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III. Das Brautpaar
ОглавлениеJohanna aber geleitet die beiden herein, als ob sie die Brautmutter wäre, und strahlt dabei Ruth mit kleinen Augen seitlich an, und sagt nichts wie: „Na, Rüthchen, ich gratuliere, du hast dir aber een hübschen Mann ausgesucht.“
„Johanna wir klingeln dann“ (so etwas fehlte ihr noch!), sagt Ellen sehr leise, aber mit einer schneidenden Unliebenswürdigkeit.
Und Johanna wirft Ruth einen Blick zu: ‚Also so behandelt man hier einen Menschen von meinem Verdienst‘, und entschwindet wie weiland Doktor Mirakel durch die Tapetentür. Ruth aber geht mit einer Mischung von Ironie und Zärtlichkeit in den lächelnden Zügen auf ihre Tante zu, während jener schlanke und überaus gut gekleidete, duftende und beringte junge Mann, den sie mitgebracht hat, und der die brünette Schönheit eines südfranzösischen Weinreisenden hat, auf die Frauen immer hereinfallen, und die nur viel Verpackung und kein Inhalt ist, zum mindesten kein nennenswerter (man denkt nur Wunder was!) ... während der auf halbem Wege, etwas scheu und lächelnd, denn dieser Besuch ist gefährlich, das fühlt er, und kann nicht ohne ernste Folgen für sein Leben sein (er weiss, hier sind Widerstände zu überwinden), scheu, aber mit seinem Lächeln Nummer eins — für sehr komplizierte Situationen! — etwas hinter Ruth zurückbleibt. Er hat sich auch vorgenommen, diesen Abend sehr wenig zu sprechen (denn es ist ihm bekannt, dass dieses ältere Fräulein überaus gescheit und vielwissend ist), und nur seine Person wirken zu lassen, und etwa nicht den Eindruck eben dieser fahrlässig zu zerstören.
Ruth aber ist wirklich auffallend hübsch und gross für ihre neunzehn Jahre. Sie hat sich sehr gut für heute abend, aber nicht besonders angezogen. Denn sie weiss genau, dass das eine die Tante Ellen liebt und das andere hasst. Also nur ein kleines Abendkleidchen, ein doppeltes Diminutiv einer Bescheidenheit, die viel Geld kostet. Sie ist glänzend gebobbt, und nicht einmal das Monokel verbirgt ihren Mangel an Dummheit, oder nimmt ihrem klaren Gesicht den Zug von Drollerie. Weil’s andere machen, schminkt sie sich auch, und zieht etwas die Lippen nach, ohne dass es ihr bisher, trotz aller Mühe, gelungen ist, die natürliche Frische ihrer Farben zu verderben, für die Tennis und Hockey und in letzter Zeit ihre Bemühungen auf dem Golfplatz, die der Steuerstufe der Eltern auch mehr entsprechen — denn das andere ist ja fast schon proletarisch geworden! — immer wieder täglich und von neuem sorgen. Mit Bildung hat sie nicht viel vor; aber nicht etwa, weil es ihr an Begabung mangelt — sie war eine Musterschülerin —, sondern, weil sie Gewesenes nicht interessiert. Sie nennt gern Bücher alte Schwarten, und die Museen Räucherkammern für Schinken; denn sie ist stolz darauf, ganz im Heute zu leben. Malerei fängt bei ihr bei van Dongen und Otto Dix an und hört gleich dahinter auf. Doch geht sie ins Theater, weil das mühelos ist, und liebt den Sportpalast und das Sechstagerennen. An all diesen Stätten ist sie wie zu Hause, kennt jeden Kulissenklatsch, duzt sich mit Prominenten beiderlei Geschlechts. In ihren Erzählungen aber treten sie nur mit Vornamen auf, und sie ist entsetzt, wenn zum Beispiel Tante Ellen nicht ahnt, wer mit Gustav, Max oder Elisabeth gemeint ist, ob ein Boxer, eine Freistilschwimmerin oder eine erste Liebhaberin. In Automarken oder in Barmischungen wird ihr so leicht keiner etwas vormachen. Den Eifer ihrer Altersgenossen für Politik teilt sie nicht. Auch hat der Zionismus