versteckten. Nachdem er sich in die vornehme Schule verabschiedet hatte, schrieb James nie, nahm keinen Kontakt auf. Er war einfach weg. Auch beantwortete er keine Briefe oder kam zu Besuch nach Hause. Erst als er ein Universitätsstipendium erhielt, begriffen sie das Ausmaß seines Erfolgs und der öffentlichen Wirksamkeit seines glanzvollen Lebens. Ellies Eltern lasen ihr den Artikel aus der Lokalzeitung am Telefon vor, aber da lebte Ellie bereits selbst in der Stadt, besuchte die Universität und führte ein anderes Leben. Sie widerstand so weit wie möglich dem Bemühen, ihn sich anderswo vorzustellen.
In ihrer Wohnung blickte Ellie vom Tisch auf. Ein hoher Baum schuf draußen vor dem Fenster die Illusion eines an der Wand hin und her schwingenden Lichts. Das war ihr zuvor nicht aufgefallen, dass die Schatten in einem bestimmten Winkel jeweils für kurze Zeit am Tag ein Lichterspiel projizierten. An den meisten Tagen hatte sie gearbeitet, in der Bibliothek gelernt oder als Kellnerin in Gallo’s Café auf der King Street gejobbt, und diese flüchtige Urlaubsvision ließ sie innehalten.
Draußen herrschte nahtloser Sonnenschein, versprach einen heißen Tag; hier drinnen, überschwemmt von Erinnerungen, existierten ihre Räume in einem anderen Licht, als hätte die Macht der Erinnerung selbst die Physik ihrer Umgebung verändert. Die Vorstellung faszinierte sie. Diese Gegen-Zeit von James’ Rückkehr, die Licht in ihr eigenes dunkles Theater brachte.
Ellie betrachtete das wässrige Leuchten der veränderlichen Formen. Da fiel ihr ein – belanglos, egal –, wie scheußlich James war, in der Erinnerung oft gar nicht der Star der Schule, das kluge Kind, das »Genie«, wie sie ihn einst genannt hatten, sondern ein Versehrter. Und noch etwas kehrte zurück: James fassungslos, den Kopf gesenkt, die Augen niedergeschlagen. James, der sich beim Lesen die Ohren bedeckt, als wollte er seinen Kopf festhalten. James, der ihrem Blick ausweicht. James, der sich abschottet.
James schlief schlecht in dem Hostel-Zimmer. Das Bett war durchgelegen nach den Tausenden anderer Körper, die seinem vorangegangen waren, nach ihren Mühen, ihrem nächtlichen Herumwerfen, ihren eigenen Schleppnetzen voller unruhiger Träume in einem Raum voller verbrauchter Luft vermischt mit einem Anflug heimlich gerauchter Zigaretten. Das kleine Fenster stand offen, aber es war dennoch abgestanden und muffig.
Als er spät in der Dunkelheit endlich eingeschlafen war, hatte etwas seine selbstgewählte Einfriedung durchbrochen, das sich dann als Regen herausstellte, der mit sanfter Beharrlichkeit und einem leisen Klopfen wie von trommelnden Kinderfingern seinen Schlummer aufstemmte. Im Dämmerlicht stand er halb blind auf und tastete nach dem Fenster, aber er konnte es nicht bewegen und merkte, dass er sein Gesicht hineinhielt, wie in einem Taumel gefangen, weder schlafend noch wach blickte er in die schwarze regnerische Schlucht der George Street hinab. Es musste ungefähr drei Uhr sein, vermutete er. Die Straße weiter oben, gerade so außer Sichtweite, war das sandsteinerne Rathaus, die Fassade bierfarben im Licht der Scheinwerfer, und dahinter das Einkaufszentrum, das aussah wie eine Messehalle aus dem neunzehnten Jahrhundert mit einer plumpen Statue der Königin Viktoria am Eingang. Auf seiner Straßenseite, weniger vornehm, befand sich eine Reihe kleiner Geschäfte, die die Anfänge von Chinatown markierten – Nudelimbisse, vietnamesische Bäckereien, Pfandleiher, Kneipen, Hostels für Rucksacktouristen.
Ein Bus rumpelte mit den vereinzelten Fahrgästen einer Freitagnacht die Straße entlang, aber die Fußgänger waren nun spärlich geworden, vor dem Regen geflohen. Einige wenige verzweifelte Nutten rauchten unter Regenschirmen und ein einsamer Junkie suchte Stoff. Eine der Frauen trug Absätze, die so hoch waren, dass es aussah, als würde sie gleich stolpern, ständig musste sie ihr Gleichgewicht suchen, dann wieder beinahe stürzen. Der Anblick war bewusst darauf ausgerichtet, das Bedürfnis zu wecken, sie aufzufangen, dachte James, sich wie Jesus hinzustellen, die Arme auszubreiten, während sie sich sexuell hingab. Diese Art von inszeniertem Risiko und dazu die Anonymität ihres Körpers. Man selbst ein Erlöser. Ein Auto tauchte aus dem Nichts auf und fuhr im Näherkommen langsamer. James sah, wie die Frau unter dem schützenden Schirm ihrer Freundin hervortrat und sich in das Wagenfenster beugte. Etwas an der Art, wie sie sich neigte – von der Taille an wie eine Puppe –, rief Mitleid in ihm hervor.
James spürte den Regen auf seinem Gesicht. Er war kühl und leicht. Er spürte eine Verbundenheit zu den anderen um diese Zeit Wachen, den Desperados der Stadt und den arbeitenden Fahrern. Den Versprengten, Verlorenen und Umherschweifenden. Den Schlaflosen. Den Benachteiligten. Landmenschen wie er vielleicht, denen dieser ganze Mist in der Stadt zu viel war, die sich überwältigt fühlten. Als ein Krankenwagen mit heulender Sirene vorbeiraste, dachte James, wie emblematisch dies für das Großstadtleben war: Irgendwo gab es hier immer einen Unfall oder eine Katastrophe, immer blutete jemand oder verlor seine Eingeweide.
Er sagte sich immer wieder, er sei nach Sydney gekommen, um mit Ellie zu sprechen, etwas von seiner Vergangenheit zu retten, etwas gutzumachen und ihr zu erzählen, aber sein Aufenthalt hier hatte etwas Trostloses und Endgültiges, hier und jetzt, in dieser regnerischen, traurigen Dunkelheit, in der er wahrhaft eins mit sich war.
James musste schließlich wieder eingeschlafen sein, denn um neun wachte er erneut auf. Der Name Magritte lag ihm auf den Lippen. Er flackerte auf in seinen Gedanken, dann verließ er sie wieder. James war von zu vielen Pillen und dem Wodka spät in der Nacht erledigt, unkonzentriert und stumpf. Der Tag war bereits heiß, und die Feuchtigkeit der Nacht verdunstete, und James stand auf, weil er den Gang hinuntergehen und pinkeln musste. Ein heikler Ausflug. Die Kacheln waren krankenhausgrün und die Wände schmutzig. Er entdeckte Spinnen unter den Rohren, Flecken von den Absonderungen anderer Männer und das Morgenlicht, das durch das vergitterte Fenster strömte und ihn eigentlich hätte aufmuntern sollen, stattdessen aber einen grellen Kopfschmerz anstieß. Als er sich vor dem Spiegel über dem Becken rasierte, wich er seinen eigenen Blicken aus. Wie viele Männer rasieren sich so, ohne sich dabei selbst sehen zu wollen? In der schrägen Neigung seines Kopfes versteckte er sich vor dem, was zum Vorschein kommen mochte. Der Verlust des Glaubens. Der Verlust des Gesichts. Das Ende dessen, was er einst erträumt hatte oder hätte werden können.
