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Mittwoch, 1. Juni 2005

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Kurz vor sechs stand Orsini vor dem Büro von Dr. Lydia Mirno. Er klopfte. Nichts. Die Tür war versperrt. Er rümpfte die Nase und versuchte, möglichst flach zu atmen. Er würde sie im Obduktionsraum suchen müssen. Die Geruchsmixtur aus Tod und Reinigungsmitteln hatte sich im Laufe der Jahre in seinem Bewusstsein verankert, gewöhnt hatte er sich da­ran aber noch lange nicht. Ein Hauch dieser Mischung lag in jeder Ritze des Gebäudes.

„Ach“, sagte in diesem Moment die Pathologin direkt hinter ihm.

Orsini zuckte zusammen und drehte sich um.

„Die späte Stunde oder der Hauch des Todes?“, fragte sie belustigt, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte.

„Der frühe Morgen.“

Die Ärztin war mit Schürze und Kopfbedeckung bekleidet. In ihrer Linken hielt sie blutige Handschuhe. Dass Orsini sie nicht hatte kommen hören, lag an den roten Crocs, die jegliches Schrittgeräusch dämpften.

Sie folgte seinem Blick. „Sind einfach praktisch.“

„Vor allem die Farbe.“

„Hab noch zwei Paar andere.“ Dr. Mirno strahlte einerseits eine nüchterne Sachlichkeit und Erfahrung aus, die jeden Menschen auf das reduzierte, was er war: ein organisches Produkt mit Verfallsdatum. Andererseits, die bunten Kunststoffschuhe ...

„Kommen Sie mit?“, fragte sie, trat auf eine kleine Stahltür zu und deutete gleichzeitig mit dem Kopf zum Obduktionssaal. „Sie haben mir den Neuen von der Tatortgruppe geschickt, den lass ich zum Einstand ein kleines Rendezvous mit der Leiche führen ...“ Dr. Mirno war von der Statur her eher klein und untersetzt. Von hinten betrachtet hätte man sie mit einem Mann verwechseln können. Dazu trug ihr breiter, schlurfender Gang auch noch bei. Einem Cowboy bei einem Duell nicht unähnlich hielt sie beim Gehen ihre angewinkelten Arme so in die Höhe, dass es aussah, als wollte sie jederzeit schussbereit sein. In verbaler Hinsicht war sie das auch.

Orsini hielt ihr die Stahltür auf. Sie führte in einen winzigen Hinterhof, dessen Boden mit Kippen übersät war.

„Seit Monatsanfang dürfen wir weder in unseren Büros noch hier mehr rauchen“, bemerkte Dr. Mirno und zog dabei eine Packung Zigaretten aus der Tasche.

„Scheints, wir müssen den Teufel eben irgendwie festmachen“, bemerkte Orsini ein wenig boshaft.

„Ja, der Teufel ...“

„Jetzt sind’s die Zigaretten, als nächstes wieder die Weichmacher in den Kunststoffen.“

„Stimmt ja! Sie haben doch auch aufgehört mit dem Rauchen, oder?“

„Ich versuch’s ...“

„Und dass die Totengräber keinen Platz mehr für neue Kunden haben, weil die alten nicht mehr verrotten vor lauter Konservierungsstoffen, das ist nicht nur ein Gerücht. Ich kauf mein Essen jedenfalls im Bioladen, wenn ich schon nicht ohne die leben kann“, sagte sie und steckte sich eine Zigarette in den Mundwinkel. „Also, was verschafft mir die persönliche Ehre?“ Gierig zog sie am Glimmstängel. „Trauen Sie meinen schriftlichen Erkenntnissen nicht?“

Orsini schmunzelte. Er mochte die Pathologin. „Aber natürlich!“, entgegnete er mit einem schelmischen Grinsen. „Sie haben literarische Fähigkeiten ersten Ranges. Aber Ihr persönlicher Eindruck interessiert mich noch mehr. Das, was nicht im Bericht steht.“

„Was wird denn Ihrer Ansicht nach in meinem Bericht stehen?“, fragte die Gerichtsmedizinerin herausfordernd, sah ihn dabei an und trat die Zigarette unter ihren Crocs aus. Sie hatte sie in Rekordzeit einer partiellen Erledigung zugeführt.

„Dass es kein Selbstmord war ...“

Dr. Mirno nickte.

„Tatzeit zwischen elf und zwölf?“

„Nicht vor halb zwölf, eher gegen Mitternacht“, warf sie ein. „Weiter!“

Orsini nickte und fuhr fort: „Eine Glasscherbe als Tatwaffe zu verwenden ist ungewöhnlich. Damit einen präzisen Schnitt zu machen vielleicht schwierig.“

„Na ja, gebrochenes Glas ist sehr scharf.“

„Trotzdem, bei einem Selbstmord werden hauptsächlich Rasierklingen, Skalpelle oder Messer verwendet.“

„Richtig. Allerdings hatte ich mal einen Mann liegen, der es mit dem Deckel einer Konservendose zustande gebracht hat.“

„Außerdem“, Orsini hob die Augenbrauen – er mochte genau diese Art von Geplänkel, „sind keine Probierschnitte vorhanden, das ist für einen Selbstmord auch ungewöhnlich.“ Dr. Mirno genehmigte sich erneut eine Zigarette, während Orsini fortfuhr: „Der Arm weist oberhalb der Schnitte eine Druckstelle auf. Wenn es Fremdeinwirkung war, könnte der Täter sie dort festgehalten haben. Wenn man so tiefe Schnitte ausführen will, ist das wahrscheinlich notwendig. Das Hämatom lässt zumindest darauf schließen.“

„Ziemlich exakt. Lernt man das in der Ausbildung?“

„Auch. Wegen des Erdreichs: Am Fundort war wenig Blut zu sehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Tatort und Fundort nicht ident sind.“

„Das seh ich gefühlsmäßig auch so.“

„Ein Frauenkörper hat normalerweise zirka vier bis fünf Liter Blut.“

„Ist natürlich vom Gewicht abhängig. Da sie nicht besonders groß ist, würde ich von etwas weniger ausgehen.“

„So oder so ist das eine ganze Menge. Das geht nicht ohne eine gewisse – verzeihen Sie mir den Ausdruck – Sauerei ab ...“

„Ich bin gespannt, ob die Kollegen von der Tatortgruppe Schleifspuren auf der Kleidung finden ... Apropos Kollege: Ich glaub, ich sollte wieder zurück“, meinte Dr. Mirno.

„Eine letzte Frage: War sie bei Bewusstsein, als ...“

„... als ihr die Adern aufgeschnitten wurden?“ Dr. Mirno zog die Mundwinkel nach unten. „Eher nicht. Sie hat einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand auf den Hinterkopf bekommen.“

„Hätte der Schlag tödlich sein können?“

„Aufgrund der Verletzung schließe ich das aus. Ich schätze, das war nicht die Absicht.“

„Verstehe“, meinte Orsini und griff nach der Türschnalle.

„Übrigens. Sie hatte zuvor Geschlechtsverkehr.“

Überrascht hielt er inne. „Es waren äußerlich keine Anzeichen dafür vorhanden ..., also doch eine Vergewaltigung?“

„Das ist die Frage. Sie ist zwar leicht eingerissen, aber das kann bei heftigem Sex, wie wir wissen, durchaus vorkommen.“

„Können Sie schon sagen, wann das war?“

„Dazu brauch ich noch eine Reihe an Tests. Jedenfalls am Abend zuvor“, erklärte die Pathologin und schob die Tür auf. „Und“, fügte sie hinzu und kniff die Augen zusammen, „was davon soll ich jetzt nicht in den Bericht schreiben? Der Kollege Gottschlich hat nämlich vorhin auch schon angerufen ...“

„Das hängt von Ihren gewerkschaftlichen Interessen ab“, entgegnete Orsini. „Wenn Sie in Ungnade fallen wollen ...“

„In Ungnade bin ich schon lange“, erwiderte Dr. Mirno, fischte das Zigarettenpäckchen hervor und zündete sich demonstrativ mitten am Gang die dritte Zigarette innerhalb weniger Minuten an. „Und nur für den Fall, dass Sie irgendwann auch eine brauchen ...“, ergänzte sie und hielt Orsini die Packung vor die Nase. „Danke“, antwortete er, steckte sich eine der Zigaretten in die Jackentasche und verabschiedete sich.

*

Langsam streckte er seinen tauben Arm in die Höhe und wartete, bis sich darin wieder Leben bemerkbar machte. Jedes Mal, wenn er auf dem schmalen Sofa in der Ecke seines Büros schlief, und sei es auch nur für eine Stunde, schwor er sich, dass es das letzte Mal gewesen war. Das Licht tat in seinen Augen weh, als er versuchte, auf dem verschwommenen Ziffernblatt seiner Uhr zu erkennen, wie spät es war. Er rieb sich die Augen. Kurz vor acht, stellte er schließlich fest, richtete sich auf und dehnte seine steifen Glieder.

Nach einer provisorischen Toilette trottete er schlafwandlerisch ins Erdgeschoß zum Getränkeautomaten. Er hatte dem Automaten gerade zwei Becher Kaffee abgerungen, als Elmar Sykora ihm vom Eingang her entgegenkam. Wie meist war er in den Farben der Unscheinbarkeit unterwegs, Beige oder Hellgrau, kaum voneinander zu unterscheiden. Weder seine Kleidung noch sein blasses Gesicht wirkten jemals besonders gepflegt oder auch ungepflegt. Er verkörperte das lebendige Mittelmaß.

„Hab schon gehört“, meinte Sykora emotionslos.

