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Nacht vom Dienstag, 31. Mai,
auf Mittwoch, 1. Juni 2005
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Die anderen waren um die Ecke in ihr Stammlokal, die Gastwirtschaft Hermann, vorausgegangen. Orsini hatte nur noch kurz etwas ausprobieren wollen, dabei aber die Zeit übersehen. Es musste weit nach Mitternacht sein. Ob sie überhaupt noch auf ihn warteten? Er streckte die Arme in die Höhe und schüttelte die Hände locker aus. Von irgendwoher meinte er, ein tiefes, rollendes Geräusch zu hören. Er dämpfte die Saiten seiner Gitarre ab und hielt still. Nichts. Nur das Brummen der Lautsprecher. In einem Anflug von Müdigkeit stellte er den linken Fuß auf den Verstärker. So konnte er die Gitarre besser abstützen. Die Ärmel seines Hemds waren hochgeschoben, sein Blick blieb für einen Moment auf seiner Lederjacke hängen, die er über den Schlagzeughocker geworfen hatte. Wann war er das letzte Mal so lange im Proberaum gewesen? Früher hatte er mehrmals die Woche dafür Zeit gehabt. Aber immerhin hatte er es heute geschafft, sich vorher umzuziehen ..., und es war überhaupt ein ziemliches Glück, dass sie hier in diesem Keller auch in der Nacht so laut und so lange proben konnten, wie sie wollten.
Ich arbeite zu viel, dachte er, fuhr sich über die Bartstoppeln, zog mit einer selbstverständlichen Handbewegung das Mikro näher und schloss die Augen.
They left them soul shadows on my mind, on my mind ... Er liebte diesen Soul-Klassiker und wollte ihn beim nächsten Konzert unbedingt spielen. Bei der Probe vorhin hatte ihn aber irgendetwas gestört ... Die Stimme Bill Withers als Gastsänger bei den Crusaders hatte er gut im Ohr, daran lag es nicht, vielleicht an den Akkorden?
... Soul shadows on my mind, on my mind, on my mind ... Er zupfte mit dem Plektron die einzelnen Saiten seiner Les Paul und tüftelte an den Begleitriffs, als ihm plötzlich ein anderer Klang dazwischenfuhr. Orsini seufzte. Cantaloupe Island. Sein neuer Klingelton. Nachdem sie sich jahrelang über seinen nervenden Nullachtfünfzehn-Klingelton lustig gemacht hatten, hatten sich seine Bandkollegen heute Abend erbarmt und ihm den Anfang des Jazzstandards von Herbie Hancock auf sein brandneues Handy gespielt. Nicht dass er dazu selbst nicht fähig gewesen wäre, aber die Tipperei machte ihn eben nervös. Der neue Ton konnte allerdings auch nichts daran ändern, dass jemand etwas von ihm wollte, wo er sich doch nichts sehnlicher wünschte, als in Ruhe gelassen zu werden. Entweder seine Kollegen hatten keine Lust mehr, auf ihn zu warten, oder – er stoppte Herbie und seine Truppe mitten im Takt und sah aufs Display – Arbeit ...
„Orsini“, murrte er, „muss das sein?“
„Boxring oder Keller?“, entgegnete Wilasich.
„Keller.“
„Tut mir leid, aber wir haben eine tote Frau am Beethovenplatz“, erklärte ihm Wilasich. Im Hintergrund war ein Folgetonhorn zu hören.
„Du bist schon vor Ort?“
„Seit ein paar Minuten. Soll ich dir einen Wagen schicken?“
„Nicht nötig. Nehm mir ein Taxi. Was hast du bis jetzt?“
„Möglicherweise Selbstmord.“
„Selbstmord“, wiederholte Orsini nachdenklich.
„Ja, mit einer Glasscherbe.“
Augenblicklich war Orsini hellwach. „Bin sofort da, sie sollen ja nichts anrühren!“ Er legte auf, schnappte seine Jacke, drehte den Verstärker ab und wählte den Taxiruf.
„Fünf Minuten?“, fragte er ärgerlich. „Geht das nicht schneller? Es ist dringend!“
„Ich sag dem Kollegen, er soll sich beeilen, dringend ist es sowieso immer“, erwiderte die Dame am Telefon gelangweilt und legte auf.
Orsini blickte auf seine Uhr. Kurz nach eins. Er hetzte die engen Stufen hinauf ins Freie, sperrte die schwere Eisentür ab und sah hoch. Es tobte ein Gewitter. Rasch zog er den Kopf ein, stellte den Kragen seiner Jacke auf und suchte unter einem der Bäume Schutz. Neben ihm prasselte der Regen herab. Ein Blitz erhellte die Straße. Ungeduldig trat er von einem Fuß auf den anderen, bis das Taxi endlich um die Ecke bog.
„Zum Intercont“, sagte er und stieg ein.
„Jawoll, der Herr“, erwiderte der korpulente Taxifahrer, griff mit seiner pelzig behaarten Hand nach einer Wurstsemmel, die er zwischen den beiden Vordersitzen platziert hatte, und biss ab. Dann legte er gemächlich den Gang ein, fuhr los und deutete mit dem Kopf nach oben.