stets umsonst bei ihr angeklopft, wenn er auch bei manchen Freundinnen ihrer Kreise zum guten Ton gehört. Solange ihre Eltern noch reich genug sind (und das sind sie durchaus), ist die Politik die rechte, und das andere eine unnütze Verschwendung seelischer Kräfte. Trotzdem soll man sie nicht etwa unterschätzen und für lebensschwach nehmen. Sie würde, gezwungen, sich selbst zu erhalten, sich jederzeit in der schwierigen Welt mit Sicherheit und Ellenbogenkraft zurechtfinden. Bislang aber hat sie es noch nicht nötig. Natürlich ist sie beneidenswert gesund, und deshalb markiert sie auch nicht die Perverse oder die Halbweltdame, denn sie weiss, dass ihr das nicht stehen würde, sondern einfach das ewig lächelnde Chorgirl. Und wie jenes, hat sie auch Tanzen zu einer Funktion ihres Daseins gemacht. Am liebsten aber tanzt sie — wie sie gern behauptet — ihren Eltern auf der Nase herum. Auch dass ihr diese Verlobung so einfach konzessioniert worden ist, trotz einiger Bedenken, findet sie totschick, und ein Beweis, wie sie — doch Tante Ellen ist hierüber durchaus anderer Meinung! — ihre Eltern sich gezogen hat. Und deshalb sieht sie — alles in allem —, diese Ruth Bergheim, wie sie hier steht, äusserlich und innerlich genau so aus, wie tausend sehr hübscher junger Mädchen aus den reichen Häusern heute aussehen. Ruth erhebt also, sich aufreckend, ihre hübsche, schlanke und sportfeste Hand mit vorgekehrter Handfläche bis zum Kronleuchter, — sie grüsst neuerdings nur nach Faszistenart — und ruft „Ala Ala Alalah, wir sind erschienen, Tante Ellen“.
Als sie aber bemerkt, dass Fred etwas hinter ihr zurückgeblieben ist, wendet sie sich um, packt ihn am Handgelenk und zieht ihn vor, so wie die Schauspieler auf der Bühne den Autor zur Verbeugung an die Rampe zerren.
Wie gesagt, Doktor Fred Meirowitz ist ein hübscher, schlanker, auf Taille gearbeiteter Bursche, und man sieht ihm an, dass er eigentlich ganz gut befähigt ist. Und wenn er das auch nicht sein sollte, er wird aus vielen Gründen schon als Arzt sein Glück machen. Die Patientinnen in dem Sanatorium, in dem er, weil sein zukünftiger Schwiegervater da mit Geld an der Sache interessiert ist, nunmehr zweiter Assistent ist, sollen sehr eingenommen von ihm sein; was so die Psychoanalyse Fixierung an den Arzt nennt. Da er aber ein leichtsinniger Hund dabei ist (vielleicht gar kein schlechter Kerl, aber eine Jeuratte), und da er früh gelernt hat, von Frauen Vorteile zu haben — weiss der Teufel, wie er so früh in eine gute Gesellschaft hineinkam, in die er eigentlich nicht hineingehörte! — so ist ihm bislang eben noch nicht viel Zeit geblieben, seine ärztlichen Kenntnisse auszubauen.
Aber hat keinen Grund, diesen negativen Seiten seines Wesens böse zu sein. Denn ihnen dankt er alles, was er bisher in seinen acht- oder neunundzwanzig Jahren erreicht hat ... einschliesslich dieser Verlobung, die ihn, so sie wirklich zu einer Heirat führt (was ja heute nie so sicher), in eine Sphäre absoluter Lebenssicherheit führen wird, der er je anzugehören, nicht einmal zu träumen gewagt hat. Jedenfalls vermeidet er es daraufhin schon seit Jahren, an seine Herkunft sich zu erinnern. Also ... und wenn er wie ein Kuli geschuftet hätte, und begabt wie ein Virchow gewesen wäre, mehr hätte er auch nicht erreicht — aber weniger.
Aber während sich Fred noch verbeugt und noch verlegen — er weiss, das steht ihm — „Guten Abend, gnädiges Fräulein“ sagt, ruft schon Ruth: „Nun, wie gefällt er dir, Tante!?“
„Das werde ich dir nachher unter vier Augen sagen,“ meint Ellen.