„Schon? Bist du deswegen so früh gekommen?“

Ohne die Spitze zu registrieren, marschierte Sykora Richtung Lift. „Kommen Sie mit?“, fragte er Orsini und betätigte den Taster. Obwohl Orsini ihn duzte wie alle anderen Kollegen, wahrte Sykora seinerseits hartnäckig die Distanz.

„Was sonst?“, murmelte er und stellte sich zu ihm.

„Zwei?“, fragte Sykora. Die Lifttüren schlossen sich.

„Elvira“, erwiderte Orsini nur. Er erwartete nicht, dass sein Kollege von sich aus weiterfragen würde. Jeder andere Ermittler hätte sich für den Vorfall in der Nacht interessiert. Sykora nicht.

„Wird ein schöner Tag“, bemerkte Sykora, trat aus dem Lift und steuerte auf sein Büro zu.

Orsini verzog den Mundwinkel, schlürfte aber nur stumm einen Schluck Kaffee aus seinem Becher und folgte ihm.

Elvira Zobl saß noch immer vor dem Computer. „Wir haben den Ehemann“, eröffnete sie ein klein wenig triumphierend.

„Tot?“, fragte Orsini.

„Nein, lebendig ..., sind auf dem Weg hierher. Ist angeblich von der Arbeit nach Hause gekommen und wirkte völlig überrascht. Sie haben ihm aber nichts weiter gesagt“, kam Zobl Orsinis Frage zuvor und wandte sich an Sykora, mit dem sie sich das Büro teilte: „Ausgeschlafen?“

„Ja“, antwortete dieser freundlich, holte seine gemütlichen Hausschuhe hervor und zog sie an. Dann setzte er sich dorthin, wo er hingehörte und von wo er sich nur äußerst ungern wegbewegte: an seinen Schreibtisch. Für den ­Außendienst war er schlichtweg nicht zu gebrauchen, das hatte auch Orsini nach längeren Gefechten akzeptieren müssen. Irgendwann war der Schreibtisch ohne Sykora beinah undenkbar geworden – es fehlte nur mehr, dass statt Sykora der Schreibtisch antwortete.

„Wir verschieben die Morgenbesprechung!“, sagte Orsini, „ich möchte den Ehemann sofort einvernehmen“, und machte sich auf den Weg in sein Büro nebenan, als sein Handy läutete. Endlich, dachte er beim Blick aufs Display.

„Und?“, hörte er die markant schnarrende Stimme.

„Eine Frau, Gärtnerin. Das Ganze sieht leider inszeniert aus, sie liegt genauso da wie die Drogensüchtige.“

„Auch am Karlsplatz?“

„Diesmal ist es der Beethovenplatz, hinter dem Denkmal, aber wieder in einem Gebüsch.“ Die Stille am anderen Ende dauerte so lange, dass Orsini fragte: „Herr Oberstleutnant, sind Sie noch dran?“

„Bin ich“, antwortete Pokorny leise. „Ich hab gehofft, dass ...“

„Ich weiß.“ Auch Orsini schwieg. Eine Welle von kaltem Unbehagen erfasste ihn nun, da die geschäftige Aktivität für einen Moment unterbrochen war. Dann fuhr er fort: „Ich werde die Unterlagen, die Sie mir letztens gegeben haben, bei der Morgenbesprechung weiterreichen.“

„Natürlich“, entgegnete Pokorny ruhig, „welche Tatortgruppe ...?“

„Gottschlich.“

„Das auch noch“, seufzte Pokorny und ließ sich von Orsini die Details schildern. „Ich komme so bald wie möglich zurück. Halten Sie mich auf dem Laufenden!“, sagte er danach und wollte auflegen.

„Da ist noch was“, hakte Orsini vorsichtig ein.

„Und zwar?“

„Wir bräuchten Verstärkung.“

„Das sagt sich leicht, aber in dem Fall – ich werde mich bemühen!“

„Gut.“

*

„Ich oder du?“, fragte Elvira Zobl.

„Du“, erwiderte Orsini, bevor er ihr die Tür zum Vernehmungszimmer öffnete.

Franz Hausner stand vor dem winzigen Fenster und blickte in den Innenhof. Ohne sich umzudrehen, fragte er: „Was ist passiert? Wieso werde ich ohne Erklärung abgeholt und hier festgehalten? Ist was mit meiner Frau?“

„Die Kollegen waren doch nicht unhöflich?“, lenkte Zobl ein.

„Das kann man so oder so sehen.“

„Wir halten Sie auch nicht fest, wir möchten nur mit Ihnen sprechen. Wollen Sie sich nicht setzen?“

„Eigentlich nicht“, antwortete Hausner leise. Seine Arme hingen schlaff an seinem Körper herab und wirkten zu lang, als hätte sich ein Maler in seinem Bild mit den Dimensionen geirrt. Insgesamt war er von eher schmächtiger Statur und nicht gerade durchtrainiert. Er trug eine graue Hose und ein weißes, etwas zerknittertes Hemd, das über seinem Bauch spannte. Konnte er eine Frau überwältigen, fragte Orsini sich. Möglicherweise. Er hatte schon zarter gebaute Gewaltverbrecher erlebt.

„Sie lebt nicht mehr. Sagen Sie es mir ruhig!“

Orsini lehnte sich neben der Tür an die Wand und gab Zobl ein Zeichen. Sie konnten warten. Und tatsächlich, als die Stille immer länger, immer drückender wurde, drehte Hausner sich endlich doch um und sah sie mit zusammengekniffenen Lippen herausfordernd an.

„Es tut mir aufrichtig leid, aber, ja, wir haben Ihre Frau heute Nacht tot aufgefunden“, erklärte Zobl nun sofort.

Hausner tastete nach der Lehne seines Stuhls, doch in sein Gesicht brachte die Nachricht keine Veränderung. Es wirkte starr wie das einer Statue, dachte Orsini, der Ausdruck darin ein wenig störrisch.

„Tot aufgefunden“, wiederholte Hausner leise, ehe er sich hinsetzte. „Wie ...?“

„Wir haben Grund zur Annahme, dass sie ermordet wurde.“

„Ermordet?“ Hausner schien die Botschaft zwar verstanden, gleichzeitig aber nicht wirklich begriffen zu haben. Während Elvira Zobl ihm die Umstände erläuterte, richtete Hausner den Blick zwischen sie beide hindurch in eine imaginäre Ferne, als hätte er anderes zu denken.

„Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?“

„Ich war gestern Abend bis gegen acht zu Hause“, antwortete Hausner mit monotoner Stimme. „Dann bin ich zur Arbeit.“

„Verstehe. Hatte Ihre Frau noch vor, auszugehen?“

„Nein, nicht dass ich wüsste“, sagte Hausner und befeuchtete sich mit der Zunge die Lippen. „Könnte ich was zu trinken haben?“

„Natürlich. Entschuldigen Sie. Kaffee, Tee oder vielleicht ein Mineralwasser?“ Orsini stand auf.

„Kaffee.“

„Also drei Kaffee“, sagte er und sah Elvira dabei vielsagend an.

„Dann unterbrechen wir kurz, bis mein Kollege mit dem Kaffee zurück ist“, meinte sie. Als Orsini gegangen war, lehnte sie sich im Sessel zurück und begann, etwas auf ein Blatt Papier zu schreiben. Hausner sah ihr dabei schweigend zu. Nach einiger Zeit legte sie den Stift wieder beiseite und sagte so beiläufig wie möglich: „Und Sie haben keine Idee, wo Ihre Frau um die Zeit noch hingegangen sein könnte?“

„Keine Ahnung.“ Er zuckte kurz mit den Schultern.

Orsini hatte mittlerweile im Nebenzimmer Position bezogen und beobachtete das Gespräch durch eine verspiegelte Glasscheibe, während ein Kollege den Kaffee holte. Bei eingehender Betrachtung wirkte Hausner beinahe zweigeteilt. Sein Oberkörper war im Lauf des Gesprächs immer weiter in sich zusammengefallen und hing wie ein abgenutzter, halb leerer Sack herab, die Gesichtsmuskulatur war jedoch sichtlich angespannt. Die Antworten kamen knapp und mit einer Prise Sturheit.

„Haben Sie mit ihr telefoniert heute Nacht? Hat sie sich vielleicht von irgendwo gemeldet oder ein SMS geschickt?“

„Nein. Ich hab versucht, sie zu erreichen, aber sie hat nicht abgehoben.“

„Mit Ihrem Handy?“

„Nein, vom Festnetz. Zwei Mal. Das Handy hatte ich nicht mit.“

„Verstehe. Haben Sie Ihr Handy jetzt zufällig dabei?“

„Nein.“

„Aha.“ Zobl fuhr sich durchs Haar, drehte das Blatt Papier auf die Rückseite und begann, darauf Strichmännchen zu kritzeln. „Was arbeiten Sie eigentlich genau?“

„Nachtwächter.“

„... bei der Firma ...?“

„ASES.“

„Aha ..., arbeiten Sie dort allein?“, fragte Elvira Zobl betont freundlich, während sie den Namen notierte. Sie hatte das Gefühl, ihm jede einzelne Antwort aus der Nase ziehen zu müssen. Und so sehr sie sich auch um ein leichtes, unverbindliches Gespräch bemühte, Franz Hausner schien trotz oder wegen seiner offensichtlichen Müdigkeit verschlossen und einsilbig.