„A Wahnsinn!“
„Wie bitte?“
„Na, der Regn!“ Vorschriftsmäßig bremste er an der nächsten Kreuzung, lenkte mit einer Hand das Auto um die Ecke und stopfte sich mit der anderen die restliche Semmel in den Mund.
„Können Sie schneller fahren? Es ist wirklich dringend!“
„Hammas gnädig? Um de Zeit?“ Der Taxifahrer holte im Fahren aus dem Seitenfach eine Dose Cola und klemmte sie sich zwischen die Beine, um sie zu öffnen. „Wartet vielleicht eine Dame?“
„Genau genommen ja“, erwiderte Orsini und starrte entgeistert auf das Hinterhaupt des Fahrers, das nur mehr einige wenige fettige Haare beherbergte. „Es ist grün, geben Sie endlich Gas!“, fauchte er den Taxifahrer dermaßen scharf an, dass der das Cola verschüttete.
„Na, na ... Wir wern doch net glei so auszuckn“, entgegnete der Taxifahrer und stieg demonstrativ aufs Gaspedal, dass es Orsini in den Sitz presste. Während sie durch die Stadt jagten, starrte er unruhig auf die regennasse Fahrbahn. Eine Glasscherbe ... Es konnte immer noch ein Zufall sein, versuchte er sich einzureden. Denn seit dem Gespräch mit Pokorny am Karlsplatz hatte er sich zwar die Mappe durchgelesen, zu mehr aber keine Zeit gehabt. Und wenn er ehrlich war, hatte er dazu auch keine Veranlassung gesehen. Auf eine bloße Vermutung hin zu ermitteln, war derzeit zu viel verlangt. Pokorny hatte ihn schließlich nicht einmal darum ersucht, dennoch hatte er nachträglich ein schlechtes Gewissen.
Drei Minuten später bog das Taxi mit quietschenden Reifen von der Gumpendorfer Straße in die ehemalige 2er-Linie, wie sie immer noch genannt wurde, obwohl längst keine Straßenbahn mehr auf ihr fuhr, und raste quer über den Karlsplatz in die Lothringerstraße.
„Stopp!“, rief Orsini.
Der Taxilenker bremste scharf ab. Der Beethovenplatz lag schräg vor ihnen. „Was ist denn da los?“, fragte er angesichts der hell erleuchteten Szenerie, erhielt aber keine Antwort, denn Orsini hatte das Geld einfach auf den Sitz geworfen und war bereits grußlos ausgestiegen.
*
Er schrie auf, ließ die Platte zu Boden sausen und hielt den Finger mit der anderen Hand fest. Ein langer Holzspan steckte darin. Rasch biss er die Zähne zusammen und entfernte das elende Ding. Mit einer schnellen Zungenbewegung schleckte er den Blutstropfen ab und hob die abgenutzte Platte wieder hoch.
Das Timing war perfekt gewesen. Es hatte alles so funktioniert, wie er es sich ausgemalt hatte. Besser noch. Der Sturm und das Gewitter waren wie ein Wink von oben zur rechten Zeit gekommen. Fast wie vorherbestimmt. Das Blut pumpte noch immer durch seine Adern, es schoss durch die Gefäße und dröhnte in seinen Ohren wie ein Sturzbach. Oder war es das Rauschen des Regenwassers, das die Straßen überschwemmte und in die Gullys strömte? Er sah noch ihre grellrot geschminkten Lippen vor sich, ihren vollen Busen unter dem tiefen Dekolleté. Sie hatte es eindeutig verdient. Wie konnte man nur so unsensibel sein? Das Gefühl des Triumphes erfüllte ihn von Neuem, ergoss sich regelrecht über ihn wie eine prickelnde Dusche. Er schob sich das nasse Haar aus der Stirn und sah auf die Uhr: Es war höchste Zeit zu verschwinden.
*
Wilasich trat mit geöffnetem Schirm auf Orsini zu. Im weißen Ganzkörperanzug wirkte er wie ein surrealer Tanzbär, einem Jahrmarkt in einem mittelalterlich-futuristischen Film entsprungen. Abgesehen davon sah er müde aus. Schlapp rieb er sich die Augen, drehte den Schirm zur Seite und sah nach oben. Gerade noch hatte es wie aus Bächen geschüttet, nun aber tröpfelte es nur mehr. Das Gewitter war nach Osten abgezogen und hatte ein kleines Chaos hinterlassen. Blätter, Zweige und Unrat lagen über Wiese und Wege verstreut, als wär’s eine Müllhalde. Allerdings war die Luft sauber wie selten. Es roch nach warmer, feuchter Erde und blühenden Sträuchern. Nur nach und nach würden sich die üblichen Großstadtdüfte wieder einschleichen.
