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II. Johanna

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Nein, oben war noch nicht hell. Also war das Brautpaar, wie alle wohlerzogenen Menschen, unpünktlich; aber Ellen Stein kannte das auch genau, es war nicht eine Minute unpünktlicher, als es sein konnte. Besonders, da es wusste, dass keine anderen Gäste kämen. In zehn Minuten, spätestens einer Viertelstunde würde das Brautpaar also da sein. Natürlich war das Haus schon wieder abgeschlossen, denn der Portier hatte seine eigene Zeitrechnung. Überall sonst brannte noch das Licht drüben in den Fluren, er aber hatte wohl die Eigenheit seines Dorfes beibehalten, im Winter früh schlafen zu gehen. Aber die Treppenbeleuchtung war wenigstens in Ordnung und der Fahrstuhl auch ... warum auch nicht, die Mieter hatten ja eben erst für beides Reparaturkosten von turmhafter Höhe zahlen müssen. Jedesmal, wenn Ellen Stein des Abends auf den Lichtknopf drückte, hoffte sie, es würde einmal ihr altes weisses Treppenhaus aus der Rauchstrasse mit den hohen breiten Fenstern, den dünnen vergoldeten Gitterstäben des Treppengeländers, mit dem Gipsabguss der Herkulanerin auf dem Podest, und mit den Lorbeerbäumen in Kübeln, die dort überwinterten, (im Sommer standen sie hinten an der Gartentreppe) und dem grossen Kamelienbusch, der seit vierzig Jahren jeden Januar voller Blüten gewesen war, und auf den alle sehr stolz waren, würde einmal all das nun aus der Dunkelheit ihr entgegenspringen. Und immer wieder war es nur diese fatale Ansammlung von Holz- und Marmorplatten, die man Vestibül nannte, und von denen das Holz seinen Ton eingebüsst hatte, weil es nur auf Edelholz eingefärbt war. Und die Marmorplatten stumpf in der Politur geworden waren und schmuddelig, weil sie eben keine Marmorplatten waren, sondern nur so aussahen (man so duhn!, wie ein Lieblingswort Fontanes war). Das da war ja auch nichts gewesen, nur ruhig und hell und weiträumig; ... aber es war doch wenigstens kein „falscher“ Marmor.

Auch oben war alles noch dunkel und still. Und als Ellen Stein aufschloss, während eben wieder die Treppenbeleuchtung abschnappte, um mit einem Schlag das Treppenhaus samt den Goldtapeten in ein erbarmungsvolles Dunkel zu hüllen, rief sie, halb noch draussen, halb im Korridor, schrill und missmutig ein paarmal: „Johanna!“ und murmelte, als sich nichts regte, ein: „Unerhört!“ hinterher. Vielleicht waren sie schon inzwischen dagewesen und wieder fortgegangen, kamen nochmal. Auch das Ehepaar Gross schien entflattert zu sein. Jedenfalls hatten sie kein Licht in ihren Zimmern. Und im Salon, — was dachte diese alte Person sich eigentlich! — war der Teetisch noch nicht gerichtet. Das stellte Ellen Stein erschrocken fest, während sie noch mit der einen Hand im Mantelärmel war und mit der anderen das Licht knipste. Und warf, ganz wider ihre Art, den Mantel über einen Stuhl des Korridors, und ging daran, die Nippes vom Tisch zu räumen, während sie in gemessenen Abständen ihren Schlachtruf „Johanna“ durch die Wohnung gellen liess.