„Meistens.“

„Und gestern?“

„... habe ich meinen Kollegen um neun abgelöst.“

„Und wie gelangen Sie dorthin?“

„Mit U-Bahn und Schnellbahn.“

„Ist ein schönes Stück ...“

„Quer durch die Stadt. 45 Minuten reine Fahrzeit.“

Orsini lehnte sich mit dem Gesicht an die Glasscheibe. Sie war angenehm kühl. Außerdem konnte er so seine ganze Aufmerksamkeit auf Hausner richten. Irgendwann würde Elvira auf ein heikles Thema stoßen, diesen Moment wollte er nicht verpassen.

„Haben Sie denn kein Auto?“

„Doch, aber das benutzt mehr meine Frau.“

„Aha. Sie verstehen, dass wir uns das anschauen müssen?“

Franz Hausner zögerte. „Natürlich ...“

„Gab’s in letzter Zeit vielleicht Probleme mit Ihrer Frau?“

„Was meinen Sie?“

„Unstimmigkeiten ...“

Hausner schwieg. Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung, doch Orsini konnte von seiner Position aus gut beobachten, wie sich seine Finger, die bisher schlaff auf seinem Schoß gelegen waren, unter dem Tisch – von Elvira unbemerkt – ein wenig verkrampften.

„Ich meine, dass sie Ihnen nicht gesagt hat, dass sie noch fortgeht – ist das öfter vorgekommen? Vielleicht hatten Sie früher deswegen einmal Streit?“

„Nein.“ Die Hände ballten sich zu Fäusten. „Wir hatten höchstens kleine Meinungsverschiedenheiten.“

Rasch nahm Orsini dem Kollegen die Kaffeebecher ab und platzte absichtlich nebenan ins Gespräch.

„Nichts Ernstes hoffentlich?“, setzte Zobl indessen fort.

„Nein, nein!“, erwiderte Franz Hausner eine Spur zu schnell.

Orsini stellte die Becher ab. „Also, Sie hatten Beziehungsprobleme“, sagte er dann bestimmt.

„Nein, das war nichts Ernstes, Kollege“, lenkte Zobl ein.

„Genau“, bestätigte Hausner beinahe aufgebracht. „Ich habe meine Frau geliebt!“

„Aus Eifersucht sind schon viele Frauen umgebracht worden“, erwiderte Orsini trocken.

Hausner funkelte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Es sah aus, als wollte er etwas entgegnen, doch im letzten Augenblick presste er die Lippen zusammen und schwieg.

Orsini aber setzte noch eins nach: „Hatten Sie gestern Geschlechtsverkehr mit ihr?“

„Nein!“, schoss es aus Franz Hausner heraus. Dann senkte er den Blick.

*

„Was hältst du von ihm?“, fragte Elvira Zobl eine Weile später auf dem Weg in den zweiten Stock. Sie hatten versucht, Hausner in die Enge zu treiben. Nach der kurzen emotionalen Reaktion aber war er in eine eigene Welt versunken und hatte kaum mehr etwas von sich gegeben.

„Schwer zu sagen“, antwortete Orsini. „Irgendetwas verheimlicht er uns, aber wir werden ihn fürs Erste trotzdem bald gehen lassen müssen. Außerdem ...“, er sah sie beinah schuldbewusst an, „du solltest dir was anhören, bevor wir weiterreden.“

„Was anhören?“

„Gleich ...“

Zobl schüttelte verständnislos den Kopf und hielt ihm die Tür zu seinem Büro auf. Wilasich war offensichtlich gerade angekommen. Er hängte seine abgenutzte dunkelblaue Wachsjacke über den Stuhl und grüßte verschlafen. Sykora hatte es sich hingegen längst auf dem Sofa gemütlich gemacht und umklammerte eine Tasse mit grünem Tee.

„Wo ist Kubicek?“, fragte Orsini.

In dem Moment ging die Tür auf und Viktor Kubicek schob einen klapprigen Drehstuhl herein. „Morgen!“, warf er zackig in die Runde, rollte den Stuhl in die Mitte des Raumes und setzte sich. Er war ein stiernackiger, kompakter Typ, trug meist Anzug und Krawatte – wenngleich nicht die allerneueste Mode – und versteckte darunter geschickt den eher korpulenten Bauch. Im rechten Ohr steckte ein kleiner silberner Stern. Er war relativ neu in Orsinis Gruppe, wurde genauer gesagt ein wenig von Abteilung zu Abteilung hin und her gereicht und musste sich derzeit mit einem winzigen Kämmerchen am Ende des Gangs zufriedengeben.

Nachdem Orsini und Zobl alle auf den neuesten Stand gebracht hatten, was die nächtlichen Ereignisse anlangte, sah Orsini in die Runde und fixierte Kubicek für einen Augenblick. „Was ich euch jetzt sage, bleibt einstweilen unter uns.“

Viktor Kubicek schob das Kinn nach vor. Er hatte die unangenehme Angewohnheit, sich immer und überall zu räuspern. Manchmal kurz und leise, manchmal laut oder auch mit einer ordentlichen Portion Spucke, die er im Freien gern jemandem demonstrativ vor die Füße schoss.

„Es gibt Grund zur Annahme, dass es vor einiger Zeit ein ähnliches Verbrechen gegeben hat“, fuhr Orsini fort und griff nach Pokornys Mappe.

Elvira Zobl nahm sie ihm ab und sah ihn dabei ein wenig vorwurfsvoll an. „Und warum erfahren wir das erst jetzt?“

„Weil ich bis jetzt zur Verschwiegenheit verpflichtet war.“

„Versteh ich nicht“, sagte Kubicek und räusperte sich abermals.

„Am 22. April hat es einen Selbstmord am Karlsplatz gegeben ...“

„Einen Selbstmord?“, äffte Kubicek ihn nach.

„... von dem wir vermuten, dass es keiner war“, antwortete Orsini unbeeindruckt und begann, den Fall der toten Gelegenheitsprostituierten Margarete Bauer zu schildern.

„Und das einzige Beweisstück liegt in einer Urne“, folgerte Elmar Sykora am Ende der Ausführungen mit beinahe fröhlichem Ton und goss sich dabei Tee nach.

„Ein Gehirnakrobat“, murmelte Kubicek.

Orsini verzog gequält den Mund.

Elvira Zobl blickte von der Mappe hoch, in der sie geblättert hatte. „Am Tatort, oder besser am Fundort“, sie sah Kubicek kurz an, „war es der Kollege Gottschlich, der die Sache als Selbstmord eingestuft hat. Sehe ich das richtig?“

„Steht so im Protokoll“, antwortete Orsini.

„... ein ziemlich blutleerer Selbstmord, was die Fläche rund um die Leiche angeht.“

„Genau.“

„Keine sehr genaue Ermittlung in dem Fall ...“

„... war ja nur eine Drogensüchtige.“

„Du glaubst also, dass es weitergehen wird?“

Orsini nickte. „Ich befürchte es zumindest.“

„Ist das nicht voreilig?“, wandte Kubicek ein und rollte samt Stuhl zu Elvira Zobl, um sich die Akte anzusehen.

„Von wie vielen in Wiener Parks mit einer Glasscherbe begangenen Gewaltdelikten hast du bis jetzt gehört?“, antwortete Wilasich, der ansonsten noch kein Wort gesprochen hatte.

Kubicek zuckte mit den Schultern und riss die Hände in die Höhe. „Das muss nichts heißen. Diese ...“, er blätterte im Akt, „Margarete Bauer kann sich ja trotzdem umgebracht haben, und das Blut ist versickert.“

Zobl verdrehte die Augen und blickte seufzend zu Wilasich.

„Er hat nicht ganz unrecht“, wandte Orsini ein. Dass Kubicek zeitweise unerträglich war, änderte nichts an der Tatsache, dass er zumindest hin und wieder ins Schwarze traf. „Solange wir keinen gesicherten Beweis für einen Mord an der Drogensüchtigen haben, müssen wir beide Möglichkeiten in Betracht ziehen.“

„Und diese Attacken vor ...“, hakte Elvira Zobl nach.

„... zehn Jahren“, ergänzte Orsini, „könnten theoretisch damit zusammenhängen.“

„Aber nach so vielen Jahren, das ist doch mehr als ungewöhnlich!“, gab sie zu bedenken.

„Mir ist völlig klar, dass wir es mit Konjunktiven zu tun haben, aber mehr kann ich euch leider nicht anbieten. Ich will nur, dass jeder Einzelne von euch diese Hinweise ernst nimmt.“ Orsini blickte in die Runde. „Was die weitere Vorgangsweise angeht, konzentrieren wir uns natürlich auf den aktuellen Fall. Elvira, du überprüfst die Angaben Hausners – vor allem, ob er beweisen kann, dass er tatsächlich die ganze Nacht in der Firma war – und sprichst noch einmal mit der Zeugin. Vielleicht fällt ihr ja noch etwas ein. Viktor und ich übernehmen die Häuser rund um die Fundstelle und die Karibik. Es gibt zumindest eine installierte Videokamera.“

Elmar Sykora rührte indessen zufrieden in seiner Teetasse um, denn nun blieb nur mehr der Innendienst über.

„Kurt, du übernimmst die Koordination mit der Tatortgruppe, sie sollen das Auto und gleich danach die Wohnung der Hausners untersuchen. Die müssen dort möglichst bald anfangen!“ Orsini sah Wilasich mit vielsagendem Blick an. „Am besten, du rufst direkt den Lehner an ...“

Wilasich nickte.

„Außerdem müssen alle Dienststellen informiert werden, die in ihrem Gebiet einen Park haben, dass sie ...“

„... unauffällig öfter Runden gehen sollen“, ergänzte Wilasich, „was aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein kann ...“

Orsini zuckte die Achseln. „Elmar, du widmest dich der Rufdatenermittlung. Wir müssen wissen, ob Hausner tatsächlich sein Handy zu Hause hat liegen lassen, und vor allem, ob seine Frau mit ihm telefoniert hat.“

„Warum ist das wichtig?“, fragte Sykora.