„Was wissen wir bis jetzt?“
„Nicht sehr viel“, antwortete Wilasich und deutete auf einen der Funkwagen. „Die junge Frau drüben im Wagen hat die Tote gefunden und dann Alarm geschlagen. Sie war am Heumarkt bei einer sogenannten Beachparty. Als es zu regnen begonnen hat, ist sie, wie die meisten anderen auch, zu einer der Hütten gelaufen, um dort Schutz zu suchen.“
„Was für Hütten?“
„Holzhütten wie am Weihnachtsmarkt, nur dass statt Punsch Cuba Libre verkauft wird.“
„Karibik am Heumarkt?“
„So ähnlich, sie haben sogar Sand aufgeschüttet fürs richtige Beachfeeling. Scheint in zu sein.“
„Super Geschäftsidee.“
„Jedenfalls, als es nicht aufgehört hat zu regnen, wollte sie zu ihrem Auto und hat die Frau gefunden.“
Orsini nickte. Langsam gingen sie auf die Fundstelle zu. Die gesamte Szenerie hatte etwas Unwirkliches. Vor ihnen thronte Ludwig van Beethoven auf seinem Sockel, zu seinen Füßen tanzten Engel. Dahinter erstrahlte der Platz in grellem Licht, das die Umgebung samt den Kollegen von der Spurensicherung in seltsame Schatten tauchte.
„Weiß Pokorny davon?“, fragte Orsini beiläufig.
„Pokorny?“, fragte Wilasich und sah ihn an. „Nein, der ist doch auf dem Seminar.“
„Hab ich vergessen.“ Orsini schüttelte den Kopf und ließ seinen Blick über das Denkmal wandern. Wie viele steinerne Engel es in der ganzen Stadt wohl gab? Als Schutzengel machten sie hier jedenfalls keine gute Figur.
Schräg hinter dem Monument stand ein Plastikzelt, das sich in Nichts von den Partyzelten, die es in jedem Baumarkt zu kaufen gab, unterschied. Ob es in diesem Fall rechtzeitig aufgestellt worden war, um ihnen noch Informationen zu liefern? Beamte in Uniform sicherten die Stelle vor allzu neugierigen Blicken ab, denn trotz der späten Stunde hatte sich bereits eine kleinere Ansammlung an Schaulustigen gebildet. In Orsini stieg ein saurer Geschmack aus dem Magen hoch. Manche brauchten offensichtlich einen Extrakick als optimalen Abschluss eines feuchten Abends.
„Was hat die Zeugin im Gebüsch gesucht?“
„Musste sich übergeben“, erklärte Wilasich. „Sie hat einen über den Durst getrunken.“
„Jetzt ist sie aber vermutlich nüchtern.“
„Mehr als das. Elvira spricht grade mit ihr und versucht sie zu beruhigen.“
„Die Identität der Toten?“
„Dorothea Hausner, steht zumindest auf ihrer Bankomatkarte. Wir überprüfen das grade. Hab die Karte in ihrer Geldbörse gefunden, in der Handtasche.“ Wila sah ihm entschuldigend ins Gesicht. Er wusste um Orsinis beinahe pedantische Einstellung zu Tatorten. Solange man nichts verändert hatte, konnte man, wenn man schnell genug war, manchmal etwas einfangen, was über die reine Atmosphäre eines Ortes hinausging. Als gäbe es einen Abdruck des Täters im Jetzt, der aus der Vergangenheit herüberreichte.
„Ich hab so wenig wie möglich angerührt, aber ich dachte, die Identität sei vorrangig.“
Orsini nickte beschwichtigend.
„Vergewaltigung?“
Wilasich schüttelte den Kopf. „Zumindest so weit wir das bis jetzt beurteilen können.“
„Was gestohlen?“
„Auch eher nicht. Die Handtasche lag geschlossen neben ihr, das Geld ist auch noch da.“
„Fußspuren, Schleifspuren?“
„Ein eindeutiger Schuhabdruck von der Zeugin. Aber sonst bezweifle ich, dass wir was Brauchbares haben. Es hat doch über eine Stunde stark geregnet ...“
„Ist abgesehen von der Geldbörse was verändert worden?“
„Nur von oben“, antwortete Wilasich und deutete mit der Hand in den Himmel. „Der Notarzt hat keine Wiederbelebungsversuche unternommen. Dazu war es zu eindeutig. Und auch die Beamten von der Streife schwören, dass sie ...“
„... nichts angerührt haben. Ist schon okay“, murmelte Orsini, zog sich Plastiküberschuhe und Handschuhe an und trat näher. Die Tote lag inmitten eines hüfthohen Gebüsches. Absperrbänder hielten die Zweige auseinander. Gerade als er sich zu ihr hinunterbeugen wollte, legte sich eine Hand auf seine Schulter.
„Schönes Wetter für einen Selbstmord“, sagte eine Stimme hinter ihm.
„Selbstmord?“ Orsini drehte sich um.
„Aufgeschnittene Pulsader. Was soll das sonst sein?“, erwiderte Gottschlich verächtlich.
Orsini sah ihm ins Gesicht und wandte sich dann kommentarlos der Toten zu. Sie trug ein ärmelloses, dunkles Kleid und Schuhe mit hohen Absätzen und wirkte eher elegant. Zugleich hatte sie etwas Zähes an sich. Sie musste trainiert haben, ging es ihm durch den Kopf. Die Schminke in ihrem Gesicht war verlaufen. Der Regen hatte dort kleine dunkle Rinnsale hinterlassen. Einige davon sahen aus wie schwarze Tränen. Orsinis Blick wanderte über den zerschnittenen Arm. Ihre Hände allerdings ... Er stutzte: kurze Fingernägel, Schwielen.