Die einzige Konzession, die dieser Salon von einst an die Gegenwart machte, war die Zentralheizung und das Tischtelephon, das sich aber auf einem Seitentisch vor dem Sofa zwischen allerhand Whistkästen und geschnitzten Reiseandenken aus Olivenholz und Perlmutter verbarg, weil es wusste, man würde es schon finden, wenn es um Hilfe schrie. Und die Zentralheizung hatte sich ebenso in eine Art von durchbrochenem schwarzen Schrank versteckt. Nur die Intimen des Hauses, und das waren ausser Johanna und Ruth nicht viele, wussten, dass weiter die beiden hohen Petroleumlampen mit den gemalten Porzellanbecken und den gemalten Glasschirmen und den vergoldeten Bronzefüssen mit Bronzegriffen und Ketten (wozu?!), die aus Paris stammten, und denen einst nachgerühmt wurde, dass die Kaiserin Eugenie in ihren Privatgemächern die gleichen gehabt hätte, nicht mehr von der Marmorplatte des Trumeaus weggeräumt werden konnten, weil sie nämlich für Elektrizität angeschlossen und dort festmontiert waren.

Man muss nebenbei nicht glauben, dass sie, Ellen Stein, diese Lampen besonders schön fand oder sich über die Palisandermöbel des Salons irgendwelchen falschen Vorstellungen hingab ... Gewiss, sie waren so das beste, was sich wohlhabende Leute vor sechzig und fünfzig Jahren als das Neueste und Modernste anschafften, aber sie waren trotzdem das Schlimmste, das damals seit vierhundert Jahren gemacht worden war, sofern man nicht an das dabei denken wollte, was nachher kam. Mit den Jahrzehnten aber hatten sie die Patina von Behaglichkeit bekommen, ebenso wie Mutters Nähtisch mit Troddeln, der wie neu war, da Madame Stein in dreissig Jahren nie eine Nadel in die Hand genommen hatte, und da ihre Tochter die Pietät soweit getrieben hatte, dass sie es auch in den folgenden fünfzehn Jahren nicht tat. Selbst das vergoldete Stühlchen, das mit dem Nähtisch verheiratet war, und dessen Vergoldung nirgends an Glanz eingebüsst hatte, weil niemand auf seine Zierlichkeit sich je zu setzen gewagt hatte, schien hier am Platze. Die Polsterstühle hingegen luden gerade dazu ein, und sie gleichen einer freundlichen, alten Kinderfrau, die gewiss keine Schönheit ist, aber bei der man sich geborgen fühlt. Nur dass eine Kinderfrau keine weiten Seidenkleider trägt mit vielen Falten und Knöpfen und einem Volant von Quasten. Auch würde Ellen Stein nie eine Alabasterschale sich hinstellen, auch wenn in ihr Früchte aus Gummipapier lägen, oder in Vasen künstliche Blumen mehr dulden. Und noch weniger würde sie etwa grosse Photographien von gleichgültigen Leuten sich hinhängen mit geschnitzten Holzrahmen aus Ranken und Blüten von Gartenwinden, nur weil die Urbilder vorgaben, mit ihr verwandt zu sein. Sogar über den künstlerischen Reiz der ovalen Ölbilder in ihren Goldrahmen gab sie sich keiner Täuschung hin. Diese Herren mit den flatternden Habsburger Koteletten, und jene mit der Fliege und dem dicken gedrehten Schnurrbart, wie man es heute nur bei Stallmeistern im Zirkus noch findet, waren doch menschlich gleichgültig, und nur dadurch belustigend, dass man heute eben nicht mehr so aussah ... wie vor sechzig Jahren und mehr man ausgesehen hatte, wenn man bekannt dafür war, der „schöne Mann“ zu sein. Aber ihre Frauen waren damals weicher und vor allem frauenhafter, als die heute ... mit einem verschleierten Blick der Augen unter sich senkenden Wimpern und mit einem Silberschimmer des Nackens, der mit einer leichten Drehung aus einem schwarzen Kantenschal emporwuchs. Man fühlte, dass der Maler sie verehrt und nicht nur begehrt hatte.