Zurück in seinem Zimmer schluckte James eine Handvoll Vitamine und Analgetika, ahmte den verrückten Arzt aus dem Fernsehen nach, der sich ständig selbst Medikamente verschrieb. Einige Sekunden lang überlegte er, ob er sich wieder hinlegen, in ein Laken hüllen und die Augen vor dem Tag verschließen sollte, der Echtzeit der Stadt eine Abfuhr erteilen und den Rückzug vorziehen.
Doch er stand auf und verließ den düsteren Raum – Ellie, Ellie –, betrachtete seine Füße auf den ungleichmäßigen Stufen.
Der junge Mann am Empfang hatte ebenfalls eine schlechte Nacht gehabt und schien noch erledigter als James. Er hob eine Hand, die Handfläche nach außen gekehrt, wie ein katholischer Priester bei einer stummen Segnung. Könnte schwul sein, dachte James. Er hatte das grauhäutige Aussehen von jemandem, der in einer Raumkapsel lebt, in einem Science-Fiction-Film aus den Achtzigern mit sabbernden Aliens und ständiger Gefahr. Oder eines Ertrunkenen, fortgespült, verloren in den Tiefen des Wassers. Seine Blässe leuchtete traurig und unheilig. James nickte ihm zu, wollte nicht an Priester, Ertrunkene oder schlechte Filme denken und trat rasch hinaus auf die Straße, um Smalltalk zu vermeiden.
René Magritte, sein Lieblingsmaler.
Mit vierzehn ging Magritte mit seinem Vater Leopold ans Ufer der Sambre, um die Leiche seiner Mutter Adeline zu identifizieren. Sie war ins Wasser gegangen, hatte sich umgebracht, und er stand ernst und schweigend dort, hielt die Hand seines Vaters, ein pflichtbewusster Sohn, ein verlässlicher braver Junge, während man ihren schlanken Körper aus dem kalten grauen Wasser fischte. Das war 1912. Es war das Ende seiner Kindheit. Leopolds Gesicht war voller geplatzter Äderchen und rot vom Weinen; seine Knie gaben nach, er ließ los und brach wie eine Marionette vor seiner toten Frau zusammen. Doch der blasse junge René stand einfach nur da und schaute. René war der Starke, blieb emotional gefasst. Stoff bedeckte das Gesicht seiner Mutter wie ein nasses klebriges Leichentuch. Ihr Kleid hatte sich umgestülpt, als man sie mit den Füßen voran aus dem Fluss zog, und trotzdem hatte er sie an den braunen Schuhen erkannt, an denen sie eine Schnalle durch eine andere, nicht passende, ersetzt hatte, und an dem Siegelring an ihrem Mittelfinger, der einst seiner Großmutter gehört hatte. Als sie den Rock herunterschälten und sie anständig zurechtmachten, war sie schmutzig vom Flussschlamm und gab vor zu schlafen. Ihre Wangen waren fahl, eingefallen, ihre Augen geschlossen, und René spürte sein Herz beben und kentern. Ihr Gesicht. Seine Mutter. Ein so tiefer Tod, dass man sich darin suhlen konnte.
Nicht viel später trat der künftige Surrealist seine erste Stelle in einer Tapetenfabrik an, wo er Wiederholungen entwarf. Wiederholungen waren leicht. Jeder lose Schnörkel wirkte abgeschlossen, wenn er in einer Wiederholung aufgereiht wurde. Jede einzelne Blüte wurde zu vielen, jede große Abstraktion zum Muster. Die unkomplizierte und schablonenhafte Dekoration hatte etwas Tröstliches, das Sickern der Farbe durch den Seidenstoff beim Siebdruck und die feuchten Bögen, die Regelmäßigkeit der Kopien und der Umstand, dass sie Wohnzimmer und Schlafzimmer auskleideten. Er hätte ewig so weitermachen können, Oberflächen mit Tapeten versehen, immer und immer wieder dasselbe Bild drucken.
Später, als Magritte Künstler in Paris war und seine Vergangenheit neu erfand, behauptete jemand, seine verstörendsten Gemälde zeigten Figuren, deren Augen verbunden oder mit Stoff bedeckt seien, und damals wusste er – als würde er auf eine Anschuldigung reagieren –, dass er seine Mutter verwandelt hatte, dass er sie zu Kunst gemacht hatte und alles Tiefverborgene als eine weitere Wiederholung wiedergeboren wurde.
James hielt auf der geschäftigen Straße inne, sah sich um, wirkte verloren. Sydney, Samstagmorgens. Januar. George Street. Warum dachte er nach all den Jahren jetzt wieder an Magritte? Warum kam ihm die Geschichte von Adeline in der Erinnerung an seine eigene so ähnlich vor?
Da waren Einkaufende, die in die Kaufhäuser eilten, und ein breitgefächerter Trubel. Die auf den Kai zufahrenden Busse dröhnten wie Donner. Autos strahlten in der Helligkeit des Morgens. James war sich der Hartnäckigkeit der Massen bewusst, die auf ein sommerliches Schnäppchen aus waren, er sah, wie sie sich in kraftvollen Strömen und brechenden Wellen weiterbewegten, nahm wahr, welche Möglichkeiten des Verbergens sie boten, der Auflösung des Selbst, das wahnsinnige Gefühl, in einen beweglichen Organismus eingesogen zu werden. Er ging ziellos, war eigentlich gar nicht da. Er war irgendwo in dem Belgien, das er sich als Kind anhand eines Buchs ausgemalt hatte, irgendwo im silbrigen Licht, am Ufer der trostlosen Sambre. Er war René, der Starke. War der pflichtbewusste Sohn, der verlässliche brave Junge.
Künstler der Moderne: James’ Mutter hatte es ihm zu seinem vierzehnten Geburtstag geschenkt. Erschrocken hatte er festgestellt, dass der kleine René am Ufer genauso alt war wie er und Renés Vater Leopold als Schneider angestellt war. James’ Vater war Schneider in der Heimat gewesen, hatte seine Mutter gesagt, vor ihrem Umzug nach Australien, wo er dann auf Baustellen arbeitete, Schubkarren mit feuchtem Zement über krumme Bohlen schob, schaufelte, hievte und sich seinen zarten Schneiderrücken ruinierte. Es war nicht verwunderlich, dass er sie verließ. Er war hier verloren, hatte seine Mutter gesagt. Wenn alle Häuser bauten, gab es für einen Schneider keine Arbeit.
James hörte einen Anklang von Vergebung in ihrer festen Stimme. Sie sah ihm in die Augen. Auf der anderen Seite des Küchentischs glühte ihr Gesicht aufgrund der seltenen Enthüllung. Sie war schön gewesen, begriff er. Seine Mutter war schön gewesen. Und da war eine Spur von Verbitterung oder Schuldzuweisung. Vielleicht liebte sie ihn immer noch, dachte James vage. Vielleicht hören solche Gefühle nie auf.