Aber Ruth hat gar nicht hingehört. Für sie war es nur eine rhetorische Frage. „Herrgott, meinst du Fred, dass man den Wagen einfach unten so stehen lassen kann?“
„Warum nicht, Liebchen,“ sagt Fred und schwingt triumphierend ein kleines silbriges Etwas, das er aus der Westentasche praktizierte. „Den schleppt keiner ab. Und wegfahren kann keiner damit, hier ist der Schlüssel.“
„Meinst du wirklich?“ Aber dann ist Ruth schon wieder bei einem anderen Thema. „Und was sagst du zum Familienmuseum derer von Stein? Das muss alles für die Urenkel so aufgehoben werden: jede alte Tranfunzel. Nicht wahr, Tante Ellen?“
Ellen spürt, dass Ruth Betrieb machen will, und sich damit gleichsam als Deckung vor ihren Bräutigam stellen will. Aber sie hat keine Lust, diesen Ton aufzunehmen. „Jedenfalls sehr nett von euch, dass ihr mir den Abend reserviert habt,“ sagt sie, ganz Förmlichkeit.
Fred ist immer noch verlegen. „Ganz reizend,“ sagt er, „wie bei meinen Grosseltern, sehr gemütlich, Mausi.“ Aber das mit den Grosseltern in Minsk stimmt nur, was die Kerzen anbetrifft.
Doch schon hat sich Ruth umgedreht und stellt sich in Boxerpositur vor ihn. Sie sieht reizend aus dabei.
„Hör mal, mein Süüüsser,“ sagt sie langsam und jedes Wort betonend, „ich will nur dein Bestes; aber wenn du noch einmal ‚Mausi‘ zu mir sagst, so lande ... so lande ich, ohne ein Wort weiter verlauten zu lassen, bei dir einen Magenstoss, wie neulich Fränzchen Diener bei Hänschen Breitensträter.“
Ellen Stein ist irgendwie schon überwunden (warum habe ich nur dieses Mädel so gern, denkt sie). „Liebe Ruth,“ sagt sie, und sie fühlt dass in ihren Augen in diesem Augenblick viel mehr Wärme liegt, wie in denen jenes da, der nur überlegen und amüsiert ist. „Liebe Ruth, solche Behandlung ist ohne Zweifel verfrüht. Was bleibt denn dann für später?“ (Wie die Schultern nur aus dem Georgette Kleid kommen, gleich zwei umgedrehten Alabasterschalen!) „Ich hab dich heute doch schon mal gesehen,“ meint Ellen Stein, als ob sie sich überlegte, wo.
„Mich?“ sagt Ruth. (Soll sie ein böses Gewissen haben oder nicht?!)
„Ich glaube, du standest im K. D. W. im Schaufenster.“
Ruth erfasst sofort — sie hat wirklich keine lange Leitung — und imitiert mit unmöglich gespreizten Fingern und dem Lächeln falscher Vornehmheit, mit S-förmigen, vertrackten Bewegungen die blöde Geziertheit einer Kostümpuppe; denn sie hat sich bei alledem gerne selbst zum Besten. „Ja, damit verdien ich mir so meine kleinen Nebenausgaben, Tante,“ sagt sie, ohne die Lippen zu regen.
Ellen aber knipst ihr Lorgnon auf und betrachtet sie ironisch von allen Seiten. „Gott, bist du aber auf einmal vornehm geworden!“ sagt sie, „Alles schon auf die Verlobung hin? Oder stammt das von meiner eleganten Schwester?“
„Das? Das ist doch mindestens fünf Jahre alt, das kleine Abendkleidchen!“ Ruth verlangt gar nicht, dass es Tante Ellen glaubt, aber sie ist soweit doch schon Dame, dass sie weiss: man gibt nicht zu, dass etwas neu ist.
„Und hat Euch“ — dieses „Euch“, fühlt Ellen Stein, ist die erste Anerkennung unabänderlicher Tatsache. — „Euch denn Mama wirklich ihren Benz für heute abend gegeben?“
„Mama? Pah ... wer spricht denn hier überhaupt von Mama? Wir beide haben uns selbständig gemacht. Nicht wahr, Fred?! Klein aber mein. Ich habe Papa überrascht damit, dass ich chauffieren gelernt habe, und da konnte er nun nicht anders mehr. Ach ... und Mamas Wagen taugt auch nichts, Tante. Ein heute längst überholtes Modell. Ich jedenfalls würde lieber“ — Ruth liebt etwas vage und anstössige Vergleiche „lieber nackt unter den Linden mittags um zwölfe im offenen Schlitten spazieren fahren, als mich, wie sie, in solch einen altmodischen Kasten setzen und nach dem Golfplatz rausgondeln. Wie Mama das immer noch wagen kann, begreife ich nicht, gerade, als ob sie es nicht sieht, wie die Leute sich darüber lustig machen“. Lange aber ist Ruth nicht gewohnt, bei einem Gesprächsstoff zu verharren. „Aber wie geht es dir, Tante Ellen? Warum hast du dir eigentlich immer noch nicht die Haare bobben lassen? Würde dich viel jünger machen. Mein Friseur macht das tadellos. Du wartest wohl damit, bis es wieder unmodern wird. In Paris fangen sie schon mit an. Wirklich, Tante, was macht die Gesundheit?“ Der Ton bekommt ein Rot, ihr Snobismus ist plötzlich von Gefühl unterblutet.