Man kann nicht sagen, dass Ellen Stein an allen diesen Dingen sehr hing, nur weil sie zwischen ihnen aufgewachsen war. Sie hatte vielmehr das Gefühl, man müsse ihnen Asylrecht geben, solange es ginge, und sie dürften nicht auf dem Trödel verkommen; und da niemand nachher da wäre, die Dinge zu pflegen, so wollte sie wenigstens die Dinge pflegen, solange sie da war. Das war alles! Ihre Schwester hatte doch für so etwas nichts übrig. Hatte, wie alle Menschen, die nicht wissen, wie reich sie sind, nur mit sich zu tun, und war doch heute nur noch eine Daseinsschauspielerin, über die die Welt, und vor allem die Männer — und ihr Geschmack war darin sehr jung geblieben! — sich endlich doch nur lustig machten, weil sie nicht in ein anderes Fach übergehen wollte; wollte doch immer noch die erste Liebhaberin spielen, statt der Salonschlange, die man noch vielleicht hätte gelten lassen, mit dem Hinweis, dass sie eigentlich eine vorzügliche komische Alte abgäbe. Also wer sollte all das zusammenhalten, wenn sie es nicht täte?! Sie hatte lange mit sich gekämpft, ob sie nicht wenigstens die Geschenke von der silbernen Hochzeit verschwinden lassen sollte, die Widmungen trugen und Jahreszahlen, wie Sportpreise ... riesige Porzellankaskaden von Tafelaufsätzen, die man eigens in der königlichen Manufaktur für sie hatte entwerfen und malen lassen — also Unika an Scheusslichkeit — und die Mutter so stolz oben auf den Silberschrank gestellt hatte. Ach was, die Eltern hatten sich damit gefreut — sollten sie stehenbleiben! — — —

Doch als Ellen Stein — sie legte gerade eine himmelblaue Teetischdecke auf, zum fünftenmal ihren Schlachtruf „Johanna“ ausstiess, und mehr für sich, weil leise, ein „Herrgott noch mal, wo bleiben Sie denn?“ ihm folgen liess, da war Johanna plötzlich da; war wie Doktor Mirakel aus einer Tapetentür gekommen. Sie war wie ein Wesen einer heute fast ausgestorbenen Rasse. Weisshaarig, schwerfällig, von mächtigen Körperformen, scheinbar treuherzig und dabei sehr bauernschlau. Bald fünfzig Jahre Grossstadt und mehr hatten nichts an ihr gemodelt und geändert oder ihrem Charakter eine andere Färbung gegeben. Noch heute ist sie ganz Berechnung und voller Hinterhalt. Hat aber, denn sie ist klug in solchen Dingen, eingesehen, dass es besser ist, sich zu verstellen, und verschanzt sich also, wenn es nicht anders geht, hinter Schwerhörigkeit und Kurzsichtigkeit, die sie sonst kaum stören. Treuherzig duzt sie alle Familienmitglieder, und auch dass jene mit Betonung „Sie“ seit Jahren zu ihr sagen, scheint sie zu überhören, oder als schuldigen Tribut für ihr würdiges Alter zu betrachten.

Ellen Stein war es unangenehm gewesen, als Johanna nicht da war; aber nun merkt man es ihr an, dass es ihr noch unangenehmer ist, dass sie jetzt gekommen ist.

Aber Johanna hat eine feine Nase für so etwas. „Na, wat schreisten so, Ellen,“ sagt sie talig, kindisch und gutmütig. „Ick bin ja schon da, mein Kind. Eben bin ick erst mit Fifin ’raufgekommen.“

Aber gerade das ist der Ton, den Ellen Stein am wenigsten in diesem Augenblick brauchen kann. „Warum ist denn noch nicht mal hier gedeckt?“

„Ja ich wusste eben nicht, ob du ins Esszimmer oder im Salon nachher bleiben willst. Und wie ich’s da gemacht hätte, wär es dir nicht recht gewesen.“