In Neapel hatte sich die schöne Giovanna in den gut aussehenden Schneider Matheus verliebt. Sie hatten sich gemeinsam auf ein Abenteuer begeben, waren auf dem Schiff Oriana über den Ozean geschippert und in Fremantle, im Westen Australiens, mit dem Gefühl gelandet, gestrandet zu sein. Fast unmittelbar darauf wussten sie bereits, dass etwas in ihrer Ehe nicht stimmte; doch damals ertrugen Paare dies, manchmal bis zur Verzweiflung. Als wollte sie sich gegen die Umsiedlung wehren, lernte Giovanna so gut wie kein Englisch und hielt eine stolze und entschlossene Isolation aufrecht. Matheus gesellte sich zu seinen paisano, um mit ihnen zu trinken und sich Ratschläge von Einheimischen zu holen. Er arbeitete schwer, lernte Englisch, folgte mit seiner Frau einem italienischen Maurertrupp in den Südwesten. Die körperliche Arbeit machte ihn kaputt. In diesem Land, in dem Männer nicht reden müssen, außer bei einem oder zwei Bier über die Einzelheiten des Arbeitstages, verstummte Matheus allmählich immer mehr und war dann verschwunden. Giovanna hatte seit Jahren gesehen, dass er sich zurückzog, dünner wurde und sich wie eine Skulptur von Giacometti in die Länge streckte. Eines Tages hatte er sich ins Nichts gestreckt und war über den Horizont geglitten.
James war fast drei Jahre alt, als Matheus verschwand. Er hatte nur eine Erinnerung daran, wie er von seinem Vater hochgewirbelt und auf die Schultern gesetzt wurde und wie viel Angst ihm die Höhe gemacht hatte, wie ihn reine Panik packte und er sich um sein Leben fürchtend an schwarze Locken klammerte. Da war kein Gesicht, keine klare Erinnerung, nur dieses Hochgewirbeltwerden, hoch in den Himmel und das Gefühl von großen Händen, die seinen Körper umfassten. Matheus war ein Name und eine Legende, der Mann, dem er angeblich ähnelte. Der ihn auf diese Weise hochgehoben hatte, damit er die Welt besser sah. Erst kürzlich hatte er von Matheus’ Bruder Leo erfahren, der irgendwo in Melbourne mit seiner Familie ein eigenes Leben lebte. Aber für all das war es zu spät. Es war zu spät für die Version einer dieser glücklichen italienischen Familien, identische Gesichter nebeneinander an einem langen, sonnenfleckigen Tisch aufgereiht, auf dem sich Wein und Pasta drängten, an dem Gläser gehoben wurden wie in einer Fernsehwerbung für Olivenöl. Ein Mann mit einem Schnurrbart, eine dicke Mama, die Familie demonstrativ ausgelassen. Über ihnen das blättrige Licht von Weinranken, wie ein Netz aus geöffneten Händen.
Aus Künstler der Moderne hatte James gelernt, wie unheilvoll das Leben eines Künstlers verlief – und wie interessant, verglichen mit seinem eigenen. Er hatte das Buch unter dem Bett aufbewahrt, als enthielte es beschämendes Wissen, aber dabei gewusst, dass es im Prinzip das Künstlerleben war, von dem er insgeheim tagträumte, das Versprechen, ohne ein einziges Wort Bedeutung zu erzeugen. Das Versprechen Europas und schattiger Orte, eines traurigen aber erträglichen Lebens, dessen Zeugnis vielleicht irgendwo in einer Galerie hängt, losgelöst und wertvoll, unpersönlich und erhaben, stilsicher, rein. Er blätterte durch die Seiten des Buchs, bis sie abgegriffen waren. Er kannte die Porträts aller Künstler, ihre Selbstbildnisse und berühmtesten Gemälde. Selbst als er feststellte, dass er keine Begabung zum Zeichnen oder Malen hatte, sehnte er sich noch nach einem Künstlerleben. Als Teenager entwickelte James den Ehrgeiz, als Statist in einem Film anzuheuern. Er wusste inzwischen, dass dies sinnbildlich für sein Gefühl von Mittelmaß war, dass er niemals im Zentrum von etwas existieren würde.
All der Raserei lag das Gefühl zugrunde, wie ein menschlicher Helikopter hoch in die Luft gewirbelt zu werden, um dort oben zu thronen, in absurder Höhe, die Hände tief in den Haaren des Vaters vergraben. Diese Ortsveränderung, dieses Heben, an das er sich so genau erinnerte, war Ausgangspunkt all dessen, was James war, und auch seiner gefährlichen Unausgeglichenheit. Erinnerung lag nicht im präfrontalen Cortex, dem Hippocampus, dem Zerebellum oder der Amygdala – wie er diese Begrifflichkeiten liebte, die er sich aus der Zeit als Medizinstudent bewahrt hatte –, sondern im Raum, in den ein Kind gehoben werden kann. Alles, was ihm von seinem Vater blieb, war in dieser Bewegung enthalten.
Auch Ellie war fest verankert in den Bewegungen von James’ Körper und ihrer eigenen unsichtbar umfassenden Präsenz. Es hatte seither natürlich andere gegeben, die üblichen One-Night-Stands, beiläufig und ohne Bedeutung, aber auch einige ernste, mögliche Lebenspartner. Aber nur Ellie hatte sich wie sein Vater in jener tieferen Erinnerung gehalten, wie Radium in der Unterschicht seiner Zellen abgelagert.
Sie waren vierzehn Jahre alt, als sie sich zum ersten Mal liebten. Es erstaunte und rührte ihn, wenn er jetzt daran dachte. Da war keine Verwegenheit und kein Können, sondern lustvolle Neugier; junge Menschen, einfach jung. Sie hatten sich hemmungslos auf den Körper des anderen geworfen, weil beide so wenig wussten, was sie tun sollten. Es war der Zusammenstoß vager Absichten und wahrhaftig naiv. Sie hatten gelacht und gespielt. Sie waren kreatürlich übereinandergefallen, wie junge Kätzchen. Sie hatten das Vergehen genossen, von dem sie stillschweigend wussten, dass sie es begingen. Und jetzt, da er nach all den Jahren auf Ellie zuging, zögerte James angesichts der Zeichen ihrer Beharrlichkeit. Selbst in Momenten der Zerstreuung stieß er auf Erinnerungen an ihren Körper und ihre Worte.
Das Mysterium ihres Pakts lag in dem verlassenen Gebäude, in dem sie sich trafen, dem modrigen Backsteinraum, der einst, vor Jahren, eine Eisengießerei gewesen sein musste. Ihr Versteck, wie sie es nannten, als wären sie Sexualverbrecher. Da waren ein umgekippter Farbeimer, auf den sie eine Kerze gesetzt hatten, ein paar vereinzelte Möbel und ein zerfetzter Stuhl, die Pferdehaarfüllung quoll heraus. Der Stuhl kehrte in Träumen wieder, übergroß und bedrohlich. Es war ein anachronistischer plumper Gegenstand, den Theaterstudenten zur Darstellung ostdeutscher Trostlosigkeit benutzt hätten. Da war eine Trennwand mit einer beinahe intakten Glasscheibe, durch die der Chef einst die Männer in der Werkstatt beobachtet haben musste, aber das Glas war schmutzig und milchig weiß vom Staub. Ellie und James hatten der Versuchung widerstanden, ihre Namen hineinzuschreiben; beide wussten um die Notwendigkeit der Geheimhaltung. Sie legten eine Decke auf den Boden und versteckten sich gemeinsam, waren zu glücklich, um sich mit Staub oder in Herzen gefassten Initialen abzugeben, zu weit fortgeschritten in ihrem jugendlichen Hunger, um einfach nur Freund und Freundin zu sein.
James dachte an René Magrittes Gemälde Die Liebenden, das Porträt zweier verhüllter Köpfe, beide unter einem grauen Tuch verborgen. Etwas anderes als die Auslöschung aller Details hätte der Künstler sicher nicht ertragen. Adeline, eine Hutmacherin, nähte bis spät in die Nacht, und zweifellos erinnerte sich ihr Sohn an ihre Finger im Licht der Lampe auf einer gebogenen Filzkrempe oder wie sie eine Hutkrone auf eine gesichtslose Holzform pressten. Ohne Zweifel erinnerte er sich an den perfekten Bogen der Nadel, die in den Wollstoff stach, und die Rundung von Adelines Rücken, wenn sie sich vorbeugte, um mehr Licht zu bekommen.