„Weil ich das Gefühl habe, dass er uns in dem Punkt belogen hat.“

„In Ordnung.“

„Außerdem unterstützt du Kurt.“

Sykora verzog das Gesicht.

„Dafür musst du nicht raus“, konnte Orsini sich einen kleinen Seitenhieb – besonders angesichts des strahlenden Sonnenscheins – nicht verkneifen.

*

Obwohl es in der Nacht geregnet hatte, war die Luft im Vortragssaal der Sicherheitsakademie warm und beinahe unerträglich stickig. Dennoch waren alle 32 Augenpaare aufmerksam auf den Vortragenden gerichtet. Diesmal hatte Paula Kisch kein Buch unter der Bank. Eine halbe Stunde lang hatten sie nun schon Fotos von zerstückelten Leichen und bei lebendigem Leib aufgebohrten menschlichen Köpfen studiert. Einigen der Kollegen sah man das auch an. Denjenigen, die sich noch am Vortag über das Thema lustig gemacht hatten, blieben die Späße nun beim Anblick der brutal geschändeten Körper im Hals stecken.

Den ganzen Tag würden sie noch einem der bekanntesten Profiler Europas ungestört zuhören können oder müssen, je nachdem, wie man es sah. Dies war Teil ihrer kriminaldienstlichen Ausbildung. Paula jedenfalls fand ihn hochinteressant. Wenn er seine Augenbrauen bewegte oder die Augen zu ­schmalen Schlitzen zusammenkniff, wirkte er eher wie ein angriffslustiger schlauer Fuchs. Sie konnte sich gut vorstellen, dass Verbrecher ihm Respekt zollten. In seinem Vortrag war er nun bei den Biografien von Sexualverbrechern gelandet, betonte, dass sich diese besonders im Bezug auf die Kindheit erschreckend ähnelten, und spannte dann den Bogen locker mithilfe eines Zitats von Nietzsche hinüber zum Innenleben des erwachsenen Triebtäters. Er hatte so viel zu sagen und sah einen dabei so eindringlich an, dass man selbst beim Zuhören kaum in Ruhe Atem holen konnte.

Paula sah in die Runde und holte dann ihr Handy hervor. Sie hatte ein SMS bekommen. Um eins im G-Keller?, stand da.

Sie blickte zu ihrem Banknachbarn Armin Ennsner hinüber und nickte. Er war durchaus attraktiv, fand sie, sportlich, braun gebrannt und immer sehr hilfsbereit. Sie hatte ihm das Buch über die Entwicklung der Spurensicherung geborgt, er wiederum lieh ihr des Öfteren Mitschriften, wenn sie es zu den Vorträgen nicht schaffte. Das Thema DNA-Profiling hatte sie durchaus spannend gefunden, doch wie dieser erste Fall gezeigt hatte, ohne eine gute Vernehmungstechnik und vor allem ohne Kommissar Zufall wüsste man heute noch nicht, wer die 15-Jährige aus Enderby getötet hatte.

Kleines oder großes G?, sandte sie zurück, ohne beim Vortrag den Faden zu verlieren. Der Gmoa-Keller war berühmt für sein Gulasch, auch wenn die legendären Vorbesitzerinnen nicht mehr den Laden führten und nun ein modernes Schüttbild die hintere Wand des früher ziemlich versifften, aber ursprünglichen Beisls zierte. Allgemein wurde angenommen, es sei ein echter Nitsch, der tatsächliche Künstler hieß aber Wulf Bugatti. Paula war als Kind einige Male mit ihrem Onkel dort gewesen und hatte die mürrische Selbstverständlichkeit, mit der die beiden alten Damen ihr Publikum endlos hatten warten lassen, nie vergessen.

Der Profiler war mittlerweile bei einem seiner letzten Einsätze gelandet, einem Fall von internationaler Dimension. Er war offensichtlich stolz, zumindest ein Mal etwas verhindert zu haben, anstatt dem Verbrechen immer nur hinterherzuhecheln. Das konnte Paula nur allzu gut nachvollziehen. Eine Zeit lang hatte es sie durchaus mit Befriedigung erfüllt, hin und wieder Verbrecher einzulochen. Abgesehen davon, dass der Dienst als Streifenpolizistin größerenteils mit banalen Einsätzen, Wache schieben und Berichte schreiben zu tun hatte. In den letzten Jahren allerdings war sie der Sache zunehmend überdrüssig geworden.

Groß, lautete Armins Antwort, während der Profiler über die häufigste Todesursache bei Prostituierten referierte: An erster Stelle lagen Angriffe gegen den Hals, an zweiter Erstechen.

Paula lächelte. Armin Ennsner schien jedenfalls nicht der Appetit vergangen zu sein.

*

Direkt vor dem Beethovenplatz parkte Orsini ein. Ein Polizeiwagen stand mitten auf dem kleinen Platz. Beethoven starrte das Auto von oben herab an, als wollte er es am liebsten mit einem Fußtritt entfernen. Es war elf Uhr, und schon stach die Sonne herunter.

„Nicht einmal ein Fahrzeug mit funktionierender Klimaanlage können wir uns leisten“, nörgelte Kubicek und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann stieg er aus.

„Du siehst dich in den umliegenden Häusern um“, gab Orsini ihm Order, ohne auf ihn einzugehen.

„Das Gymnasium auch? Da ist in der Nacht sicher niemand ...“

Orsini bemerkte den unwilligen Ton. „Der Portier genügt“, erwiderte er und sah Kubicek nach, wie er auf den Eingang des Gymnasiums zuging. Dahinter büffelt die neue Elite, dachte er und musterte die neugierigen Gesichter hinter den Fensterscheiben. Er ließ seinen Blick über die Hauptfassade des im neogotischen Stil gehaltenen Backsteinbaues schweifen. In der Nacht hatte das Bauwerk etwas Bedrohliches, Abweisendes an sich gehabt, wie ein Mahnmal einer übermächtigen Gewalt. Bei Tageslicht war es einfach ein schönes, altes Gebäude.

Weit oben reihten sich die Wappen der Kronländer der österreichisch-ungarischen Monarchie aneinander. Unten im Park – Orsini inspizierte den Boden – war von kaiserlich-königlich keine Rede. Es hätte der jungen Elite gar nicht geschadet, wenn sie hin und wieder dazu verdonnert würde, den Müll, den vermutlich sie in ihren Pausen dort hinterließ, auch wieder zu entfernen, dachte er, ging die Treppe zur gläsernen Portierkabine der Tiefgarage hinunter und öffnete die Tür.

Der Raum war keine fünf Quadratmeter groß. An einer grauen Schrankwand klebte ein Schwarzweißausdruck einer Büste Beethovens mit dem Logo des Parkhauses darunter. Aus den Lautsprechern eines zur Einrichtung passenden tragbaren CD-Players dröhnte klassische Musik. Der Herrscher der Kabine war ein etwa 50-jähriger rundlicher Mann. Er war frisch rasiert, trug ein violettes T-Shirt zu dunkelblauer Hose und schien schwer beschäftigt mit der Lektüre einer Zeitschrift. Auf der Nase thronte eine Lesebrille, vorne im Ausschnitt des Shirts steckten noch weitere Brillen, deren Verwendung angesichts des weitläufigen Arbeitsplatzes bestimmt unheimlich wichtig war.

Nachdem Orsini sich vorgestellt hatte, unterbrach der Parkhauswärter hastig die Lösung seines Kreuzworträtsels, erhob sich und streckte ihm die Hand hin. „Krischanitz der Name, immer zu Diensten, Herr Kommissar!“

Ein bisschen k. u. k., schmunzelte Orsini. „Könnten Sie den leiser drehen?“, fragte er mit Blick auf den CD-Player.

„Aber sicher! Tschuldigung!“ Der Wächter schob sich die Lesebrille auf die Stirn und deutete auf einen kleinen Monitor. „Bin vollstens im Bild“, fuhr er fort und setzte sich eine andere Brille auf.

„Genau, deswegen bin ich hier. Wie viele Kameras sind denn installiert?“

„Außen nur eine – Sparmaßnahmen, leider. Innen sind’s drei, in jedem Stock eine.“

„Gut, dann zeigen Sie mir die Aufzeichnung von der Außenkamera.“

„Natürlich, sofort, Herr Kommissar!“

„Bei uns heißt das Inspektor“, erwiderte Orsini gutmütig und stellte sich schräg hinter Krischanitz’ Sessel, um den Bildschirm zu sehen. „Wie lange wird denn gespeichert?“

„Immer 24 Stunden, Herr Inspektor! Danach wird glöscht.“

„Okay, also dann auf 22 Uhr, wenn’s geht!“

„22 Uhr, bitteschön: Und Start!“ Offensichtlich gefiel es ihm, einmal etwas anderes zu tun, als Parkhausmieten zu kassieren. Während nun auf dem Monitor ein Bild erschien, das den Ausgang und ein Stück des Beethovenplatzes Richtung Lothringerstraße zeigte, fragte Orsini: „Wie lang haben Sie denn gestern Dienst gehabt?“

„Bis 18 Uhr, Herr Inspektor.“

„Und, ist Ihnen etwas Außergewöhnliches aufgefallen?“

„Leider ...“ Krischanitz schüttelte den Kopf und starrte mit ernsthafter Miene auf den Bildschirm.