Sie wird immer eine Ausrede haben, denkt Ellen Stein. Hatte sie nicht dreimal gesagt, dass sie hier decken sollte?! Aber das wird nicht anders mehr. Also wechseln wir den Gesprächsstoff. „Ist denn Fifi wenigstens im Körbchen? Wenn nicht, sperren Sie ihn ja in die Küche ein. Und haben Sie Lorchen auch fest zugedeckt, Johanna?“ — Ellen Stein betont das Sie, trotzdem sie weiss, dass es nichts nützt. „Sonst stört er uns nachher wieder.“ —

Johanna aber wird von einer geradezu schlammigen Ruhe und sieht Ellen freundlich aus kleinen, wie verschlafenen Augen an. „Entweder hat man solch Tierchen,“ sagt sie orakelnd und feierlich, „oder man hat es nich. Wenn man’s aber hat, muss man’s nehmen, wie’s is. Andere Papajeien schreien noch ville mehr.“

Ellen seufzt leise auf. Gegen diese Bauernzähigkeit ist sie wehrlos. „Salzmandeln,“ sagt sie, und schüttet den Inhalt der Tüten in kleine Schälchen. „Ingwer, bittere Schokolade ... Lindt ... Hoppjes ... Mandarinen ... petits fours ... Datteln! Wo sind denn die kandierten Weichselkirschen? Ach da!“

Johanna steht dabei, die Hände über der weissen Schürze auf den Bauch gefaltet und sieht ihr, ohne sich zu rühren, zu. Das ist ihre Taktik, wenn Ellen arbeitet. Ihre Regel lautet: ich tue entweder alles selbst ... oder ich tue gar nichts.

Heute aber scheint diese Taktik bei Ellen nicht angebracht, das merkt Johanna an dem Ton, mit dem jetzt die Fragen so ganz kurz wie Steinwürfe ihr rechts und links um die Ohren fliegen. „Sind auch die Brötchen fertig, Johanna? Sind die Käsestangen gekommen, Johanna?“ (Sie hat gar nicht Zeit zu antworten, kaum zu nicken.) „Geben Sie mal die vier Schälchen aus dem Silberschrank und die beiden grossen Körbe. Und die Leuchter. Aber die von den Grosseltern van Leuwen. Sind die Wachskerzen noch lang genug? Sonst stecken Sie neue auf.“

„Die jnädige Frau hat das nie jern gesehen, dass die genommen werden,“ sagt Johanna in einem Ton, als ob sie eine Tempelschändung verhindern will. Und sie weiss, dass das sonst ihr letzter Trumpf ist, der nie versagt und alle Asse sticht. Aber heute bleibt er wirkungslos.

„Mag sein,“ sagt Ellen kurz. „Aber jetzt habe ich hier zu bestimmen,“ und damit ist Johannas letzter Trumpf unter den Tisch gefegt. Johanna aber ist so erstaunt darüber, dass sie sich immer noch nicht rührt.

„Also,“ meint Ellen salzig, „dann werde ich das Silber morgen selbst putzen.“

Das trifft die alte Johanna an ihrer verwundbarsten Stelle. Zielt so mir nichts, dir nichts auf ihre Achillesverse, denn das Silberputzen ist ihr verbrieftes Reservat seit langen Menschenaltern. „Von Putzen red’ ja keiner,“ sagt sie weinerlich und geht zum schwarzen Palisanderschrank herüber, um ihn aufzuschliessen. Und nun greift sie hinein und bringt Leuchter, Körbe, Bestecke. Aber Ellen ist immer noch nicht zufrieden.

„Ich habe Ihnen schon hundertmal gesagt,“ spricht sie, im Tone einer Lyzeumslehrerin, während sie mit ihren Händen auf dem Tisch herumfährt, „die Obstbestecke kommen links oben hin, Johanna. Immer wieder legen Sie sie, patsch, mitten auf den Teller.“

Johanna ist darüber sehr unglücklich oder stellt sich so. „Einem alten Hund bringt man keine Kunststücke mehr bei,“ seufzte sie.