Die Handtasche lag am aufgeweichten Boden neben der Leiche. Orsini öffnete sie vorsichtig. Schminksachen, ein Halstuch, einige andere Gegenstände – kein Ausweis. Wo war sie vor ihrem Tod gewesen? Hatte sie sich einen schönen Abend machen wollen? Eine Verabredung?
„Selbstmord ...“, murmelte er kopfschüttelnd vor sich hin, während sein inneres Auge das Foto der Drogensüchtigen auf die Tote vor ihm projizierte. Das Äußere war gepflegter, sie war zu Lebzeiten wohl kaum am Karlsplatz herumgelungert, aber ... vom Typ her waren durchaus Parallelen vorhanden.
„... hat weder Schirm noch Regenmantel dabeigehabt“, ergänzte Wilasich nun seine Ausführungen.
„Oder jemand hat sie mitgenommen.“
Wilasich zog eine Augenbraue nach oben und nickte Richard Lehner, einem der Tatortleute, zu. Er kniete neben dem Gebüsch, hatte eine Mappe am Schoß und machte darin eifrig Notizen.
„Wenig Blut am Boden“, bemerkte Orsini. Am dunklen Kleid konnte man zwar Blutspritzer ausmachen, ihre Konturen waren aber verwaschen. „Spricht eher dafür, dass sie nicht hier gestorben ist.“
„Ja, allerdings kann der Eindruck durch den Regen verfälscht sein. Wir werden das Erdreich abgraben und untersuchen“, erwiderte Lehner.
Orsini mochte ihn. Lehner hatte eine gewissenhafte, zuverlässige Art und war in seinen Augen bei der Spurensicherung genau am richtigen Platz – im Gegensatz zum Gruppenleiter. „In Ordnung. Wäre wichtig, wenn ihr das bald rausfinden könntet.“
„Machen wir.“ Lehner holte einen länglichen Papiersack aus seinem Koffer und wollte eine der Hände darin einpacken.
„Wart noch einen Moment“, sagte Orsini.
Gottschlich sah ihnen schweigend zu und machte einen tiefen Zug an seiner Zigarette. Orsini vermeinte, den Geruch von Menthol wahrzunehmen, ignorierte ihn und konzentrierte sich wieder auf die Tote. Mit einem Stäbchen hob er die Scherbe vorsichtig an. Der Regen hatte die Reste des eventuell vorhandenen Blutes jedoch großteils weggewaschen. Nur am unteren Rand der Bruchfläche war ein dunkler Strich zu erkennen. Er legte die Scherbe wieder zurück und untersuchte das Handgelenk der Frau.
„Kann ich eine Taschenlampe haben?“, fragte er und fuhr wenig später leise fort: „Ziemlich tiefe Schnitte ...“, während er den Strahl der Lampe auf die Wunde richtete. Trotz der hellen Beleuchtung sah man damit noch genauere Einzelheiten. Durch den Regen waren die Wunden ausgewaschen, es hatte sich kaum eine Kruste gebildet. Als Orsini den restlichen Arm absuchen wollte, fing die Lampe plötzlich zu flackern an.
„Verdammt!“, schoss es zorniger als nötig aus ihm heraus. „Nicht einmal unsere Lampen funktionieren!“
„Gib her“, sagte Wilasich – die Ruhe in Person –, nahm sie, hantierte daran herum und reichte sie ihm wieder.
„Danke“, erwiderte Orsini und leuchtete damit beide Arme ab. Er wünschte, er hätte Wilasich von der Akte mit der Drogensüchtigen erzählt, und verfluchte seine Loyalität Pokorny gegenüber. Mit dem Hintergrund hätte Wilasich die Situation mit anderen Augen betrachtet. Aber neben Gottschlich war dies unmöglich. Er richtete sich auf und wandte sich an Gottschlich: „Selbstmord?“
„Spricht nichts dagegen, oder?“, antwortete Gottschlich beinahe süffisant. Selbst im künstlichen Licht waren die Aknenarben in seinem Gesicht gut zu erkennen. Ein spöttisches Grinsen lag auf den dünnen, farblosen Lippen, als er das „Oder?“ wiederholte.
„Die Frau kommt also extra an diesen Ort, um sich mit einer Glasscherbe die Pulsader aufzuschneiden?“, fragte Orsini. Die Skepsis in seinem Tonfall war kaum zu überhören.
„Wahrscheinlich wohnt sie da.“
„Möglich.“ Orsini drehte langsam an der Lampe, um sich im Zaum zu halten.
„Sicher finden wir einen Abschiedsbrief in ihrer Wohnung.“
„Sie zieht sich also ihr bestes Gewand an ...“
„Genau.“
„Dann geht sie hierher, schneidet sich in aller Ruhe die Pulsader auf und wartet, bis sie stirbt?“
„Genug Zeit war jedenfalls.“
„Du meinst das Unwetter?“, fragte Orsini überfreundlich.
Gottschlich nickte.
„Scheint mir etwas voreilig, deine Einschätzung.“
„Voreilig?“
„Wie hätte sie wissen sollen, dass ausgerechnet heute ein Gewitter ...“
„Habens gestern im Wetterbericht angekündigt ...“ Gottschlich sah Orsini herausfordernd an.