In Magrittes Gemälden gab es sehr viele Hüte. Außerdem riesige Äpfel in Wohnzimmern, Pfeifen, die keine waren, aus Kaminen fahrende Züge, Reflexionen, wo eigentlich keine hätten sein dürfen, Tag und Nacht nebeneinander. Seine Bilder zeigten Verschiebungen und seine Figuren waren der Auslöschung nahe. Genauigkeit hätte sie getötet. Realismus hätte ihn getötet. Die Schnalle. Der Ring der Mutter. Der kreisrunde Fleck aus Flussschlamm, der Daumenabdruck des Todes, der sich in dem kleinen Grübchen direkt unter Adelines Unterlippe gebildet hatte. Weil James dies verstand, konnte er erwägen, Ellie wiederzusehen. Aufgrund all dessen war sie eine unfassbare Abfolge von Gesten und Bewegungen, er sehnte sich nach Bestimmtheit, nach den winzigen Details, die er an ihr gekannt hatte, das geliebte Gesicht unbedeckt. In diesem Fall, das wusste er, würden ihn die Details retten. Die Ideen waren zu groß. Der Raum, der durch ein Ertrinken entsteht, das trübe grüne Wasser, das sich über einem Gesicht schließt, war ungeheuerlich, niederträchtig und mit nichts vergleichbar.
Auf der George Street in der Innenstadt jaulte die Alarmanlage eines Autos. In der Ferne hörte man das Dröhnen eines Flugzeugs, langsam im Sinkflug begriffen, und plötzlich registrierte James den tosenden Verkehrslärm. Im petrochemischen Dunst blickte er nach oben auf die hässliche Mischung aus geometrischem Stahl, den Glasfronten der glitzernden Hochhäuser, den derben Bannern des Kommerzes. Das gesamte Zentrum Sydneys schien sich ihm entgegenzuneigen, so wie Gebäude im Zeichentrick einstürzen – wusch! – um einen grinsenden Idioten herum. James überlegte, ob er in die Gänge eines Kaufhauses oder eine Seitenstraße schlüpfen sollte. Stattdessen machte er instinktiv entschlossen kehrt und ging in der entgegengesetzten Richtung weiter.
Zum Zug, beschloss er. Er würde mit dem Zug zum Circular Quay fahren.
In seiner schreckhaften Unruhe ließ sich der kurze Weg bergauf zur Central Station leichter bewältigen. Magritte glitt von ihm ab. Die Sambre. Die ertrunkene Mutter. Die Schatten dessen, was er gewesen war. James konzentrierte sich auf Ellie, als er seinen Gang wieder aufnahm, nach Westen schritt.
Er sah chinesische Plakate und das riesige Diagramm eines Fußes, die Druckpunkte mit zarter Schrift mit einem bemerkenswerten Grad an Komplexität hervorgehoben, dann einen Laden, in dem buddhistische Artefakte verkauft wurden, die meisten waren augenscheinlich rot. Dass in der Innenstadt ein Geschäft für Gegenstände der kultischen Verehrung existieren konnte, erschien ihm hoffnungsvoll, wenn auch ungewöhnlich. Als er hineinspähte, sah er Altäre, Weihrauch, eine Reihe Buddhas im Schneidersitz, alle hergestellt aus dunkelrotem Plastik, wie es schien, außerdem verschiedene Stickereien, die vermutlich dem Gebet dienten und nun in spirituell empfänglicher Atmosphäre baumelten. James hätte ein solches Geschäft nie betreten, schaute jetzt aber interessiert hinein. Ein Verkäufer blickte auf und lächelte ihm zu; James errötete und wandte sich ab. Ein Stück weiter grinsten ihn zwei Männer durch das Fenster einer Kneipe an; erneut merkte er, dass er rot wurde. Dann war da eine Reihe billiger Klamottenläden, allesamt betreut von zierlichen Asiatinnen mit wogendem Haar; und dahinter Lebensmittelgeschäfte – thailändisch, chinesisch, indisch, vietnamesisch –, mehr, als sich in einer einzigen Straße halten konnten. Welten trafen aufeinander, dachte er. Australien gehörte zu Asien. Er sah, wie vielfältig all das war, das Bestreben vieler Nationen, die Lädchen vieler Geschäftsleute, die internationale Energie, die zwischen Sprachen und Ländern pulsierte. Die Übersetzungen bestanden weniger aus Worten denn aus verblüffenden Kombinationen: Geschäften, Völkern, Zeichen und Wundern.
In einem anderen Leben hätte er es vielleicht geliebt. Aber James zerfiel, das wusste er. In ihm entstanden Brüche und Schrunden, als wäre etwas in seinem Körper gerissen. Vergangene Zeiten schwappten hinein, Scham und Reue und zu viel unerträgliche Realität. Er setzte seinen Gang durch die Stadt fort, hörte ihren Namen in seinem Kopf: Ellie, Ellie, Ellie, Ellie. Der Name, den er im Schlaf seufzte. Als wäre er ein buddhistischer Sprechgesang, die Ausrichtung eines Kompasses oder die glückbringende Formel einer vergessenen Welt. Als wäre der Klang ihres Namens eine Art innere Musik.
Pei Xing wachte an jenem Morgen auf und dachte an Doktor Shiwago von Boris Pasternak. Jurij Andrejewitsch Shiwago, der Dichter und Arzt. Abgesehen von ihrem Vater, war er der erste, wenngleich nicht reale Mann, den sie je geliebt hatte.
Noch bevor sie die Augen aufschlug, spürte sie ihn schon im Bett neben sich. Es war, als wäre er aus der russischen Kälte durchs Fenster geflogen, um sich an ihrem Körper zu wärmen, um seinen dunklen Schopf zwischen ihre kleinen Brüste zu schmiegen. Er erschien ihr so wie in der berühmten Filmfassung – gespielt von Omar Sharif –, diese riesigen braunen Augen, die Aura sexueller Raserei. Die ersten Sekunden waren verschneit, voller wirrer Bilder und wunderbar erregend; sie hätte sein Gesicht in Händen halten können, so gewiss war seine Verkörperung.
Als Pei Xing begriff, dass sie wach war, merkte sie auch, dass ihre Wangen von Tränen benetzt waren. Doktor Shiwago war der Lieblingsroman ihres Vaters gewesen und seine berühmteste und angesehenste Übersetzung. Obwohl er als gefährlich und konterrevolutionär galt, den Roten Garden und Mao Zedong mit seiner Propaganda des Wahren Revolutionsgedankens ein Dorn im Auge war, hatte er den Roman mit quälerischer Hartnäckigkeit bis zu seinem allerletzten Atemzug verehrt. Gerne zitierte er einen Abschnitt gleich vom Anfang über »die Musik: die Unwiderstehlichkeit der waffenlosen Wahrheit, die Anziehungskraft ihres Beispiels«: und sogar jetzt erinnerte sie sich noch an den ganzen Absatz, obwohl es Zeiten gegeben hatte, in denen sie ihn vergessen wollte.
»In uns allen schlummert eine innere Musik«, hatte er gesagt und dabei wie ein Lehrer geklungen. »In jedem Menschen auf dem Planeten. In jedem Einzelnen von uns.«
Eine innere Musik: Was war das, hatte sie sich oft gefragt.