Aber dann beschliesst Johanna noch einen letzten Vorstoss in Sachen des Silbers zu machen. „Na, könnten wir nicht doch lieber das Alfenid nehmen?!“ meint sie, hält in ihrem gerechten Schmerz inne und sieht Ellen wie ein Kind, das um etwas bettelt, von der Seite an.

„Nein“ — sagt Ellen schroff, so schroff, dass es ihr selbst leid tut, denn diese alte Person ist ja doch ein Kind. Ein dummes kleines Mädchen, das noch nicht zehn Jahre alt ist und dabei nächstens vierundsechzig wird. Und welchen Sinn hat es, einem Kind weh zu tun?! „Ich glaube nebenbei“ — und Ellen stimmt den Ton unvermittelt auf Intimität herab — „in diesem Fall hätte selbst Mutter das Familiensilber mal ’rausgerückt. Für wen sollte sie es sich denn eigentlich aufheben, wenn nicht für ihr einziges Enkelkind? Etwa für Herrn Brenneisen? Sie hätte ja gewiss gern mehr Enkel von der Sorte gehabt, aber es sind nun mal nicht mehr geworden.“ Am liebsten hätte Ellen Stein in diesem Augenblick Johannas dicken Arm, an den sie — man soll doch die Girandolen nicht einfach in die Mitte stellen, sondern einen Leuchter rechts und einen links! —, an den sie zufällig stiess, gestreichelt. Was hat das für einen Sinn, so einem alten treuen Menschenkind weh zu tun.

Aber Johanna ist nicht nur ein Kind, sondern auch eine echte Bauerntochter. Sie vergisst nicht — und sie trifft dann, gerade wenn es nicht vermutet wird, den anderen um so tiefer, weil sie sich dabei ganz dumm stellt und sehr bieder. „Ja, auf die Art,“ sagt sie, und lächelt Ellen mit gesenktem Kopf überm Tisch an, als meine sie es sehr gut mit ihr, „gerade auf die Art wäre das deiner Mutter auch nicht recht gewesen.“

Ellen stellt eine alte Porzellanschüssel, die sie in Händen hält, sehr unsanft auf den Tisch zurück. Und wenn sie dabei nicht mitten durchbricht, so liegt das vielleicht nur daran, dass altes Porzellan doch fester und härter ist, als das von heute. „Also, Johanna,“ sagt sie, sehr scharf und mit ganz dünnen und gezerrten Lippen, „das verbitte ich mir von Ihnen: das ist ...“

Aber Ellen Stein kam gar nicht mehr dazu, eine Gemeinheit zu sagen, denn Johanna weiss genau, dass es ihre Position nur verschlechtert, wenn sie etwa versuchen würde, ihren Sieg auszunützen. Sie war die Schwächere, das brachte das Leben so mit sich. Im Laufe der letzten zehn Jahre, seit dem Tode der Madame, hatte sie gelernt, bei allen Zusammenstössen mit Ellen im richtigen Augenblick — aber das war ihre Kunst: immer erst im allerletzten — zu bremsen und abzulenken. „Na findest du das eigentlich recht,“ sagt sie, nun plötzlich tief besorgt um das Wohl all derer, die ihr von Gott anvertraut sind, „dass man so ’n Kiek-in-die-Welt schon heiraten lässt? Ich werde das aber Greten auch sagen. Ich nehme kein Blatt vor den Mund. In dem Alter hat man zu meiner Zeit überhaupt noch jar nich alles wissen dürfen ... Des kommt mir jrade so vor,“ — setzt sie hinzu, als sie merkt, dass Ellen noch nicht auf diese Wendung des Gesprächs eingehen will, „gerade so, als ob Grete das Kind nich mehr zu Hause haben will, weil es da zu viel sieht ... und damit sie wieder die junge Frau spielen kann.“ Aber als Ellen immer noch nicht anbeisst, sondern mürrisch am Tisch nur herumwirtschaftet, wirft Johanna noch ein letztes Mal ihre Angel aus: „Aber so war das immer mit ihr, auch wie sie noch bei uns im Haus war. Ich bejreife den Mann nich, wie er das zulässt.“