„Danke, sie schläft,“ sagt jene.
„Und der Schlaf, Tante?“ Fred horcht auf: sein Fach.
Jene wehrt ab. „Danke, er ist sehr munter,“ sagt sie beiläufig.
Ruth hat plötzlich ihre Tante zärtlich umfasst. „Liesse sich das nicht beides nach dem System der amerikanischen Austauschprofessoren regeln?“ sagt sie und streichelt ihr mit dem Handrücken die Wange.
Ellen Stein lacht. „Dazu ist es noch nicht lange genug her, dass der Frieden wieder ausgebrochen ist.“
„Und wie geht es sonst der Tante Ellen, nach Abzug der unumgänglichen Debetposten?“
Die kleine Ruth ist doch eine vollendete Schauspielerin, denkt Ellen Stein, nun hat sie uns wirklich über die erste peinliche Minute hinweggebracht. Eigentlich ist er doch ganz passabel, da sieht man wieder, was die Leute reden. „Weisst du, kleine Ruth, mir geht es,“ sagt sie, während sie langsam mit einer sehr freundlichen Geste zum Teetisch hinüberweist, dem sie selbst sehr langsam sich nähert — „mir geht es ungefähr so ... wie Sales y Gomez.
„Pass auf, Fred“ — jetzt ist es doch schon viel wärmer im Zimmer, Gott sei Dank, denkt Ruth. „Pass Achtung, das ist sicher wieder solch ein Vorfahre von uns. Tante Ellen hat sie alle auswendig gelernt.“
Jetzt lacht Ellen Stein sogar. „Sie werden das eher kennen, Herr Doktor.“ Und nun, das stellt Ruth mit Genugtuung fest, wendet Tante Ellen sich das erstemal an ihren Fred. „Nicht wahr, wir haben schon nichts gelernt; aber diese Kinder von heute, das absolute Nichts. Einfach ein schwarzes, grosses Loch da, wo früher die Bildung sass. Sales y Gomez raget bekanntlich als Insel aus den Fluten, und ist ausserdem ein langes Gedicht von Chamisso. Und auf dieser Insel sitzt ein Schiffbrüchiger seit endlosen Jahren. Jeden Morgen sieht er die Sonne im Meer aufgehen und jeden Abend ins Meer versinken.“
Ruth hat die ganze Zeit blöde und schielend, als Idiotin, der Tante Ellen auf den Mund geguckt. „Ach Tante,“ meint sie talig, „und nie umgekehrt? Das muss dem armen Mann aber furchtbar langweilig mit der Zeit geworden sein.“
Aber Ellen Stein ist seit Jahren gewöhnt, so etwas bei Ruth zu überhören. „Ja, und sagt sich,“ fährt sie im gleichen Ton fort, „sagt sich, Herr Doktor, jeden Tag: ich bin noch ohne Hoffnung, bald zu sterben.“
Fred hat doch aus diesen halb lustig gesagten Worten den Ton herausgehört, auf den er in seinem Sanatorium achten würde. Aber er ist ja hier als Privatmann. „Siehst du, Ruth,“ sagt er über Tante Ellen fort, „das wäre zum Beispiel auch ein Fall für die Psychoanalyse.“ Aber schon wieder ist Ruth bei ihm und hält ihm die Faust unter die Nase.