Ihr Vater neigte zu Ankündigungen. Immer mal wieder gab er einen aphoristischen Satz von sich oder fühlte sich verpflichtet, etwas in der Literatur oder der Politik wie kursiv gesetzt zu kommentieren. Was andere vielleicht belächelten, fand Pei Xing liebenswert.
Ihr Vater besaß eine russische Erstausgabe von Feltrinelli aus dem Jahr 1957. Und dann eine englische von Harvill, aus der er übersetzte. Sie hatte ihn Nacht für Nacht an seinem Schreibtisch bei der Arbeit gesehen, im Schein einer Messinglampe hatte er gesessen, neben sich englisch-chinesische und russisch-chinesische Wörterbücher, dazu eine Great-China-Zigarette zwischen zwei Fingern. Sie stellte sich den Handel mit den Bedeutungen wie eine Art Spiel vor, bei dem Symbole wie Mahjong-Steine getauscht und verschoben wurden. Zeichen wurden aus einer Welt in eine andere bewegt, stießen aneinander, ergaben neue Abfolgen. Ein Mann im bolschewistischen Russland wurde praktisch zum Chinesen; eine Welt entfaltete sich auf dem Papier. Dieses Spiel fand auf dem grenzenlosen Kontinent statt, der der Kopf ihres Vaters war. Sie konnte sehen, wie er sich konzentrierte: »CHeΓ« auf Russisch, »neve« auf Italienisch, »snow« auf Englisch, bis er zu dem Wort »xue« und dem dazu gehörigen Schriftzeichen kam: das Radikal für Regen, die Striche stehen für »gefroren«, der kleine Block aus Zeichen am Übergang vom Alphabet zum Ideogramm. Wenn er seine Brille abnahm und sich den Nasenrücken rieb, durchfuhr Pei Xing reine Liebe.
Sie hielt ihren Vater für den intelligentesten Mann der Welt. Mit ihrem Bruder konkurrierte sie um seine Aufmerksamkeit, aber irgendwie wusste sie, dass sie durch ihre Gelehrsamkeit klar im Vorteil war.
»Es gibt so viele Wörter für Schnee«, hatte ihr Vater erklärt und dabei den Kopf in den Nacken geworfen und gekichert, als hätte er einen Witz gemacht.
Im Feuer, das die Roten Garden 1967 auf ihrer Straße entfachten, brannte Doktor Shiwago lichterloh auf einem Haufen vermeintlich ideologisch verräterischer Bücher. Pei Xing sah das Spektakel mit ihren Eltern, die gezwungen wurden zu knien und zu schweigen. Ihr Vater hatte Verletzungen im Gesicht, ihre Mutter wirkte abwesend.
Die Opferung der Bücher dauerte länger als erwartet. Manchmal blätterte ein Band Seite um Seite auf, jede wurde einzeln schwarz, kräuselte sich, brannte, verschwand und immer noch waren da Seiten, die sich darunter erhoben. Eine Weile lang schien die Papierpyramide dem Feuer zu widerstehen, sodass einer der Garden in dem kokelnden Haufen herumstocherte und nach Petroleum verlangte. Als es schließlich wild leuchtend loderte, waren alle erleichtert, dass das Geschehen endlich seinen Lauf nahm. Und weil sie ihren Eltern nicht in die Gesichter blicken konnte und weil sie sich fürchtete und weil die Geschichte diesen unglaublichen Willen zur Auslöschung hervorgebracht hatte, starrte Pei Xing hingebungsvoll gebannt ins Feuer. Es war beeindruckend hell.
Die Vergangenheit verließ sie nie. Ihre Eltern waren immer da, immer kniend, das letzte Mal, dass sie sie lebend sah. Der Bücherhaufen brannte immerfort.
Aber der verführerische Jurij Andrejewitsch Shiwago erschien ihr fast wirklicher als ihre Eltern, da er unverwüstlich im Kino und in Worten weiterlebte und seine Lebensgeschichte ein bestimmtes, sehr genau beschriebenes Ende fand. Daran hatte ihr Vater geglaubt, dass die Fiktion das Leben übersteigt. Jetzt schmerzte es sie, wenn sie daran dachte, wie fern er geworden war, wie vage und von anderem verdrängt. Ihre Mutter war präsenter: ihre Zuteilungen von Nahrung und Trost, die Märchen aus Guangdong, ihr Klavierspiel, wenn sie ein Stück von Brahms oder Bach übte. Diese Erinnerungen empfingen sie regelmäßiger und häufiger in Augenblicken des Glücks.
In der Nacht hatte es geregnet, aber jetzt schien die Sonne. Der Tag heizte rasch auf. Pei Xing erhob sich, spritzte sich Wasser ins Gesicht und brühte sich anschließend ihren Longjing-Tee in der Küche auf. In einer Schale im Kühlschrank war noch etwas kalter klebriger Reis; sie goss Kondensmilch darüber, gab einige Scheiben Mango darauf und frühstückte wie immer im Stehen, blickte, als suchte sie etwas in weiter Ferne.
Hinter dem Fenster über der Spüle erstreckten sich Bankstown und die äußeren westlichen Vorstädte. Riesige Laster rumpelten mit mörderischem Tempo über die Schnellstraßen: da waren Häuser von zweifelhaftem Entwurf, in deren Vorgärten Nutzfahrzeuge parkten, davor klobige Briefkästen aus Backstein; da waren Fabriken, Stahlwerke und ein riesiger Baumarkt von der Größe eines Jumbo-Jet-Hangars, der einen ganzen Straßenzug einnahm. Eine Matratzenfabrik und eine Glasfabrik befanden sich absurd Seite an Seite. Aussie Mattresses. Down Under Glass.
Im Einkaufszentrum neben dem Bahnhof waren Dutzende kleiner Geschäfte untergebracht mit Schildern über den Eingängen auf Vietnamesisch und Arabisch; Pei Xing fand sie besonders zauberhaft. Sie liebte es, den Menschen auf der Straße direkt in die Gesichter zu sehen: den Männern mit den kräftigen Unterarmen und den unverblümten Blicken, den Frauen mit Hidschabs oder Kopftüchern, die in freundlichen Gruppen unterwegs waren. Ihre Kinder wirkten mollig und fröhlich und ließen Pei Xing aus irgendeinem Grund an Muskatnuss denken. Dann waren da Vietnamesen beim Fischhändler an der Ecke, eine Art Treffpunkt, und die Menschen im Pho-Laden, die sich alle zu kennen schienen. Dieses Australien war asiatisch und arabisch. Die Menschen bewegten sich in ihrer eigenen Aura, fürchteten sich nicht, Raum zu beanspruchen; und unter ihnen fanden sich wiederum andere Völker, Migranten wie sie, alle aus einer anderen Geschichte gerissen und auf den Grund der Welt geworfen. Auf der Straße fühlte sich Pei Xing immer kosmopolitisch. Sie hatte das Gefühl, sich in einer geräumigen neuen Welt unter Freunden zu bewegen. Besonders Menschen aus Nahost hielt sie für sehr exotisch und versuchte, sie nicht anzustarren.