Ellen Stein weiss nicht recht, ob sie den Köder annehmen soll; aber dann schnappt sie doch zu. Gibt sich aber den Anschein, als ob sie ihn eigentlich gar nicht beachtet hätte. „Liebe Johanna,“ sagt sie spitz, „ich denke, das sind doch Gretchens Privatdinge. Ich würde es mir ja auch verbitten, wenn sich jemand“ — sie gibt diesem jemand einen unmissverständlichen Ton: Distanz halten! — „jemand von denen um meine privatesten Privatdinge bekümmern wollte.“ (Johannas Ich duckt sich und lässt das über sich weggehen; es weiss: nun ist es vorüber.) „Ausserdem aber“ — und das sagt der bittere Stolz der Einzelgänger — „habe ich mich schon seit vierzehn Jahren daran gewöhnt, das nicht zu begreifen, was andere tun. Wenn mein Leben so sinnlos wäre, wie das meiner Schwester, und das der meisten Menschen, würde ich mich längst aus dem Fenster gestürzt haben.“

Johanna hält die Gelegenheit für günstig, um philosophisch zu werden, und zugleich Ellen dabei etwas zu schmeicheln. Aber sie fängt es falsch an. „Na ja“ — mimmelt sie — „du hast, Jott sei Dank, deine Bicher; un wenn de reisen willst, denn reiste; un wenn de zu Hause bleiben willst, kannste auch zu Hause bleiben ... Aber wat hat unsereener, der bald doppelt so alt is, und der keene Bicher hat, un nich reisen kann, un immer noch unter fremde Leute sein muss?!“

Ellen kämpft einen Augenblick mit sich. Jetzt nur keine Szene! Sie müssen jede Minute da sein. Und dann sehen sie vielleicht verheulte Gesichter. Aber vielleicht löst das doch auch endlich kurz und schmerzlos mal alle Schwierigkeiten. „Sie wissen, dass ich solche Reden nicht liebe, Johanna,“ sagt sie mit einer unbeirrbaren Sachlichkeit. „Wenn Sie sich jedoch zu alt fühlen, und Ihnen der Dienst bei mir zu schwer ist, können Sie morgen gehen. Es wird für Sie gesorgt sein, solange Sie leben. Ich finde zwar, besser, wie Sie es haben, können Sie es nicht haben; — aber ich will Ihnen da keine Schwierigkeiten machen.“

Johanna starrt sie ganz dumm aus ihren kleinen, schon etwas getrübten Augen an (und dabei hat sie es doch so gut gemeint!). „Na, wat soll ick denn wo anders?“ schluckt sie endlich. „Sowat hat mir die jnädige Frau nie jesagt.“ Und jetzt kommen ihr die dicken Tränen. „Pfui, so etwas kannst du einem auch nur immer sagen.“

Ellen Stein fühlt, dass dieser Ausfall pariert ist, und es bleibt für sie keine Zeit mehr zu einem zweiten. Also abgeblasen! „Schön, Johanna, dann werden wir weiter zusammenbleiben, und hoffentlich“ — (wozu lügt man? denkt sie) — „hoffentlich noch recht lange. Aber das Gefühl, das Sie hier denken, dass ich Sie ausnütze, wäre mir uner ...“ Aber Ellen Stein sagte nicht mehr: unerträglich! — denn ihr letzter inspizierender Blick hatte auf dem Tisch vieles entdeckt, was ihr peinliches Missfallen erregte. „Aber haben Sie denn keinen englischen Jam mehr, Johanna?“ ruft sie empört und schnuffelt — ein Tschin, dem ein Bissen verdächtig vorkommt — an einem Kristallschälchen. „Man blamiert sich doch. Den deutschen kann man doch wirklich keinem Menschen vorsetzen! Und die Biskuits! Bringen Sie sofort die holländischen! Ebensogut hätte man auch ein Stück Pappe mit Zucker hinstellen können. Und Papierservietten! Das ist wirklich der Comble! Herrgott, wir sind doch hier immer noch bei Steins und immer noch nicht bei Peitel Topfflechter. — Nicht die grossen, die kleinen Damasttücher bitte!“