„Hör mal, mein Süüüsser,“ ruft sie, „dass du dich nicht etwa unterstehst, Tante Ellen sexuell aufzuklären. Sie ist der Stolz unserer ganzen Familie.“
Fred steht diesem Ton ziemlich fassungslos gegenüber. Er ist noch zu jung in diesem Kreise, er kann noch nicht recht hierbei mit; aber Tante Ellen ist ihn gewöhnt. Sie und Ruth verkehren nie anders. „Du Kiekindiewelt,“ sagt sie und schiebt sie wie mit einer geistigen Handbewegung von sich fort, „und so etwas beabsichtigt man nun schon auf das Leben loszulassen. Ja,“ fährt sie fort und denkt: für wen sage ich das eigentlich?! „Ja, oder ich könnte auch hier“ — und es bleibt unbestimmt, ob sie nur die Environs oder sich und alles, was zu ihr gehört, dabei meint — „genau so gut sagen: ich bin hier der Kapitän eines untergehenden Schiffes.“
Aber Ruth — sie ist wie ein guter Sekundant bei der ersten Mensur, der jede Terz des Gegners für seinen Paukanten herausfängt — Ruth springt sofort mit der Antwort für Fred ein. „Weisst du, Tante,“ sagt sie leichthin, „wenn du nicht Johanna als ersten Steuermann zum Staubwischen hättest, wäre das Schiff schon längst untergegangen,“ und dann sieht sie sich mit einem sehr drolligen Blick nach allen Richtungen um. „Ich möchte es jedenfalls hier nicht tun.“
Ellen Stein lacht, und es zuckt ihr in den Fingern, Ruth die Wangen zu streicheln. Aber sie ist nun einmal seit langem zur Unzärtlichkeit verdammt. „Um dich ist es wirklich schade, Mädchen,“ sagt sie, und das ist der Schluss einer langen Gedankenkette, die unausgesprochen bleibt und dem Sinne nach lautet: Du hättest meine Tochter sein müssen. „Schade: welch edler Geist ist hier zerstört! Finden Sie es nicht auch manchmal, Herr Doktor?“
Fred will etwas besonders Feines sagen, aber Ruth weiss genau, dass ihm das nur selten gelingt. Er ist nicht ganz witzlos, hat Einfälle, aber in der Replik liegen nicht seine Meriten. „Geist kann ja zum Schluss jeder haben,“ beginnt er, aber seine Sekundantin hat schon seine Klinge aus der Partie geschlagen. „Hör mal, Tante,“ meint sie (jetzt ist doch die Luft dazu genug vorgewärmt), „du könntest zu Fred ruhig „du“ sagen. Ich tue es schon seit drei Monaten, trotzdem ich erst seit vierzehn Tagen heimlich mit ihm verlobt bin, und erst seit drei Tagen öffentlich.“ — Sie klemmt wieder das Monokel, das im Eifer der Schlacht herausgerutscht ist, ins Auge und verbeugt sich, grimassierend und lächelnd, nach allen Seiten. „Am zwooten zu Hause! Tütü, tata, tütaaa!“ — Aber Ruth hat doch die Atmosphäre im Zimmer stark überschätzt.
„Ach, wissen Sie, Herr Doktor, in unserer Familie sind wir nicht so schnell damit bei der Hand. Wir Holländer, heisst es, gehen nicht über das Eis eines Tages.“ Ellen Stein sagt das so nebenhin, während sie Fred einen Platz anweist, sich selbst in die Mitte setzt und mit einiger Spannung abwartet, wann es Ruth beliebt, zu kommen. Johanna hat ein silbernes Tablett mit einem alten silbernen englischen Teeservice, das Fred für ganz modern hält, hereingebracht und will sich noch etwas zu schaffen machen, denn sie möchte gern hören, was gesprochen wird, aber Ellen winkt ihr, zu verschwinden, und da trottet sie ab und entgleitet wieder durch die Tapetentür.