Um 22 Uhr war der Asphalt noch trocken gewesen, sah Orsini. Nur die sich leicht hin und her bewegenden Blätter an den Bäumen ließen erkennen, dass es sich nicht um ein Standbild handelte. Eine ganze Weile tat sich kaum etwas. Beethoven hatte sich keinen besonders belebten Platz für die Ewigkeit ausgesucht. Hin und wieder sah man einzelne Personen oder Autos im Bild. Rasch teilte er den Wächter dazu ein, alle Zeitpunkte genau zu notieren und dazwischen auf schnellen Vorlauf zu schalten. Jedes Mal, wenn er zwischen Bildschirm und Notizzettel wechselte, wechselte er auch die Brille. Vor lauter Konzentration streckte er die Zunge zwischen den Lippen hervor, einem blau-violetten Frosch gleich, der auf die nächste ahnungslose Fliege wartete.

„Jetzt beginnt das Gewitter“, stellte Orsini endlich fest, „Uhrzeit?“

„Null Uhr, 18 Minuten.“

Durch die Zweige fuhr plötzlich ein heftiger Windstoß. Längliche, helle Schlieren durchzogen das Monitorbild.

Bedächtig kritzelte Krischanitz die Uhrzeit auf den Block. „Soll i eigentlich auch Spalten und Linien machen?“

„Ausgezeichnete Idee“, antwortete Orsini und konzentrierte sich wieder auf den Bildschirm. Es kam ihm vor wie ein Experimentalfilm: Verschwommene Gestalten bewegten sich durchs Bild, die Äste des Baumes bogen sich wild im Wind, Zweige brachen entzwei und flogen durch die Luft, Blitze erhellten den Platz. Je mehr Wasser auf die Kamera prasselte, desto weniger real wurde die Szenerie. Dennoch konnte man schließlich eine größere Aktivität erkennen. Menschen liefen über den Platz, genauso wie es die Zeugin beschrieben hatte. Dass Dorothea Hausner zu dem Zeitpunkt gerade um ihr Leben kämpfte oder aber die Tortur schon hinter sich hatte, blieb im Verborgenen.

„Verflixt!“, rief Krischanitz.

„Was ist?“

„Der Stift is abbrochn“, antwortete er und kramte rasch nach einem neuen.

„Wenn wir Glück haben, ist einer von denen der Mörder“, murmelte Orsini, ohne es zu glauben.

„Super, und des mir!“, redete der Wächter aufgeregt ­weiter. Offensichtlich hatte ihn das Jagdfieber gepackt. „Wir kriagn diese Ausgeburt schon ...“

„Da!“, rief Orsini plötzlich. „Das könnte sie sein.“

„Wer?“

„Die Zeugin, die die Leiche gefunden hat.“

Der Wächter starrte ungläubig auf den Monitor. „Und?“

„Unsere Spezialisten werden versuchen, die Aufnahmen schärfer hinzukriegen. Durchaus möglich, dass wir noch etwas Brauchbares finden.“

„Ah so ...“, meinte Krischanitz enttäuscht, „i hab ma dacht, wir machn den jetzt gleich ausfindig.“ Er lehnte sich in seinen Sessel zurück. Die Beute war entwischt.

„Na ja“, überlegte Orsini. Er sah eine Gelegenheit, wo sie sich ihm bot. „Wenn Sie Zeit hätten, könnten Sie für uns arbeiten“, sagte er.

„Ja?“ Krischanitz beugte sich interessiert wieder vor. „Gern. Aber wie?“

„Sehen Sie sich die Innenaufnahmen durch. Sie kennen doch bestimmt die Leute, die hier öfter parken.“

Krischanitz nickte.

Orsini reichte dem Wächter seine Visitenkarte. „Wenn Ihnen was ungewöhnlich vorkommt, rufen Sie mich unter dieser Nummer an, egal ob bei Tag oder Nacht.“

„Gruppenleiter KD1“, las der Wächter sichtlich beeindruckt vor. „Was bedeutn das, KD1?“

„Nichts Wichtiges, und ...“, Orsini hob seine Augenbrauen, „wenn notwendig, sehen Sie sich die Videos drei oder vier Mal an – ich zähle auf Sie!“

„Na Ehrnwort!“, erwiderte Krischanitz und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

Orsini lächelte still in sich hinein und bat dann noch um eine Kopie der Aufnahmen. Beim Gehen fragte er: „Wie viele Brillen haben Sie eigentlich?“

„Insgesamt oder nur hier in der Arbeit?“

„Vergessen Sie’s ...“, antwortete Orsini und trabte die Stufen hoch.

*

Oben sah er um sich. Eigentlich war der Platz im kollektiven Bewusstsein kaum vorhanden, denn wie so viele andere hatte er sein Innerstes einer Garage opfern müssen. Indem man ihm die Eingeweide entfernt hatte, um ihn den vermeintlichen Bedürfnissen der heutigen Zeit anzupassen, hatte man ihm auch seine Seele geraubt. Zufahrt, Stiegenaufgänge und Entlüftungskanäle – kläglich versteckt hinter Gebüsch und Strauchwerk – trugen das Ihrige dazu bei. Beethovens Blick konnte man so gesehen auch als angewidert deuten.

Allerdings hatte der Platz nicht immer so ausgesehen. Die meisten Bewohner dachten wohl nur selten darüber nach, wie sehr sich ihre Stadt in den letzten 150 Jahren verändert hatte. Bevor Beethoven Stellung bezogen hatte, war hier Grünland vor den Toren der Stadt gewesen, durch das sich der Wienfluss durchgeschlängelt hatte, was zumindest auf alten Bildern ziemlich malerisch aussah. Und eine Zeit lang hatte es hier auch einen Ofen zur Vertilgung von Staats Papieren gegeben. Jetzt war es eben eine von vielen behübschten, aber öden Ecken in einer modernen Großstadt. Und wie in allen Städten gab es Menschen, die anderen das Leben nahmen. Wie früher auch.

Am Ausgang der Tiefgarage, bei dem die Kamera montiert war, klebte ein Plakat mit der Aufschrift Polizei überall, Gerechtigkeit nirgends! In gewissem Sinn musste Orsini den Anarcho-Künstlern, die sich auf dem Plakat auch noch zeichnerisch verwirklicht hatten, sogar recht geben, zumindest bei letzterem. Ein anderes Plakat, das an einer Litfaßsäule klebte, stach ihm ins Auge. Werbung für die nächste Erotikmesse. Produkte wie zarte Dessous und strenges Leder sowie Vorführungen internationaler Topmodels. Prüfend glitt Orsinis Blick daran vorbei und blieb an der dahinterliegenden Fassade des Konzerthauses hängen. Auch dort waren in einer Glasvitrine Plakate affichiert, die er aber aus dieser Entfernung nicht lesen konnte. Kamera war keine auszumachen. Er versuchte sich vorzustellen, was genau am gestrigen Abend hier geschehen war. Warum ausgerechnet hier, fragte er sich.

Eine Hand legte sich ihm auf die Schulter. Orsini fuhr zusammen und drehte sich um.

„He, siehst du Geister?“

„Was?“

„Ob du Geister siehst? Hab von dort drüben nach dir gerufen.“

„Ja?“, antwortete Orsini in Gedanken.

„Fahren wir nicht zur Wohnung des Opfers?“, fragte Kubicek.

Orsini deutete Richtung Heumarkt. „Zuerst probieren wir’s noch dort drüben.“

Sand in the City stand in großen Buchstaben auf einer aufgeblasenen knallgelben Kunststoffinsel. Eine eingeknickte Palme ließ ihre grünen Wedel traurig in den feuchten Sand hängen.

„Dort wär i jetzt auch gern ..., ich mein, im echten Paradies. Strand, Sonne, Rum und Weiber“, stellte Kubicek grinsend fest. Dabei zeigte er seine blütenweißen falschen Zähne.

Orsini ging voran, ohne darauf Antwort zu geben.

„Na, hawedere! Wie schaut’s denn da aus?“

Der Sturm hatte Sonnenschirme zerfetzt und Liegen in ihre Einzelteile zerlegt. Auch die bunte Hüpfburg für die Little Pirates sah ramponiert aus. An einigen Stellen hatte der sintflutartige nächtliche Regen im Sand kleine mäandernde Bäche gebildet, deren Form Orsini an die zerronnene Schminke im Gesicht der ermordeten Gärtnerin erinnerte. Zwei mit Rechen bewaffnete Männer waren dabei, wieder Ordnung ins Paradies zu bringen.

„Wann sperren die auf?“, fragte Orsini einen der beiden und deutete auf die Hütten, die allesamt noch verschlossen waren.

„Erst am Nachmittag“, erwiderte dieser und wischte sich den Schweiß mit einem Tuch aus dem Nacken.

Orsini hob einen einsam herumliegenden Volleyball auf. Warum kam er nie dazu, hier nachmittags zu relaxen? Bevor er aber weiter darüber lamentieren konnte, ertönte Cantaloupe Island. „Ja?“, fragte er und kickte den Ball aufs Spielfeld.

„Keine Abwehrspuren unter den Fingernägeln“, sagte Wilasich ohne Einleitung. „Und an den Kleidern auch nichts Außergewöhnliches: Staub, nasse Erde, zwei kleine Styroporkugeln an der Unterseite des Kleides ...“

„Na, das hilft uns unglaublich weiter ...“, ätzte Orsini. Ebenso wie Staub war Styropor etwas, das sich – vom Winde verweht – nahezu überall fand. „Und das Blut im Erdreich?“

„Das dauert.“

„Geht das nicht schneller?“

„Sind genauso unterbesetzt wie wir. Hab grad mit Lehner telefoniert.“

„Und der Chef von Sand in the City?“

„Ist erst ab 14 Uhr erreichbar ...“

Orsini verdrehte die Augen. „Wissen wir schon, wo genau die Hausner gearbeitet hat?“

„Ja, deswegen ruf ich dich an. Ihr braucht praktisch nur um die Ecke zu gehen.“

*

Die große Villa strahlte schon von Weitem Eleganz und Gediegenheit aus. Efeu rankte sich an hölzernen Spalieren empor. Den Balkon zierten tiefrot blühende Blumen. Dahinter sah man die hohen Fenster eines Wintergartens.