Johanna steht scheinbar wie begossen da. Aber sie notiert sich jedes Wort innerlich. „Gott für wen denn?“ sagt sie mehr für sich, während sie die Servietten kunstvoll wie kleine Miniaturschwäne zusammenfaltet, „mit dem Bräutjam kann man doch auch keine Bilder herausstecken, habe ich mir sagen lassen. Weest du Ellen, wenn ich so viel Geld hätte, wie Gretchen und ihr Mann, denn dürfte mir so einer überhaupt nicht über die Schwelle kommen. — Is er denn nu schon Arzt, oder will er erst eener werden? Des könnte für Ruth doch mindestens ein Professor sein.“ Johanna mischte geschickt ihren Ton von unverfälschter Biederkeit mit ihrem philosophischen, so geschickt, dass selbst Ellen Stein nicht ahnte, was dahinter sich verborgen hielt. „Nicht wahr, Ellen, mit Frau Professor, da kann man sich heutzutage überall sehen lassen. Aber: Frau Doktor! — des ist ja jetzt einfach jede. Siehste, wenn du eben nicht das Unglück jehabt hättest ...“

„Also, Johanna“ — sagt Ellen — (nur jetzt keine Szene; nur jetzt nicht mehr!). „Johanna gehen Sie mal noch sofort schnell zu den Mietern vor. Die Grossens möchten wenigstens heute abend nicht das Elektrola spielen lassen.“

„Ach“ — meint Johanna, und streicht dabei, wie sie das in Zesternik bei Bukow gewohnt einst war, — das aber war ihr seit Jahrzehnten nicht abzugewöhnen! — an der Stiefelsohle ein Schwefelholz an, das sie aus der Schürzentasche nimmt, und beginnt die Kerzen in den Girandolen anzuzünden. „Ach die, die sind überhaupt fortgegangen. Gross in Gala ... Sie mit ’n Chinchilla bis uff de Erde. Ordentlich nachgeschleppt hat er ihr. Aber mich uff de Treppe etwa grüssen, oder dir de Miete bezahlen, des tun se nich; dazu sind sie (sie zog das Wort wie eine Zuckerstange ... gerade solange, wie draussen die Glocke schrillte) sin’ se ville zu fein und zu vornehm.“

Das Wort „vornehm“ aber ist schon nicht mehr ganz verständlich, denn Johanna spricht es, während sie das elektrische Licht ausknipste, in den Korridor hinein. Das Zimmer aber bekommt in dem milden Gold der Kerzen — auch auf der Etagere sind sie angezündet — einen Hauch von ehedem, wird wirklich sehr warm und einladend und von einer fast patrizierhaften, wenn auch ganz leicht spiesserlichen Vornehmheit.

Ellen Stein geht aber noch einmal an den gedeckten Tisch und sagt absichtlich, während sie die Blicke noch einmal über die Dinge da unter ihr kritisch wandern lässt — so wie ein Feldwebel eine Kompagnie noch ein letztesmal abschreitet vor der Abnahme durch den Herrn Hauptmann, innerlich fluchend, weil jetzt nichts mehr zu ändern ist: ja, und wer bekommt den Tratsch — natürlich nur er! — sagt also dabei ganz laut für sich, aber für jene da draussen bestimmt (vielleicht hört sie es doch mal!): „Wenn man das alte Biest doch nur auf irgendeine anständige Art los würde,“ und dann legt sie ihr Gesicht in die freundlichen Falten, mit dem man einem Besuch, und wie erst dem allerersten, halboffiziellen Besuch eines jungen Brautpaares, entgegengeht.

Träume der Ellen Stein

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