Ruth kommt, nachdem sie noch ein bisschen wie eine Katze neugierig und leise schnurrend im Zimmer herumgeschlendert ist — denn auch sie hat dieses Zimmer gern, würde es aber nie eingestehen —, zu ihrem Platz. „Fred, mein Junge,“ sagt sie, während sie alles unauffällig mustert, was der Tisch bietet, denn sie knabbert ja gern raffinierte Dinge, Süsses oder Salziges, wenn es nur etwas Besonderes ist. „Fred, mein Junge, schaff dir schnell einen Grossvater in Timbuktu an, du glaubst gar nicht, wie vornehm solch ein einziger Grossvater aus Holland eine ganze Berliner Familie sogar aus der Rauchstrasse machen kann. Und wenn es nun erst sogar zwei Grossväter sind!“
„Ruth, du entwickelst dich,“ ruft Ellen Stein. (Und so etwas wird nun einfach an den ersten besten, der sicher nicht der beste ist, verschleudert!) „Ich dachte bisher immer, du wärst nur eine solche Art von Gratiszugabe, die von dreihunderttausend aufwärts frei Haus mitgeliefert wird. Oder sollte ich mich da getäuscht haben? Nun aber setz dich mal, vielleicht gefällt dir das, was unter der Serviette ist, noch besser wie das, was auf dem Tisch ist. Man kann nie wissen.“
Ruth hebt sehr vorsichtig mit spitzen Fingern (es kann ja etwas Zerbrechliches sein, eine Flasche Cheramy zum Beispiel) die Serviette an einem ihrer Schwanenflügel hoch und sieht, zusammengerollt wie eine Schlange und glitzernd wie eine ganz giftige, ein altmodisches Kettenarmband, in dessen Gold Aquamarine wie zart violette Reiskörner die Zickzacklinien eines schillernden Rückenstreifs bilden. „O Gott, Tante Ellen,“ sagt sie und wird ganz unzeitgemäss rot, „das ist ja aus Grossmutters Brautschmuck. Wirklich, ich würde dir einen Kuss geben, wenn du für so etwas wärst. Gerade solche breiten Kettenarmbänder sind heute wieder das Letzte. Das kann man ruhig tragen. Weisst du, Fred, das zu meinem Mosaikmoirée, dem roten, mit den Goldsträhnen, als ob es eigens von Lettré dafür gearbeitet wäre ... Aber zu dem Kleidchen kann man es auch ganz gut nehmen.“
Sie hat es schon umgenestelt und schwenkt mit weiten Bewegungen, als stände sie auf dem Tennisplatz, ihren schlanken, langen, sehr wohlgeformten Arm hin und her über dem Tisch, so dass der schimmernde Streif der Aquamarine durch das warme Licht dieser sechs dicken Kerzen in den beiden Girandolen ständig anders und neu aufblitzt. „Gerade als ob es für mich gemacht wäre,“ ruft sie einmal über das andere. Ihr Profil ist dabei von den Wachslichtern angestrahlt, und ihr nussfarbenes, sehr blankes und gleichmässiges Haar, das in drei Wellen nach den Schläfen und zum schlanken und festen Hals, dessen Elfenbein Puder entweihen würde, sich legt, hat einen Rembrandtschimmer von Altgold in dieser Beleuchtung, von dem man nicht weiss, ob er von dem Licht nur kommt oder aus dem Dunkelbraun des Haares oszilliert ... ein Ton, der Ellen Stein entzückt: Gott, sind diese Mädchen heute schön, so schön waren wir doch nie. Und solch ein Mensch nimmt das als Selbstverständlichkeit hin. Aber dann sagt sie laut: „Nun siehst du, Ruth, solch ein holländischer Grossvater kann doch zu etwas gut sein!“ Und auch das hat einen, wenn auch nicht leicht erkennbaren Zusammenhang mit diesen ihren Gedanken.
Aber Ruth springt noch einmal auf und läuft zum Telephontisch vor dem Sofa. „Du, Tante, nimm’s mir nicht übel, ich muss noch schnell mal ins Abendblatt sehen, wer im Stockholmer Hallenturnier führt. Schweden holt mächtig auf,“ setzt sie hinzu und hält sogar das Beste, was sie vom Tisch erwischen konnte, vor Staunen und Schrecken darüber auf halbem Wege zu ihren etwas überroten Lippen an. „Deutschland macht gar nichts. Aber wenn dieser böse Kerl da nicht gekommen wäre, wäre ich jetzt auch dabei und könnte es vielleicht ’rausreissen.“ Sie lässt die Augen immer weiter über die gefaltete Zeitung huschen. „Glanzstoffe steigen wieder,“ sagt sie beruhigt. „Papa hat sie natürlich verkaufen wollen. Und was ist Neues im Theater los? Luci hat eine miserable Presse. Ich hab’s ihr aber gleich prophezeit.“