Pei Xing, mit ihrem Sonnenschirm eine auffällige Erscheinung, ging durch die Straßen von Bankstown, wollte einen frühen Zug erwischen. Sie betrachtete die Schilder über den Läden und entdeckte zum wiederholten Male, wie wunderschön sie die arabische Schrift fand, wie anders als chinesische Schriftzeichen oder deren englische Übersetzungen. Da waren geschwungene Linien, Wellen und Punkte, dazu ultrapräzise Striche, wie Fähnchen. Da wurde an Mekka erinnert und an Bogenfenster und an die Räume in einer Moschee. Wie wohl »Schnee« in arabischer Schrift aussah, fragte sie sich. Wie würden Wüstenvölker das Wort »Schnee« schreiben? Stellten sie sich ihn als fliegenden Sand vor? Mehr als einmal hatte Pei Xing gedacht, Arabisch lernen zu wollen, damit sie sich fließend mit ihren Nachbarn unterhalten und mit den Kindern, die im Treppenhaus ihres hässlichen Wohnblocks spielten, plaudern konnte. Sie würde die Frauen mit den Kopftüchern ansprechen und sie fragen, was sie von diesem Ort hielten und wo sie arbeiteten, was sie aßen und wie man es zubereitete. Ihr Sohn Jimmy hatte sie überreden wollen, in den Vorort nach Ashfield zu ziehen, in die große chinesische Gemeinde, in der er lebte. Aber Pei Xing gefiel es hier in der Nähe der Universität. Hier gab sie Kurse in ihrer Muttersprache, und hier würde sie eines Tages vielleicht wirklich noch Arabisch lernen.
Mr Nguyen saß in seiner Glaskabine am Bahnhof. Die Fahrkartenautomaten, die wie Roboter einer unglückselig kastenförmigen Zukunft wirkten, ließ Pei Xing außer Acht und zog ihnen ihren Freund und die kurze, hastige Plauderei mit ihm vor.
»Mrs Chang!«
»Mr Nguyen!« Sie klappte ihren Schirm zusammen.
»Ist es Ihnen jetzt heiß genug?«
Seine Frage war rhetorisch. Pei Xing hatte ihn bei anderer Gelegenheit wegen des batteriebetriebenen Miniventilators aufgezogen, den er sich vors Gesicht hielt. Er war aus pastellrosa Plastik in der Form einer Mondrakete und wehte Mr Nguyens Stirnfransen als glänzend schwarze Haifischflosse zurück.
»Sie klingen wie ein Australier, Mr Nguyen.«
»Ich bemühe mich«, erwiderte er. »Wie immer?«
Mr Nguyen wusste, dass Pei Xing jeden Samstagmorgen die lange Reise zum Circular Quay unternahm und von dort weiter ans Nordufer fuhr, wo sie jemanden aus ihrer Vergangenheit traf. Er war zu höflich, um sich nach Einzelheiten zu erkundigen, achtete vielmehr ihre verschwiegene Würde und lebenslang geübte Zurückhaltung. Einmal hatte er erwähnt, sie erinnere ihn an eine Lehrerin aus seiner Kindheit in Saigon, und Pei Xing hatte die Mitteilung als Geschenk entgegengenommen; die in ihm wachgerufene Erinnerung voller Zuneigung in Worte gefasst.
»Wie immer. Circular Quay.«
Während Mr Nguyen die Fahrkarte ausstellte, fuhr er sich über die Flosse, ein unbewusstes Kämmen. Diese schlichten Gespräche gaben Pei Xing Kraft. Die Menschen setzten zu wenig Zuversicht in bescheidene Unterhaltungen und das, was man wusste, was aber unausgesprochen oder unaussprechlich blieb. Die Ehrfurcht vor kurzen Sätzen, einer Geste oder einem einzigen Wort: Das war das Gefüge der Höflichkeit, die Grundlage des Sozialvertrags. Ohne würde man sterben.
Mr Nguyen erinnerte Pei Xing an keine bestimmte Person, aber sein Gesicht war rundum gütig und sein Tonfall verbindlich. Wie war dieser freundlich intelligente Mann hier gelandet, eingesperrt zwischen Fahrplänen und aufgestapeltem Wechselgeld in einer stickigen Kabine?
Der Bahnhof war laut und geschäftig, überall kalter Stahl, hallende Stimmen und die schwere Akustik harter Hohlräume. Abfall wurde über den Bahnsteig geweht, eine Pappschachtel McDonald’s Pommes Frites, eine klappernde Aluminiumdose. Ohne zu zögern, hob Pei Xing beide auf und warf sie in einen metallenen Mülleimer, der an einem Pfosten hing. Wartende Passagiere sahen ihr misstrauisch und mit blankem Unverständnis zu.
Der Zug aus Liverpool fuhr heran, verlangsamte, kam kreischend zum Stehen; und als Pei Xing einstieg, kehrte etwas, das als Spur des frühen Morgens erhalten geblieben war, in Form eines vollständigen Bildes zurück.
Einmal hatte sie ihren Vater an seinem Schreibtisch besuchen wollen, aber nicht angetroffen. Später fand sie ihn rauchend auf dem Bett, einen Aschenbecher auf der Brust balancierend. Er war in Gedanken versunken, starrte an die Decke. Vom Plattenspieler kam Musik – etwas Melancholisches mit klagenden Trompeten. Das Licht war gelb; im Schlafzimmer ihrer Eltern war es immer gelb. Dieser unbeschwerte Anblick: der große ruhende Mann, ein kleines blaues Gefäß aus Messing und Emaille bewegt sich mit seinem Atem. Die Zigarette, eine Great China, zwischen seinen Fingern. Als Mädchen hatten sie die Stille und der Ernst des Augenblicks gefesselt, und auch das Wissen, dass er sie nicht gesehen hatte, seine nachdenkliche Selbstgenügsamkeit, die Mischung aus Alleinsein und Distanz, die ihr heimlicher Blick enthielt.
Kinder finden oft zusammenfassende Erklärungen, und damals sagte sie sich: »Ich liebe meinen Vater.«
Vielleicht lag ihre Liebe eher in Bildern als in Worten. Da war keine Erinnerung daran, dass er gesprochen oder ihre Anwesenheit überhaupt zur Kenntnis genommen hatte. Der Moment war still, eingefasst und ganz und gar ihrer.
Zwei junge Männer, beide trotz der Hitze mit Kapuzen auf den Köpfen, saßen direkt vor Pei Xing und unterhielten sich laut. Auf der Fleecejacke des einen war ein Muster aus menschlichen Schädeln; der andere hatte ein chinesisches Schriftzeichen eintätowiert, Schicksal, gerade noch sichtbar auf seinem Hals. Es war seltsam, diese Schriftzeichen als modische Accessoires auf der Haut junger Männer zu entdecken. Dekoratives Chinesisch. Leeres Chinesisch. Pei Xing blickte aus dem Fenster und sah die Gebäude von Bankstown vorbeifliegen.
Ihr Vater Chang Yong hatte ihre Mutter Nan Anyi 1935 in London kennengelernt. Er studierte am Birkbeck College und wollte seinen Doktor in englischer Literatur machen; sie war Klavierstudentin an der Royal Academy. Sie hatten sich durch einen gemeinsamen Freund, Wu Xingfu, kennengelernt, einer jener energiegeladenen Exilanten, denen die Kontaktaufnahme mit anderen als aufregende und wichtige Pflicht galt; ständig organisierte er Zusammenkünfte in Pubs und Picknicks im Park. Die Londoner begafften die bunt zusammengewürfelte Gruppe chinesischer Studenten ohne Neugier auf ihre Geschichte und gleichzeitig – das spürten sie – diffus feindselig gegenüber ihrer Gegenwart.