„Nobel“, murrte Kubicek abschätzig.

Orsini seufzte und schob das Gartentor, das zum Eingang der Stadtgartendirektion führte, auf. Warum nur hatte er Kubicek überhaupt mitgenommen?

Auf dem kleinen Parkplatz hinter der Jugendstilvilla waren einige Autos geparkt. Eine separierte Stellfläche hatte sogar ein Dach.

„Da parkt sicher der Chef“, meinte Kubicek launisch und folgte Orsini ins Innere.

„Wir möchten den Leiter des Amts sprechen“, sagte Orsini zur Dame beim Empfang, deren Reich eine kleine Ecke im Erdgeschoß umfasste.

Freundlich wies sie auf die Treppe. „Der Herr Direktor hat sein Büro oben. Wen darf ich melden?“

„Uns“, entgegnete Kubicek angriffslustig.

„Ein Verbrechen“, ergänzte Orsini, zeigte seine Dienstmarke, erklärte: „Kriminalpolizei“, und war bereits auf dem Weg hinauf.

Der Empfangsdame blieb für einen Moment der Mund offen stehen. „Warten Sie, meine Herren, Sie können nicht so ohne Weiteres ...!“

Orsini und Kubicek waren jedoch schon oben angelangt.

Stadtgartendirektor Ing. Gerhard Weber prangte auf einem polierten Messingschildchen an einer Tür im ersten Stock. Abrupt blieb Orsini davor stehen, sodass Kubicek auf ihn prallte. „Du sagst jetzt da drinnen kein Wort, verstanden!?“, herrschte er ihn an.

Kubicek zuckte zurück.

„Ob du das verstanden hast!?“ Orsini schob sein Gesicht knapp vor Kubiceks Nase.

„Ja“, drückte Kubicek kleinlaut zwischen seinem allzu regelmäßigen ungarischen Porzellan hervor.

Orsini klopfte und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten. „Guten Tag“, sagte er schlicht, nickte den beiden Sekretärinnen zu und marschierte an ihnen vorbei auf die einzige weitere Tür zu. Gedämpfte Musik drang aus dem Raum. „Ich nehme an, hier geht’s zum Direktor?“, fragte er pro forma.

„Ja, aber wer ...?“

Orsini hielt ihnen nur kurz seine Marke hin und öffnete die Tür.

Vor ihnen, an einem großen Schreibtisch, saß ein Mann mittleren Alters, den Kopf in die Hände gelegt. Er entsprach nicht so ganz dem, was Orsini sich unter einem Direktor vorstellte. Zwar trug er den obligaten Anzug, das Hemd darunter war aber schon etwas zerknautscht und steckte auch nur ansatzweise in der Hose. Für einen Drei-Tages-Bart und unordentliches Haar hatte Orsini an und für sich volles Verständnis, inmitten der gediegenen Einrichtung wirkte der Stadtgartendirektor damit aber ein wenig wie eine Fehlbesetzung.

„Was ist denn!“, bellte der offensichtlich in seiner Ruhe Gestörte unwirsch und nahm die Fingerspitzen von den Schläfen. Entweder hatte er geschlafen oder sich auf die Musik konzentriert. Rasch versuchte er, zumindest die seitlichen krausen Locken hinter die Ohren zu zwingen, und sah hoch.

Das Telefon läutete.

„Wollen Sie nicht abheben?“, fragte Orsini.

„Wer sind Sie!?“, fragte der Stadtgartendirektor empört und erhob sich.

„Kriminalpolizei.“

„Und ...!? Ich versteh nicht, wer hat Sie reingelassen?“

„Wir haben den Weg selber gefunden“, entgegnete Orsini.

Eine der beiden Sekretärinnen versuchte indessen, sich an ihnen vorbeizuzwängen, und meinte: „Entschuldigung, Herr Direktor! Die Herren haben sich ...“

„Ist schon recht ...“, beruhigte Stadtgartendirektor Weber sie und schob sie aus dem Zimmer. „Und was verschafft mir die ... Ehre?“ Er stand auf, ging zum Wandschrank und drehte die Musik leiser. Dann musterte er Orsini quer durchs Zimmer.

Orsini musterte ihn ebenso. „Wir werden Ihre Zeit auch nicht lange in Anspruch nehmen“, sagte er kühl. „Es geht ...“

„Das darf ich doch hoffen“, fuhr ihm Weber ins Wort und kehrte zu seinem Schreibtisch zurück. Mit einer gebieterischen Handbewegung wies er ihn an, sich ebenfalls zu setzen.

Orsini bereute insgeheim, dass er Kubicek verboten hatte, den Mund zu öffnen. „Es geht“, fuhr er fort, „um eine Ihrer Gärtnerinnen.“

„Hat doch hoffentlich nichts Schlimmes angestellt?“

„Im Gegenteil. Sie ist Opfer eines Verbrechens geworden.“

„Was?! Was für ein Verbrechen? Und überhaupt, wer?“ Mit einer überlangen Geste richtete Weber seine Krawatte, schob den Knoten ein paarmal nach links und rechts und zog die Schultern nach hinten.

„Dorothea Hausner.“

Webers Augenlider zuckten kaum merklich. Besorgnis legte sich über sein Gesicht. „Doro..., Dorothea?!“, wiederholte er. „Ist ihr was zugestoßen? Ein Unfall?“

„Sie kennen sie näher?“

„Näher? Nein, ... wie man halt eine Angestellte kennt. Aber so sagen Sie doch! Was ist mit ihr?“

„Sie ist heute Nacht ermordet worden.“

„Ermordet? Heute Nacht?“

„Ja.“

„Das, das gibt’s doch nicht!“ Zum zweiten Mal erhob Weber sich. Diesmal jedoch hatte es nichts mit Rangordnungsgeplänkel zu tun. Vielmehr schien er um seine Fassung zu ringen. Eine Weile sagte er nichts, dann fragte er leise: „Wo?“

„Am Beethovenplatz.“

„Am Beethovenplatz? Das ist ja ... gleich um die Ecke. Aber wie ... und warum?“

„Das Warum versuchen wir herauszufinden. Jedenfalls ist sie verblutet.“

„Aber das ist doch ...! Gestern hab ich sie noch gesehen!“ Weber sank in seinen Sessel zurück.

Orsini wartete einen Moment. „Wann genau war das?“

„Was?“

„Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?“

„Warten Sie, das muss ... so zwischen drei und vier gewesen sein.“

„Zwischen drei und vier. Später nicht mehr?“

Der Stadtgartendirektor überlegte einen Augenblick. Einen Augenblick zu lang, fand Orsini. „Nein. Um vier Uhr war ich wieder hier.“

„Haben Sie auch mit ihr gesprochen?“

„Moment. Ist das jetzt ein Verhör?“

„Nein, natürlich nicht“, wich Orsini aus. „Wir versuchen nur möglichst genau, ihre letzten Stunden zu rekonstruieren. Ist Ihnen vielleicht irgendetwas Ungewöhnliches an ihr aufgefallen?“

„Was meinen Sie damit?“

„Wirkte sie verändert? In letzter Zeit, oder gestern konkret – haben Sie mitbekommen, ob sie vielleicht Probleme hatte?“

„Was denn für Probleme?“

„Eheprobleme zum Beispiel.“

Weber sah Orsini kurz an und ging dann zum Wandschrank. Ein neues Musikstück hatte gerade begonnen, Streicher arbeiteten sich kreisend in aufgeregte Höhen. Mit spitzen Fingern drehte Weber den Lautstärkeregler nach rechts. „Eheprobleme“, wiederholte er gedehnt, „ja, die gab es schon länger.“

„Genaueres ...?“

„Kann ich Ihnen leider nicht sagen. So gut kenn ich meine Angestellten auch wieder nicht.“ Weber hüstelte in seine Faust und sah demonstrativ auf die Uhr. „Wir haben gestern ja auch grad einmal ein paar Worte gewechselt. Aber ihre Kolleginnen, die könnten Ihnen da vielleicht besser Auskunft geben“, meinte er dann und sah beim Fenster hinaus. „Um 15 Uhr finden Sie sie alle bei den Garderoben. Sie müssen schon entschuldigen, ich hab gleich einen Termin in der Stadt.“ Webers anfängliche Arroganz schien verflogen. Plötzlich trat er meisterhaft verbindlich auf. „Sie sollen Ihnen alles zeigen, und wenn Sie noch Fragen haben, kommen Sie nur zu mir! Ach ja, ich sage meiner Sekretärin, dass sie Ihnen die Personalakte von der Hausner raussucht“, erklärte er, trat zur Tür und öffnete sie demonstrativ.

Wieso nur hatte er das Gefühl, dass der dringliche Termin in der Stadt soeben erst Form angenommen hatte, dachte Orsini. Es gab mehr Arten, sich bedeckt zu halten, als der Stadtpark Bäume hatte. Dies war eine der eleganteren Versionen.

„Gerne“, entgegnete Orsini, der das Spiel ebenfalls beherrschte, „kommen wir wieder!“

*

Franz Hausner starrte aus dem Küchenfenster auf die gegenüberliegende Häuserfront.