„Wollt ihr Donnerstag mit zu Richard III. kommen? Ihr seid hiermit feierlichst eingeladen. Das muss eine fabelhafte Besetzung werden.“
Ruth, die wieder zurückgekehrt ist, sieht ihrer Tante sehr erwartungsvoll nach dem Mund, beugt sich vor und lächelt sie freundlich an, so ungefähr wie man ein Kind anlächelt über den süssen Unsinn, den es in die Welt schwatzt. „Fred, ist sie nicht entzückend naiv, meine süsse Tante Ellen? Meine Lausanner Pensionsmutter war ein Abgrund von Verderbtheit gegen sie. Ich will doch nicht wissen, wenn ich ‚Theater‘ sage, wo man hingehen kann; ich will wissen, wo man nicht hingehen kann, wenn ich ‚Theater‘ sage.“
Aber Ellen Stein ist gar nicht böse. Denn sie kennt es genau, das ist so Ruths Art, zärtlich zu werden. „Aber kleine Ruth, da musst du mich nicht fragen, das weisst du ja viel besser als ich.“
„Und Donnerstag, nein, warte mal, Tante, so geehrt wir uns durch deine unser Niveau überschätzende Einladung fühlen, Donnerstag sind die Schlussrunden beim Sechstagerennen. Kontraktlich dürfen sie ohne mich nicht gefahren werden. Nachher gondeln wir auch noch ein Stündchen hin. Sollen wir dich mitnehmen, Tante? Es gehen gut drei Personen in den Wagen. Und wenn du dich mir nicht anvertrauen willst, hier, der Fred, der chauffeurt noch besser wie solch entgleister Leutnant.“
„Ach nein, kleine Ruth,“ sagt Ellen und bietet dabei Ingwer und Salzmandeln an, „weisst du, solche Dinge, wie Kino und Automarken, und Golfspielen und Grosskampftage — es kann auch anders heissen! — und Sechstagerennen und Radio, das hebe ich mir alles für das nächste Mal auf. Dieses Mal habe ich noch mit anderen Dingen zuviel zu tun.“
„Siehst du, wenn du wenigstens Radio hättest,“ ruft Ruth und chassiert etwas mit den weit vorgestreckten Fussspitzen ihrer silbergrauen Seidenbeine auf der Stelle, lässt sie im Takt umeinanderkreisen und allerhand imaginäre Tanzfiguren beschreiben, „jetzt muss doch gleich London kommen. Da könnten wir sogar ein bisschen tanzen, Fred. Glaube nur nicht, dass er das nicht kann, Tante. Wenn der nur solch ein bedeutender Arzt wäre, wie er Charlestontänzer ist, wäre mein Junge schon längst Professor.“
„Ich denke, Charleston ist gar nicht mehr modern?“ meint Ellen. Und jetzt sieht sie Ruth ähnlich harmlos nach den Lippen, und in diesem Augenblick fällt es dem Doktor Meirowitz auf, dass sie, diese ältliche und seelisch abgenutzte und herbe Frauensperson, die mit aller Anstrengung und vielem Training der Willenskraft ihre Energien zusammenhält, doch immer noch diesem wunderschönen Mädchen da, das er nun seine Braut nennt, sehr ähnlich sieht, ja vielleicht einmal genau so aussah, wie sie ... wenn man eben die Verschiedenheit in Abzug bringt, die im Wechsel der Generationen bedingt ist. Diese Tatsache beglückt ihn nicht sehr. Auch kränkt es ihn etwas, dass diese beiden Frauen, die geistig sehr aufeinander eingespielt sind, ihn doch scheinbar nicht so ernst nehmen, wie er gern genommen sein möchte.
„Du bringst ja deiner Tante einen netten Begriff von mir bei,“ sagte er unmutig.
„Bist de beese?“ zwitschert Ruth.
Ellen Stein fühlt, dass es Zeit ist, etwas vom Familienton loszukommen: „Und was machen Sie jetzt, Herr Doktor? Wollen Sie sich niederlassen?“
Fred sieht, dass nun sein grosser Augenblick gekommen ist. „Oh, ich bin im Fichtenwaldsanatorium seit einiger Zeit,“ sagt er mit liebenswürdig bescheidener Geste.
„Ach ... in dem!“ meint Ellen Stein, ebenso liebenswürdigverständnisvoll, und nur Ruth merkt, dass ihr das in Anbetracht der Antezedenzien sehr wenig imponiert.
„Ich muss dann sogar noch mal anrufen, wenn Sie gestatten,“ fährt Fred, seine berufliche Unersetzbarkeit unterstreichend, fort: „Eigentlich nämlich habe ich heute du jour. Aber es wird nichts sein. Und deswegen ... und die Oberschwester ist auch ausgezeichnet.