Chang Yong besaß eine Box-Brownie-Kamera, sein wertvollster Besitz, und einst hatte es eine Reihe kitschiger Fotografien von der Gruppe gegeben, die sie posierend vor verschiedenen Londoner Wahrzeichen zeigte, vor den Löwen auf dem Trafalgar Square, den Stiefmütterchen im Hyde Park, den verschnörkelten Toren des Buckingham Palace. Ein besonders schräges Bild existierte von Yong und Anyi neben den Palastwachen mit ihren pfostenhohen Bärenfellmützen; sie wirkten zwergenhaft, unschuldig und albern. Beide hoben das Kinn in Richtung Wu Xingfu, als er das Foto machte; er musste in die Knie gegangen sein, um das witzige Größenverhältnis zu den Wachen zu betonen. Wenig später schon kam das förmliche Foto von ihrer Hochzeit, ebenfalls von Wu Xingfu geschossen und ebenfalls leicht schief. Das Paar stand auf den Stufen des Standesamts in Camden, beide ohne zu lächeln, so wie es der Konvention entsprach. Anyi trug ein tailliertes Kostüm, und ihre Haare waren wie eine schwarze Meeresmuschel zu einem ordentlichen, gewellten Bob frisiert, der glänzte, als wäre er feucht; Yong trug Nadelstreifen und einen zaghaft schräg sitzenden Filzhut. Beide wirkten glamourös und wussten es. Die Fotografien verrieten Pei Xing, dass sie einander liebten, London sie mutiger gemacht hatte und sie am Beginn ihrer Ehe unzählige Tage vor sich sahen.
Keines dieser Bilder sollte die Kulturrevolution überleben. Niemand aus der Gruppe. Wu Xingfu, der an der London School of Economics seinen Doktor gemacht hatte, wurde gleich zu Beginn ermordet, nachdem man ihn der Pekinger Universität verwiesen und als »rechten, revisionistischen Schlangendämon« verschrien hatte. Er war ein Abkömmling der »Grundbesitzerklasse«, im Ausland ausgebildet und daher gab es wenig, das er zu seiner Verteidigung hätte vorbringen können. Seine Frau, eine Ärztin an der medizinischen Hochschule von Peking, während der Revolution zum antiimperialistischen Krankenhaus umfunktioniert, beging Selbstmord nur wenige Tage, nachdem sie von seinem Tod erfahren hatte. In den langen Wochen und Monaten, in denen Pei Xing die Listen durchging, um zu erfahren, was mit ihren Eltern geschehen war, hatte sie auch eine Zeitungsnotiz gesehen, mit der Wu Xingfus postume Rehabilitation unter dem Regime von Deng Xiaoping bekanntgegeben wurde. Sie las die Namen der Toten sorgfältig mit der Frömmigkeit der Tochter. Ihre größte Angst war, sie ewig zu suchen und nie zu finden.
Irgendwann tauchten die Namen ihrer Eltern schließlich doch auf. Peis erster Gedanke galt ihr selbst: dass sie nun nicht mehr »politisch geschwärzt« war, dass sie jetzt das Land verlassen durfte. Chang Yong und Chang Anyi waren beide rehabilitiert, zweiundzwanzig Jahre nach ihrem Verschwinden. Ihre Namen fanden sich in einer Liste in der Zeitung, in der Spalte mit den politisch Geläuterten, und ein offizieller Brief vom Büro für öffentliche Sicherheit folgte.
Pei Xing fühlte nichts, als sie ihn endlich las. Sie beantragte die Rückgabe ihres Eigentums und Bodens und erhielt stattdessen eine kleine Summe. Dann schrieb sie ihrem Bruder in Australien und fragte ihn, ob sie zu ihm kommen dürfe. Als sie zur Behörde in Xuijiahui ging, um Papiere für sich und ihren Sohn zu besorgen, fiel es ihr schwer, von einem »Familientreffen« zu sprechen, ohne sich ihre Aufregung anmerken zu lassen. Der Beamte hinter dem Schreibtisch, ein Mann so dürr wie ein Stecken und mit dem Gesicht eines vertrockneten Pfirsichs, notierte ihr Geburtsdatum – 26. Dezember, der Geburtstag des großen Vorsitzenden Mao –, hob eine Augenbraue und lächelte. Pei Xing war Bemerkungen über ihr verheißungsvolles Geburtsdatum gewohnt. Doch der Beamte sagte nichts. Er unterzeichnete die Papiere und reichte sie ihr. Pei Xing verließ rasch die Behörde, ohne ihm zu danken.
Doktor Shiwago ist voller Schnee. Shiwago reist mit seiner Frau Tonja in einem Güterwaggon, und die Reise ist deshalb bemerkenswert, weil der Schnee ihr Fortkommen beeinträchtigt und in Form von Metaphern Eingang in die Gedanken des Helden findet. Zunächst sind die Schneeflocken wie Wolle, verdichten sich dann aber zu einem weißen Bühnenvorhang, so breit wie die Straße, er wird langsam herabgelassen und schwingt an den Rändern. Im Scheinwerferlicht des Zuges wird Schnee zum lodernden Feuer, und er bedeckt das Land wie eine Daunendecke den Kopf eines Kindes in der Wiege. Und dann war da ein Abschnitt, den ihr Vater vorgelesen hatte. Shiwago liegt in dem feststeckenden Zug, hört ein Geräusch wie von einem Wasserfall und merkt, dass urplötzlich Frühling in der Luft liegt, die Zeit, in der Schneeflocken noch im Fallen schwarz werden.
Der Dichter denkt: etwas Durchsichtiges, Duftendes. Faulbaumblüten!
Pei Xing erinnerte sich an diesen Satz, weil ihr Vater ihn ihr wie ein Gedicht beigebracht hatte, nachdem er mit ihr über die Übersetzung von »Schnee« gesprochen hatte. Wenn sie in Not war, sagte sie ihn auf: etwas Durchsichtiges, Duftendes. Faulbaumblüten! Da waren so viele – vor allem unwahrscheinliche – Wörter für Schnee; die Satzmelodie gab ihr auf geheimnisvolle Weise Nahrung und Kraft.
Hier, hier und jetzt, gab es keine Not. Da waren nur die ungebetene Erinnerung und die vorüberfliegenden Vorstädte. Aber was Pei Xing vom Zug aus sah, war größtenteils unschön. Die Rückseiten der Häuser mit ihren klapprigen Zäunen, die Stromleitungen, das Graffiti, die flüchtigen Einblicke in von Hypotheken belastete Leben. Da waren verrostete Autokarosserien, Unkrautgestrüpp, drumherum Abfall, aufrührerische Vegetation und üppige urbane Brachflächen. Ein Einkaufswagen war mit schuldbewusster Hast in einen Rinnstein geschoben; aus dem vorüberrasenden Zug sah er aus wie ein Tierkäfig. Noch mehr Graffiti, gekritzelte, rätselhafte, unleserliche Botschaften. Ein junger Mann, vielleicht ein mutiger junger Mann, war nachts über den Maschendrahtzaun geklettert und hatte die Stadt mit egomanischen Zeichen versehen, einer protzigen Signatur, zur Aneignung.
Pei Xing hatte keine Freude an der Fahrt und vergrub sich meist in der Lektüre. Aber die Bewegung gefiel ihr. Sie mochte das Gefühl, sich fortzubewegen.
Catherine Healy erwachte an jenem Morgen in blendendem Licht. In einer so strahlenden Stadt zu sein. Einer so leuchtenden Stadt. Sie stand auf dem kleinen Balkon, von warmer Luft umfangen, das Gesicht dem Sonnenschein zugeneigt. In Dublin gab es solches Licht nie. Nicht einmal am sonnigsten Tag.
In der Wohnung in Darlinghurst, die hinter einer riesigen Coca-Cola-Werbetafel lag, war Catherine um acht Uhr aufgewacht. Von hier aus sah man die William Street, die in die Stadt führte, aber nicht zum Hafen. Hier fragte jeder: Haben Sie Hafenblick?