„Nette Annahme“, entgegnete Orsini schärfer. Das Gespräch begann, ihn ernsthaft zu nerven. „Anstatt reine Vermutungen zu verbreiten, solltet ihr vielleicht einfach euren Job machen und die Spuren sichern. Vielleicht würde uns das bei der Feststellung der Todesursache helfen.“
„Die liegt doch auf der Hand.“
„Tatsächlich?“, schoss es aus Orsini heraus.
Gottschlich lehnte sich provokant zurück, nahm dabei einen Zug aus seiner Mentholzigarette und blies elegant einen Rauchring aus. „Na sicher doch!“
Orsini schloss kurz die Augen, ehe er lautstark antwortete: „Am Erdreich ist kein Blut zu sehen. Der Oberarm weist ein Hämatom in der Größe einer Handfläche auf. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Gerichtsmedizin meine Vermutung bestätigen wird.“ Dann wandte er sich ruckartig ab, gab Wilasich ein Zeichen und ging auf den Funkwagen zu, in dem die Zeugin, eingehüllt in eine Decke, immer noch wartete.
„Lass dich von dem doch nicht provozieren“, versuchte Wilasich ihn zu beruhigen, „das freut ihn nur noch mehr, und was er da daherfaselt, glaubt er doch selber nicht!“
„Ich weiß“, erwiderte Orsini, der sich mehr über seinen kurzen Ausraster ärgerte als über Gottschlich, „jedenfalls rührt der von sich aus keinen Finger zu viel!“ Mit erhobener Hand grüßte er Elvira Zobl, die gerade aus dem Wagen kletterte und wie meist frisch und ausgeschlafen wirkte.
„Hat leider nichts Verdächtiges gesehen“, erklärte sie mit Blick auf die Zeugin. „Nachdem sie die Leiche entdeckt hat, ist sie in körperliche Starre verfallen. Die war offenbar so geschockt, dass sie nicht einmal ihr Handy gefunden hat. Dann ist sie allerdings so lange an derselben Stelle stehen geblieben, bis die Kollegen aufgetaucht sind.“
„Haben die das bestätigt?“
„Ja.“
„Gibt’s andere Zeugen?“
„Bis jetzt noch nicht.“
„Was ist mit den Barkeepern in der Karibik?“
„Die Kollegen überprüfen das gerade. Aber so weit ich das bis jetzt beurteilen kann, haben die nichts gesehen. Wahrscheinlich waren alle damit beschäftigt, die Sachen ins Trockene zu bringen.“
„Anrainer?“
„Gibt’s vermutlich nicht allzu viele. Das ist ein Gymnasium ...“ Elvira Zobl zeigte auf das große Backsteingebäude im Hintergrund.
„Das Akademische.“
Zobl deutete mit dem Kopf einen Halbkreis an. „Dann sind da noch ein paar Wohnungen und ziemlich viele Büros.“
„Ist eine exklusive Gegend“, merkte Orsini an. „Die Häuser können wir uns möglicherweise erst tagsüber vornehmen.“ Er sah sich um.
„Zumindest gibt es eine Kamera beim Aufgang aus der Tiefgarage“, sagte Wilasich.
„Okay, stell zwei Leute ab, die die Aufnahmen sichern und die Autonummern notieren“, antwortete Orsini. „Da fährt mir niemand raus, ohne dass wir die Daten haben.“
„Geht klar. Einer ist ohnehin schon bei der Ausfahrt postiert.“
„Sobald die Kollegen aus der Karibik zurückkommen“, sagte Elvira Zobl, „lass ich sie die gesamte Garage durchsuchen.“ Dann sah sie zur Zeugin im Wagen. „Willst du noch mit ihr sprechen?“
Orsini nickte und beugte sich zum Wageninneren. „Orsini, leitender Ermittler“, stellte er sich vor, „hören Sie, ich kann mir denken, wie Sie sich jetzt fühlen, ich bitte Sie, mir aber trotzdem einige Fragen zu beantworten. Es reicht, wenn Sie mit Ja und Nein antworten.“
Die junge Frau zog die Decke enger um die Schultern und sah ihn mit glasigen Augen an. Dabei zitterten ihre Hände so stark, dass ihr die Decke beinahe entglitt. Während er sich zu ihr setzte, krächzte sie kaum hörbar: „Okay.“
„Sie waren da drüben“, begann Orsini, obwohl er das schon wusste, „bei einer Party.“
„Ja.“
„Dann wollten Sie zu Ihrem Auto und mussten ...“
Die Zeugin nickte.
„Und haben dabei die Tote liegen gesehen. Haben Sie irgendetwas an der Lei..., der Frau verändert?“
Kopfschütteln.