„Kann ich mir noch eins nehmen?“, fragte der junge Polizist.

Hausner drehte den Kopf von den Häusern weg, hin zu dem Milchgesicht in Uniform, das ihn vom Kriminalamt wieder hierher in seine Wohnung gebracht hatte. Er empfand ihn als Eindringling, gegen den er aber vorläufig nichts machen konnte. Der seine Idylle – oder was davon übrig geblieben war – störte. In seiner Abwesenheit war offensichtlich die Spurensicherung über seine Wohnung hergefallen wie ein Schwarm Heuschrecken. Gefunden hatten sie nichts.

„Was?“

„Ob ich darf?“ Der junge Mann zeigte auf die weiße, mit blau-türkisen Schnörkseln verzierte längliche Schüssel mit den Keksen.

Hausner nickte abwesend. Die Schüssel war ein Urlaubsmitbringsel aus Umbrien. An den Namen des Dorfes konnte er sich nicht mehr erinnern, an die Fahrt dorthin schon. Die flirrende Hitze hatte über dem weiten Land gelegen und der Vegetation das letzte bisschen Luftfeuchtigkeit entzogen. Er starrte auf die Schüssel und die flachen mehligen Dinger darin. Jedes davon hatte einen Rand mit insgesamt 52 Kerben. 15 an der Längs- und elf an der Breitseite. Die ebenfalls 15 kleinen Löcher an der Oberseite jedes Keks schienen ihm mit einem Mal wie boshafte punktförmige Augen, die zurückstarrten. Unwillkürlich zählte er sie ab, als könne er sie im Zaum halten, solange sie nur nicht ihre Zahl veränderten.

Die bröseligen Kekse waren die Lieblingssorte seiner Frau gewesen und daher waren sie auch immer in der Schüssel gelegen. Üblicherweise stand die Schüssel auf der Küchenkredenz: immer an der gleichen Stelle, zwischen dem Salzstreuer und der uralten Küchenwaage. Das Spezielle an ihr war der Griff. Ein umbrischer Künstler hatte sich besondere Mühe gegeben, ein originelles Stück zu erschaffen. Der Griff hatte die Form einer Banane und stand auf einer Seite von der Schüssel ab. Weder besonders originell noch praktisch, fand Hausner.

Lachend hatte sie ihren Kopf in den Nacken geworfen und auf diese Schüssel gedeutet. Sie hatte noch um den Preis gefeilscht und sie schließlich erstanden. Erst eine Weile später, in einem kleinen verdreckten Zimmer, in das sie sich auf eine Stunde eingemietet hatten, hatte er verstanden, warum sie gerade diese Schüssel ausgewählt hatte. Er erinnerte sich an den engen Raum, in dem die Hitze so unbeweglich stand wie in einem Backofen. Das schmierige Bettlaken, der schäbige Läufer und der Sessel mit der bereitgestellten Küchenrolle. All das hatte ihm nichts ausgemacht, im Gegenteil, es war Teil des Abenteuers gewesen. Hauptsache, er hatte sie.

Egal wo. Egal wann. Egal wie.

Für das Wie war sie zuständig gewesen. Deswegen hätte er damals sein Leben für sie gegeben. Es war nicht ihr einladender Busen, mit dem sie alle Blicke auf sich zu ziehen verstand, oder ihr Hintern. Auch nicht die auffällige Art, wie sie sich schminkte oder ihr Haar rot färbte. Sie war die erste Frau, die Abwechslung in seinen ewig gleichen Trott brachte. Und sie war die erste Frau, die ihm die Augen dabei verband.

Er würde die Schüssel behalten, dachte er.

Der Polizist räusperte sich, trank einen Schluck Kaffee und biss knackend vom Keks ab. Hausner registrierte ihn kaum. Es hatte immer zwei Packungen gegeben, erinnerte er sich. Eine geöffnete und eine in Reserve. Wie oft hatte er sie in den letzten Jahren wohl für sie geholt? Vielmehr holen müssen. So wie er vieles andere auch für sie hatte tun müssen, dachte er bitter. Damit war nun Schluss. Plötzlich überkam ihn eine Welle der Übelkeit. Er stürzte aus dem Zimmer ins WC und übergab sich. Wenige Minuten später stand er wieder in der Küche und starrte hinaus.

Als er nach dem Verhör heimgekommen war, hatte er nach der Schachtel gegriffen, um sie wegzuwerfen, es aber nicht geschafft. Es war, als hätte sie noch über den Tod hinaus das Anrecht auf die elendiglichen Kekse! Doch nun fand die Packung ihren letzten Weg eben auf natürliche Weise. Er schob dem jungen Polizisten den Rest der Kekse hin. So, dass der Bananengriff direkt auf die Uniform zeigte. Sollte der doch alle aufessen. Ihm hatten sie sowieso nie geschmeckt. Zu trocken.

Das Handy des jungen Polizisten läutete.

„In 20 Minuten, also um halb drei?“, fragte er ins Telefon.

Franz Hausner beobachtete, wie die Hand des Polizisten die Banane umschloss und die Schüssel zu sich zog.

„Dauert noch“, gab das Milchgesicht dann ihm gegenüber mit einer entschuldigenden Bewegung der Schultern zu verstehen.

Hausner schloss die Augen und war wieder in dem schäbigen Zimmer in Umbrien. „Franz, nimm endlich die Schüssel, stell sie dir auf den Bauch und halt sie mit beiden Händen“, hörte er Dorothea sagen. Mit aller Kraft hatte er also die Schüssel gehalten, während sie auf ihn kletterte. Dabei riss sie sich die Kleider vom Leib, nahm ihn mit ihren Oberschenkeln in die Zange, führte sich den Griff vorsichtig ein und wand sich mit kreisenden Bewegungen ihres Beckens um ihn herum. Rhythmisch und immer wuchtiger, bis sie kam.

Ein leises „Krck“ holte Franz Hausner wieder in die kleine Küche zurück. Das Milchgesicht hatte gerade zugebissen, nahm nun das letzte Keks aus der Schüssel und hielt es mit fragendem Blick in die Höhe. Er nickte matt. Als nächstes würde er ihre Kleider weggeben.

„Sie sind aufgehalten worden“, entschuldigte sich der junge Polizist noch einmal.

„20 Minuten“, wiederholte Hausner und stand auf. Ohne den Bananengriff zu berühren, nahm er die Schüssel in die Hand und ging damit zum Abfallkübel. Nicht einmal Brösel sollten von ihr übrig bleiben.

*

Orsini stellte den Wagen mit den beiden linken Reifen auf dem Gehsteig in der Zeleborgasse ab. Die Stoßstange des Autos berührte beinahe die alte Litfaßsäule vor ihnen.

„Super eingeparkt“, bemerkte Kubicek und schob die amtlich bestätigte Parkerlaubnis auf die Ablagefläche unter der Windschutzscheibe.

„Nette Gegend, hässlicher Zweckbau“, bemerkte Orsini, als sie über die breite Fußgängerzone der Meidlinger Hauptstraße auf das Haus zugingen.

„Warum, was meinst du?“, fragte Kubicek verwundert und blickte die Fassade entlang nach oben. Es war ein unscheinbares, vierstöckiges Haus. Die altersgraue Fassade war in der Mitte durch ein Mosaik aufgelockert, das zwei muskulöse Arbeiter zeigte. Im ersten Stock saßen zwei rosa Stoffraben in einem Fenster. Kubicek drückte die Klingel. Orsini aber öffnete gleichzeitig mit dem Generalschlüssel die Haustür, ohne auf das Summen des Türöffners zu warten, und beschloss, zu Fuß zu gehen. Mit Kubicek in einer engen Kabine zu stehen, hätte er in dem Moment nicht ertragen.

Die Wohnungstür oben im dritten Stock stand offen.

„Hat länger gedauert“, sagte Orsini, trat ins enge Vorzimmer und sah um sich.

„Was suchen Sie eigentlich noch?“, wollte Franz Hausner wissen. „Ihre Kollegen waren doch sowieso schon den ganzen Vormittag da! Ich hätte gerne irgendwann meine Ruhe!“

„Alles Mögliche“, antwortete Kubicek frech und drängte sich an Orsini vorbei. „Wo hat Ihre Frau ...?“

„Es tut mir leid, das ist reine Routine“, erklärte Orsini beschwichtigend.

Hausner seufzte. „Wir haben uns die Wohnung geteilt. Wie Sie sehen, ist sie nicht allzu groß. Vorraum, Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer. Mehr ist es nicht.“

„Verstehe. Aber sie hatte doch sicher ihren eigenen Bereich?“

„Der Tisch in ..., in unserem Schlafzimmer.“

„Ein Abschiedsbrief?“

Franz Hausner schüttelte stumm den Kopf.

„Na gut“, sagte Orsini, „am besten fangen wir im Wohnzimmer an.“

„Muss ich dabei sein?“, fragte Hausner.

„Nein, nicht unbedingt. Wenn wir Fragen haben, rufen wir Sie. Außerdem brauche ich noch Fotos, von Ihnen und Ihrer Frau.“

„Gut, ich schau einmal und warte dann in der Küche.“

Orsini folgte Kubicek ins Wohnzimmer. Es sah aus wie von einem Prospekt einer Billigmöbelkette ins Zimmer hineinkopiert.