Sie wollte Luc anrufen, nur um zu sagen: Ach, wie schön die Sonne scheint!
Und im Dunkeln ist da diese Werbetafel, altmodischer Kitsch, eine leuchtende Wand aus beweglichen roten Streifen und geschwungener weißer Schrift, wie aus einem typisch amerikanischen Film, in der Regie von Altman … und man sieht sie meilenweit entfernt, mein persönlicher Orientierungspunkt, meine eigene elektrische Werbung – und wer hätte das gedacht, ein Mädchen aus dem Pearse Tower, ein Mädchen aus Ballymun…
Dieseldämpfe und Benzingestank hingen in der Luft, und der Verkehr toste die abschüssige William Street rauf und runter, ins Zentrum und wieder hinaus. Catherine war erst seit zwei Wochen in Sydney, und ihre Unterkunft war geborgt und provisorisch. Jemand aus der Redaktion hatte sie eingeladen, auf die Wohnung aufzupassen; schon bald würde sie mit der Suche nach einer eigenen Bleibe beginnen. Einstweilen aber gefiel ihr diese künstliche Form des Campens, das Leben mit den unvertrauten Möbeln und dem Kleinkram und der Kleidung einer anderen Person im Schrank. Es war wie Urlaub oder ein Traum, etwas, das ihr gestattete, spontan und ungebunden zu sein. Wenn sie an ihre vier Schwestern, ihre Mutter in Dublin und an ihren lieben Bruder Brendan dachte, Gott hab ihn selig, glaubte sie, frei zu sein. Die Einzige, die entkommen war.
Catherine stand auf, duschte und zog sich ein weites dunkelblaues Sommerkleid über den Kopf. Sie betrachtete sich kurz im Spiegel und entschied sich gegen Lippenstift. Sie würde auf der Macleay Street frühstücken und dann zum Bahnhof laufen. Sie wollte zum Circular Quay, wollte Samstagstouristin werden. Sie würde sich einen Sonnenbrand holen.
Neben einem Brunnen, der einer Pusteblume glich, einer Kugel unter Wasser, lodernd und extravagant, trank Catherine ein Glas Soja-Latte und pickte an einem krümeligen Croissant. Da war eine Kellnerin mit Dreadlocks und schwarzer Hose, die ungezwungen fröhlich wirkte. Die Kundschaft bestand aus gut aussehenden, hauptsächlich jüngeren Paaren, Leuten, die den Tag im Fitnessstudio begannen oder schnellen Schritts ein Hündchen Gassi führten. Jogginganzüge, Pferdeschwänze, eine kleine kecke Kappe – es gab sie überall, diese Sorte, in Ranelagh und Rathgar, in Camden und Notting Hill, mit der Samstagszeitung in der Sonne in Potts Point.
Catherine saß still da und dachte daran, was für ein Glück sie hatte, als würde ein Teil von ihr glauben, sie habe es nicht verdient, es sei reiner Zufall, wie ein Lotteriegewinn, durch den sie plötzlich reich geworden war. Sie genoss das unglaubliche Wetter und ihre Freiheit. Durfte sich eine Auswanderin so fühlen? Trotz allem, was sie hinter sich herzog, verlorene Familien und Länder, so gab es doch auch das Gefühl, ein neuer Himmel könne ein Licht der Offenbarung auf sie werfen. Neben Catherine blitzte der Brunnen, und sie fand ihn sehr beschaulich. Mammy hätte er sehr gefallen. Und Mary. Und Philomena. Und Claire. Und Ruthy. Ganz besonders Ruthy. Und Brendan auch, bevor ihn der Unfall aus dem Leben riss und er lange vor seiner Zeit auf dem Glasnevin Cemetery landete.
Catherine hatte plötzlich Lust auf Rührkuchen und Kartoffeln und sah die Ringstraße vor sich, grau und trist und voller riesiger Laster, die halsbrecherisch durch Regen und Nebel rasten.
Der Mann, der Catherine am nächsten saß, schlug seine Zeitung auf, und sie betrachtete die Titelseite. Wieder waren irgendwo Bomben explodiert. So viel wusste sie, dass es immer irgendwo einen Bombenanschlag gab. An Catherines zehntem Geburtstag, am 12. Oktober 1984, hatte die IRA einen Anschlag auf das Grand Hotel in Brighton verübt, in der Hoffnung, Margaret Thatcher zu ermorden, und seither war ihr Geburtstag immer mit dieser Geschichte verbunden, die Politik und die Männer und der absolute Wahnsinn dieser ganzen Bombenlegerei hatten sich ihrer bemächtigt. Tagelang waren die Zeitungen und das Fernsehen voll davon – fünf Tote, natürlich war das nichts im Vergleich mit dem Irak jetzt –, aber Catherine hatte damals entdeckt, dass all das, wonach sie sich an ihrem Geburtstag sehnte, im Großen und Allgemeinen gar nichts bedeutete. Die zweitjüngste von fünf Schwestern zu sein, war schlimm genug; sie würde sich immer von anderen und deren Plänen überrannt fühlen. Doch an diesem Tag fing sie an, über Politik nachzudenken, an eine Geschichte, die anders war als Irish Eyes Are Smiling. Sie und Brendan – sie waren sich sehr nahe gewesen, obwohl er fünf Jahre älter war – hatten sich zusammengekauert und sich den Geburtstagstod von Margaret Thatcher vorgestellt, wie Erwachsene über den Sinn des Lebens nachgedacht.
Einige Monate zuvor hatte Brendan gegen den Besuch von Präsident Reagan im Dorf Ballyporeen demonstriert. Catherine war die Einzige am Essenstisch, die Brendan unterstützt hatte, obwohl sie nicht wirklich begriff, wogegen protestiert wurde. Mam hatte die Schöpfkelle auf den Tisch geknallt und gesagt In meinem Haus wird nicht über Politik geredet! Und Da hatte einfach nur dort gesessen, seine Erbsen gegessen und die anderen hatten gekichert.
Brendan und Catherine waren die Ernsten, die Schlauen, wie Mam sagte, wenn sie bessere Laune hatte. Brendan war im Fernsehen; sie sahen ihn in der O’Connell Street, wie er mit den anderen Halbstarken laut brüllte, sich in Szene setzte und berühmt werden wollte. Er schrie, Reagan sei ein Kriegstreiber und verdammt noch mal böse, er wolle den Krieg der Sterne auf Erden und Unschuldige vom Himmel schießen. Catherine fand es aufregend, ihn dort zu sehen, auf der Straße, wie er mitten in Dublin Krach schlug. Vertraute Bilder der Stadt blitzten auf und vor ihnen sein Gesicht in der Masse, deren Münder sich vereint öffneten und schlossen.
Ihr großer Bruder, ah wunderbar, wie er reden konnte …
Ein paar Tage später zeigte Brendan ihr einen Zeitungsartikel, in dem stand, Reagan habe dem irischen Präsidenten einen Briefbeschwerer überreicht: Er fand das saukomisch. Er äffte die Geschenkübergabe nach, setzte einen ungeübten amerikanischen Akzent auf und machte sich über das schwere Ding lustig, das dazu diente, die widerspenstigen Staatspapiere zusammenzuhalten. Catherine musste Brendan zur Ruhe anhalten, als sein Gelächter hysterisch wurde – Mam würde wissen wollen, was sie beide so lustig fanden.
Aber es war ein wunderbarer Augenblick, in dem sie sich ihrer Komplizenschaft bewusst waren, sie sich aneinanderschmiegten und wortlos und sofort beschlossen, in geschwisterlicher Liebe und mit der Ahnung von einer gemeinsamen Zukunft, ein Team zu bilden.