„Sind Sie sicher? Wissen Sie, es ist schon öfters vorgekommen, dass im Nachhinein ...“
„Nein“, erwiderte sie leise, aber bestimmt, „ich habe nichts angerührt. Der Anblick war so schrecklich ...“
„Verstehe“, lenkte Orsini ein. „Könnten Sie für mich versuchen, den Weg von der Party bis zu dem Augenblick, als Sie die Tote gefunden haben, noch einmal in Gedanken zu gehen? In Zeitlupe, vielleicht schließen Sie die Augen – manchmal erinnert man sich an Dinge ...“
Die junge Frau holte langsam Luft und ließ sie ebenso gedehnt wieder entströmen. „Ich versuch’s ...“ Nach einer Pause fuhr sie fort: „Zuerst hat’s nur getröpfelt, wir haben uns nicht stören lassen, aber dann – als hätte dort oben jemand den Wasserhahn aufgedreht: So was Ähnliches hab ich nur einmal auf Bali erlebt. Dazu starker Wind, alles ist in der Luft herumgewirbelt. Jeder hat nur mehr irgendwas geschnappt und ist zu den Hütten.“
„Jeder? Waren Sie mit Freunden da?“
Sie schüttelte den Kopf. „Die anderen habe ich nicht gekannt. Ich war eher zufällig nach der Arbeit da und bin ins Plaudern gekommen.“
„Verstehe. Und dann?“
„Wir sind unter dem Vordach gestanden, haben gewartet und was getrunken. Aber es wird einem kalt, wenn man nass herumsteht. Erst nach einer Zeit, als klar war, dass es noch länger dauern wird, bin ich irgendwann losgelaufen.“
„Allein?“
„Nein, die meisten anderen auch. Es war ein einziges Wirrwarr.“
„Hmm.“ Orsini lehnte sich zurück und sah sie aufmerksam an. Das menschliche Gehirn hatte einige außerordentliche Fähigkeiten. In den richtigen Zustand versetzt erinnerte es sich unter Umständen an Details, die im Bewusstsein nirgends abgespeichert waren. „Und dann?“
„Ich bin über die erste Fahrbahn und den Grünstreifen und wollte zu meinem Auto. Das ist hinter dem Platz geparkt.“
„Ist Ihnen dabei etwas eigenartig vorgekommen? Vielleicht hat irgendetwas nicht ins Bild gepasst ...“
Die junge Frau legte die Stirn in Falten. „Na ja ..., höchstens ...“ Sie sah durch die Scheibe in die Nacht. „Wir sind alle durcheinandergelaufen, ziemlich hektisch, aber da war jemand, der ...“
„Ja?“
„Als würd ihn der Regen nicht stören ...“
„Inwiefern?“
„Also, genau genommen war’s nur so ein Moment. Vielleicht hab ich mich auch getäuscht ...“
„Ihn ..., sind Sie sicher, dass es ein Mann war?“
„Nicht einmal das kann ich sagen, aber schon eher ... Es war einfach anders, seine Bewegung ...“
„In welche Richtung ...?“, hakte Orsini leise nach.
„Ich schätze ...“ Sie blickte Richtung Heumarkt, zum Denkmal und wieder zurück. „Er, also diese Person, ist mir entgegengekommen, aber wo er hingegangen ist?“ Bedauernd zog sie die Schultern hoch.
„Aber die Person ging, anstatt zu laufen?“
„Eher.“
„Könnten Sie sie beschreiben?“
„Tut mir leid, hab zu wenig darauf geachtet.“ Ihre Zähne hatten mittlerweile begonnen, unkontrolliert zu klappern. Unter der Decke musste sie klatschnass sein.
„Danke, Sie haben uns sehr geholfen“, erwiderte Orsini und kletterte aus dem Wagen. „Ich lasse Sie nach Hause bringen – holen Sie Ihr Auto besser tagsüber ab“, fügte er hinzu und sah zu Elivra Zobl. „Gibt’s was Neues?“
Zobl zog ihn zur Seite. „Dorothea Hausner – der Name stimmt. 42 Jahre alt, verheiratet. Gärtnerin.“
„Adresse?“
„12. Bezirk, in der Meidlinger Hauptstraße.“
„Jedenfalls nicht ums Eck“, bemerkte Orsini. „Verheiratet ..., der Ehemann, wir müssen mit ihm reden.“
„Natürlich.“
„Beziehungsverbrechen?“, überlegte Zobl laut. „Allerdings wär das ein ungewöhnlicher Rahmen dafür.“
Orsini blieb stumm und ertappte sich dabei, zu wünschen, es wäre ein normales, einfaches Familiendrama. Nachdenklich drehte er sich um und ging auf die Pathologin zu, die ihrem Assistenten gerade eine Anweisung gab und ihm ein Thermometer in die Hand drückte.
„Bitte die Kurzversion“, sagte er zu ihr.
„Vor drei bis vier Stunden. Mord nicht auszuschließen.“
Orsini sah auf seine Uhr. „Das wäre ein Todeszeitpunkt zwischen elf und zwölf ...“
„Genaueres sage ich Ihnen in ein paar Stunden. Kommen Sie um sechs in die Pathologie, ich mache halt eine Nachtschicht ...“
*
Sie waren zur Wohnung der Hausners gefahren, um mit dem Ehemann der Toten zu sprechen, und standen nun vor verschlossener Tür.
Am Gang gegenüber öffnete sich eine Wohnungstür einen Spalt breit, eine ältere Dame sah sie misstrauisch an. „Was wolln S’ denn um die Uhrzeit, es is grad erst drei vorbei!“
„Wissen Sie zufällig, wo der Herr Hausner sich gerade aufhält?“, konterte Orsini und hielt ihr seine Marke hin. „Polizei.“
„Hat er was ausgfressen?“
„Aber nein, wir müssen nur wegen einer Zeugenaussage mit ihm sprechen.“
Die Dame starrte mit müden Augen auf die beiden Männer vor ihrer Tür. „Na, der wird in der Arbeit sein“, antwortete sie dann mürrisch, „da werden S’ schon warten müssen bis in der Früh.“
„Arbeit?“, fragte Wilasich und trat näher.
„Der hat irgendwo Nachtdienst, aber wo, weiß i net“, kam es gedämpft zurück.
„Auf Wiedersehen und danke für die Auskunft“, erwiderte Wilasich und wandte sich ab.
*
„Apropos Nachtdienst – du siehst schrecklich aus“, stellte Orsini unten vor dem Haus fest, öffnete die Wagentür und nahm am Beifahrersitz Platz. „Wie lange bist du schon im Dienst?“
„Viel zu lange“, pflichtete Wilasich ihm bei und startete das Auto. „Hab meiner Frau ein freies Wochenende versprochen und wollte deswegen unter der Woche was einarbeiten.“ Er lachte heiser auf. „Das hat man davon – zum Einarbeiten bin ich nicht gekommen, dafür haben wir eine Leiche ...“
Orsini wusste, dass die Familie, besonders seine drei Töchter, Wilasich alles bedeutete. Er vergötterte sie und hatte deswegen auch auf den Gruppenleiterjob verzichtet. Dass er aufgrund der Budgetkürzungen und dem damit verbundenen Personalabbau wieder vermehrt Überstunden machen musste, traf ihn umso mehr.
Orsini blickte auf seine Uhr. „Wir besprechen alles hier im Auto auf dem Weg zu dir nach Hause. Ich fahr dann zurück ins Büro und erledige alles Weitere. Das mit dem freien Wochenende werden wir schon hinkriegen.“
Wilasich nickte. Eine Weile fuhren sie schweigend durch die Stadt.
„Weißt du, was unsere Kleine im Kindergarten gesagt hat, als die Tante nach meinem Beruf gefragt hat?“, fragte Wilasich plötzlich in die Stille hinein.
„Polizist?“, erwiderte Orsini abwesend.
„Papa ist Totenschauer, hat sie gesagt.“
„Totenschauer?“
„Ja, genau. Das war hart. Wir haben uns immer bemüht, dass mein Beruf nicht in die Familie hineinfunkt. Ich nehm normal nie Unterlagen mit heim. Aber ... der Doppelmord – sie hat die Akte auf meinem Tisch gefunden und die Bilder gesehen.“ Wilasich fuhr sich über die Augen. „Seither wacht sie in der Nacht dauernd auf und macht auch wieder ins Bett.“
Orsini starrte auf die nasse Fahrbahn. ... wacht in der Nacht dauernd auf, wiederholte er in Gedanken. Auch er war vor vielen Jahren oft in der Nacht aufgewacht, nachdem er ein Foto gesehen hatte, ein ganz bestimmtes Foto. „Sagt sie, was sie träumt?“, fragte er schließlich.
„Nein, aber sie kommt zu uns ins Bett. Dann kann sie schlafen.“
Orsini nickte. Zumindest hatte Wilasich eine Familie. Ob er ihm von Pokornys Verdacht erzählen sollte, fragte er sich und schob den Gedanken an Kinder und Familie beiseite. Loyalität hin oder her – Pokorny war nun einmal nicht zu erreichen.
Während Orsini noch überlegte, hielt Wilasich den Wagen vor seinem Haus an, verabschiedete sich und stieg aus. Als er am Gartentor angelangt war, hörte er, wie die Wagentür aufging.
„Kurt!“, rief Orsini.
„Was ist?“
„Es gibt noch etwas, das du wissen solltest.“
„Was denn?“
„Möglicherweise ist die Tote kein Einzelfall.“
„Was soll das heißen?“
„Pokorny – vor ein paar Wochen, als er mich auf der Straße treffen wollte, statt im Büro ...“, begann Orsini.
„Und, was war da?“
„Es gibt noch eine Tote ...“
„... mit einer Glasscherbe“, folgerte Wilasich und lehnte sich erschöpft ans Tor.
„Ja, genau“, erklärte Orsini und schilderte ihm kurz die ganze Vorgeschichte.
„Seltsam, die Geheimniskrämerei passt nicht zu ihm“, meinte Wilasich dann.
„Wahrscheinlich will er sich derzeit keine Blöße geben“, mutmaßte Orsini. „Vergiss die Reform nicht. Es gibt sicherlich einflussreiche Leute, die ihm ordentlich Druck machen.“
Wilasich nickte gedankenverloren. „Sobald die Obduktion Klarheit ergibt, ob die Frau tatsächlich ermordet worden ist, müssen wir die Drogensüchtige exhumieren lassen.“
„Krematorium“, wandte Orsini umgehend ein.
„Scheiße“, antwortete Wilasich, der sich ansonsten mit Kraftausdrücken zurückhielt, ruhig. „Wer hat es als Selbstmord eingestuft?“
„Gottschlich.“
„Jetzt versteh ich ...“
„Ich versuche, Pokorny so rasch wie möglich zu erreichen“, sagte Orsini nach einer Pause, „bis in der Früh ist es egal, aber dann müssen es die anderen auch wissen.“
„Außerdem muss er uns mehr Leute zuschanzen“, antwortete Wilasich matt, bevor er endgültig sein Gartentor öffnete und zum Haus schlurfte.
Orsini schaute dem müden Riesen eine Weile nach und ging dann zum Auto zurück. Mittlerweile hatten die ersten Vögel zu zwitschern begonnen. Der Duft blühender Rosen wehte durch die Vorgärten, die Regentropfen hatten das üppige Grün der Bäume zum Glänzen gebracht. Und dennoch, Orsini war erfüllt von einem einsamen, vagen Gefühl, als wartete hinter der Idylle – gleich um die Ecke – die staubige, öde Steppe.
*
Orsini klopfte und sah gleichzeitig durch die offene Tür zum Kollegen hinein, der im Erdgeschoß Journaldienst hatte. „Ist Elvira schon im Haus?“
„Die ist grade vor Ihnen gekommen.“
Orsini ging zum Getränkeautomaten und drückte auf einen der Knöpfe. Der Automat klotzte wie ein gelb-oranges mannshohes Monster im ansonsten kahlen Gang und war wohl der letzte Überlebende seiner Art. Rasch griff Orsini nach einem der Plastikbecher und stellte ihn unter den Hahn – man wusste nie, wie schnell der Apparat arbeitete, wenn überhaupt. Manchmal schoss das Getränk wie aus einem Maschinengewehr herunter, manchmal dauerte es eine kleine Ewigkeit. Und jedes Mal, wenn er schließlich Kaffee oder Tee ausspuckte, klang es, als würde er seinen letzten Schnaufer machen.
„Drei Minuten 28, mit Zucker“, sagte Orsini einen Stock höher und stellte einen der Becher vor Elvira Zobl auf deren Schreibtisch.
„Also lauwarm ...“, antwortete sie achselzuckend und lächelte. Mittlerweile schätzten sie die Kaffeeproduktionszeiten um die Wette.
„Wenn du was anderes willst, müsstest du selber ...“
„Nein, danke“, sie schüttelte den Kopf und trank einen Schluck, „wo ist Kurt?“
„Ich hab ihn nach Hause gebracht. Er war völlig erledigt.“
Elvira Zobl nickte.
„Elmar?“, fragte Orsini und wies auf den zweiten, leeren Schreibtisch im Zimmer.
„Nicht zu erreichen. Hier“, sagte sie und hielt ihm ein Blatt hin.
Er nahm es entgegen und sah sie anerkennend an. Sie war kaum vom Tatort zurück, es war vier Uhr vorbei, und dennoch hatte sie alles im Griff. Vermutlich war sie zeitig ins Bett gegangen, so wie sie es meist tat, wenn sie abends freihatte. Das war etwas, worum er sie manchmal regelrecht beneidete. Nie und nimmer hätte er das gekonnt.
„42 Jahre alt, seit acht Jahren verheiratet mit Franz Hausner, 46, als Gärtnerin bei der Stadt angestellt, keine Kinder, keine Kredite, keine besonderen Vorkommnisse.“ Orsini überflog das Papier. „Zu Hause ist der Ehemann übrigens nicht gewesen, hat entweder eine Nachtschicht oder überhaupt Nachtdienst. War sehr auskunftsfreudig, die Dame nebenan.“
Elvira nickte. „Und wenn er was mit dem Tod seiner Frau zu tun hat, wird er auch nicht mehr heimkommen. Vielleicht hat er sich ja schon selber eine Kugel in den Kopf gejagt oder ist in die Donau gesprungen. Wär zumindest naheliegend.“
„Schon, aber ...“ Orsini zögerte. Spätestens bei der Morgenbesprechung würde er ohnehin Pokornys Mappe rundum gehen lassen, selbst wenn er ihn bis dahin nicht erreicht hatte, also konnte er doch gleich damit herausrücken.
„In der Parkgarage haben wir keine verdächtigen Personen vorgefunden, die Aufnahmen von der Kamera kriegen wir aber erst, wenn der Portier kommt. In der Nacht ist keiner da“, unterbrach Zobl ihn. Sie hatte Orsinis nachdenkliche Miene nicht bemerkt und tippte längst am Computer herum.
„Ich bin noch kurz bei mir im Büro“, sagte er schließlich und trank erstmals einen Schluck seines eigenen Kaffees. „Eher laukalt“, grummelte er und fuhr im Gehen fort: „Könntest du dich darum kümmern, dass die Beamten Hausner sofort herbringen, wenn er auftaucht? Und sie sollen ...“
„... nichts zu ihm sagen über den Grund. Natürlich.“ Sie wusste so gut wie er, dass der Augenblick, in dem man jemandem mitteilte, dass sein Partner tot war, sehr aufschlussreich sein konnte. Es war ein Moment, der mit Wahrhaftigkeit zu tun hatte. Oder mit Schauspielerei, je nachdem. Allerdings konnten sie es sich kaum leisten, selbst tatenlos in der Meidlinger Hauptstraße herumzuhocken und zu warten.