„Nicht übel“, stellte Kubicek fest. „Ein Zebrafell dazu und es würd meinen Geschmack treffen.“

„Ein Zebrafell dazu und mir wird schlecht“, meinte Orsini und ging zum Wandregal. Dort zog er vorsichtig eine der vielen Schallplatten heraus, die sich darin ordentlich aneinanderreihten. Der Gefangenenchor aus Verdis Nabucco, las er und stellte sich für einen Augenblick Kubicek in der Gefangenenkluft der Opernsänger, vor allem aber hinter Gittern vor. Abgesehen davon gab es eine – relativ kurze – Reihe an Büchern, Zeitschriften und Nippes, das Sofa war von Pölsterchen und Plüschtieren bevölkert, an der Wand hingen nichtssagende billige Fotografien. Das Zimmer war aufgeräumt und ordentlich, alles hatte seinen Platz.

„Keine Glasscherben, keine Pornos. Im Schlafzimmer wird’s sicher interessanter“, grinste Kubicek und ging voran.

Orsini folgte ihm und fragte in die Küche hinein: „Das Handy Ihrer Frau ...?“

„Ja, was ist damit?“, antwortete Hausner und stand abrupt von seinem Sessel auf.

„Wo könnte es sein?“

„Keine Ahnung. Was gefunden?“, fügte er noch an, doch Orsini war bereits Richtung Schlafzimmer unterwegs, wo er beinahe mit Kubicek zusammenstieß.

„Na, nicht schlecht, ich scheiß mich an“, stieß Kubicek hervor.

„Noch nie was von erotischer Fantasie gehört?“, meinte Orsini und ging an seinem Kollegen vorbei. In Wahrheit aber war auch er beeindruckt – diese Einrichtung gab es so nicht bei Ikea zu kaufen. Es war weniger das auf goldenen Füßen stehende Bett mit den weißen Laken, sondern das Drumherum: Es bestand nämlich – mit Ausnahme eines zimmerfüllenden violetten Plüschteppichs – ausschließlich aus Spiegelflächen. Wände und Decken aus verspiegeltem Glas hatte Orsini schon gesehen. Dass aber auch die Fenster, die beiden Nachtkästchen, der Schrank und der Schreibtisch damit verkleidet waren, schien ihm doch ungewöhnlich. Sogar die Lampen glitzerten mit ihren mosaikartigen Glasteilchen.

„Solche Fantasien hätt ich auch gern“, antwortete Kubicek sichtlich beeindruckt. „Jetzt versteh ich, warum der lieber in der Küche geblieben ist.“

„Konzentrier dich auf die Arbeit.“

„Wenn das so einfach wär!“ Grinsend machte Kubicek sich daran, das erste Nachtkästchen zu öffnen. Enttäuscht schloss er es nach einer Weile wieder. „Na, wo haben wir denn unsere kleinen schweinischen Geheimnisse?“ Er redete mehr mit sich selbst und kroch dabei unter das Bett.

Orsini versuchte, die Schublade des kleinen Schreibtisches herauszuziehen, fand aber an der verspiegelten Platte keinen Griff. Dann fasste er die Lade von unten an der Kante und zog sie auf. Drei rote Schals, eine Menge Schminkzeug und zwei Notizhefte lagen darin. Eines der Hefte war noch verpackt. Er schnappte sich das andere und blätterte darin herum. Es war etwa bis zur Hälfte mit Datumsangaben und verschiedenen Abkürzungen beschrieben.

„Was steht da drin?“, wollte Kubicek wissen.

„Pflanzzeiten. Aussaat, Ernte und so weiter. Hast du was?“

„Noch nicht, aber wir kommen ja erst zum Hauptgang.“ Kubicek zog den bis an die Decke reichenden verspiegelten Wandschrank auf. „Deswegen bin ich Polizist geworden“, fuhr er fort und zog einen dunkelblauen, beinahe durchsichtigen BH aus einer Lade. „Kann mir gut vorstellen, wie die beiden gevögelt haben, dass es nur so gekracht hat.“

„Und gibt’s auch was von Interesse?“

Kubicek roch an einem Slip und fuhr ungebremst fort: „Ich sag’s dir: Die haben’s hier getrieben, und ich wette, die waren nicht immer allein.“

In Orsini stieg es sauer auf. „Das ist ja auch ein Schlafzimmer! Ich weiß nicht, was du in deinem Schlafzimmer machst, aber Sex ist an sich noch kein Verbrechen, egal zu wievielt!“, platzte es aus ihm heraus.

„Tschuldigung“, lenkte Kubicek ein, „aber passen tät’s schon irgendwie: Mord aus Eifersucht ...“

„Halt endlich den Mund!“, zischte Orsini ihn an. „Wenn du noch ein Wort sagst, warst du den letzten Tag in meiner Gruppe!“

Stille. Kubicek zog sich ins Badezimmer zurück, aus der Küche hörte man leises Sesselrücken. Orsini öffnete ein Fenster, sah ein paar Minuten lang auf die Straße hinab und wartete, bis sich das nervöse Kribbeln auf seiner Haut gelegt hatte. Vielleicht sollte er seine Drohung in die Tat umsetzen ... Allerdings war das Thema Eifersucht tatsächlich noch nicht vom Tisch. Er schloss das Fenster wieder, sah sein eigenes bartstoppeliges, müdes Gesicht im Spiegel, wandte sich erneut seiner Aufgabe zu und ging zum Wandschrank. Die Wäsche war gebügelt, ordentlich zusammengelegt und sorgsam in Fächern gestapelt. Abgesehen vom Spiegeltick deutete alles auf ein eher biederes, durchschnittliches Pärchen, das in einer aufgeräumten mittelmäßigen Wohnung lebte. Und selbst wenn das Erotische hier ausgefallenere Wege gegangen war – na und? Vor allem beschäftigte ihn die Frage nach dem Zusammenhang mit der Drogensüchtigen. Konnte Hausner sie gekannt haben? Wenn, dann doch eher Dorothea, dachte Orsini. Dass die Drogensüchtige sich auch im Stadtpark herumgetrieben hätte, war denkbar. Aber Hausner? Gedankenverloren tastete er zwischen den Wäschestücken herum, wohl wissend, dass es unwahrscheinlich war, hier etwas zu finden, was den Kollegen entgangen war. In der hintersten Ecke einer der Laden stieß er auf etwas Hartes, Rundes. Vorsichtig zog er daran, bis es zum Vorschein kam. Zwei Kugeln, die mit einer Schnur verbunden waren. Kurz spielte er Klick-Klack damit. Dann legte er alles zurück an seinen Platz und schloss den Schrank.

„Waren Sie oder Ihre Frau ... künstlerisch veranlagt?“, fragte Orsini wenig später, nachdem er in der Küche gegenüber Hausner Platz genommen hatte.

„Wie meinen Sie das, künstlerisch veranlagt?“

Orsini deutete Richtung Schlafzimmer. „Haben Sie vielleicht erotische Fotos gemacht, irgendetwas, wovon Sie uns erzählen wollen?“

„Das ...“

„Ja?“ Orsini wartete.

„Das war privat.“

„Selbstverständlich. Wie Sie Ihre privaten Räume gestalten und was Sie dort machen, ist uns im Grunde egal. Allerdings, wenn Sie oder Ihre Frau besondere Vorlieben hatten, Verbindungen zu speziellen Kreisen, das müssten Sie uns sagen – Sie verstehen, was ich meine?“

Hausner senkte seinen Blick. Er schien mit der Stille gut umgehen zu können.

Orsini erhob sich, sein Blick fiel auf eine Schüssel mit einem eigenartigen Griff. „Wenn Sie uns also etwas verschweigen, das zur Klärung der Sachlage beitragen könnte, würde das für Sie nicht gut aussehen!“, sagte er zum Abschluss. „Vielleicht fällt Ihnen ja noch etwas ein ... “ Er hielt Hausner die Hand hin und war über dessen weichen, laschen Händedruck überrascht. Wieder hatte er für einen winzigen Augenblick den Eindruck der Zweigeteiltheit, aus dem er nicht recht schlau wurde. Oben das störrische, verschlossene Gesicht, unten nichts als Schlaffheit.

*

Nun hatten die überdimensionalen Mehrzweckhundehütten, in denen bisher Maroni, Punsch, Silvesterkracher und Schokoosterhasen verkauft worden waren, auch noch eine sommerliche Verwendung gefunden, dachte Orsini und sah der jungen Frau in den äußerst knappen Shorts zu. Sie stand bei einem der niedrigen Tische und verteilte Getränke an Gäste, die entspannt in ihren Strandsesseln klotzten. Kubicek hatte er aufgetragen, am Beethovenplatz die fehlenden Aussagen der Anrainer einzuholen, die beiden Uniformierten schickte er auf Rundgang in die Strandszenerie, während er sich bei der ersten Hütte an die Theke lehnte. Für die Befragung der Gärtnerinnen war es ohnehin schon zu spät, das musste eben bis morgen warten. Er war müde. Was kein Wunder war, wenn man die knappe Stunde Halbschlaf auf seiner Couch im Büro bedachte. Außerdem – er spürte das Gewicht seiner Jacke, die er lässig über seine Schulter geworfen hatte – war er zu warm angezogen.

Die Ermittlung glich bereits jetzt einem von Motten zerfressenen unendlichen Teppich, stellte er resignierend fest. Kaum war eines der Löcher gestopft, hatten die flattrigen Biester schon zehn neue in die Wolle gefräst, während er mit dem Stopfen kaum nachkam und auch kein adäquates Insektenmittel zur Verfügung hatte. Wie die Motten hatten sich auch die Wohnungsnachbarn im Haus der Ermordeten auf den Gängen eingefunden. Die Nachricht von der Ermordung Dorothea Hausners hatte sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Auskunftsfreudig waren die Motten nur insofern gewesen, als dass der übliche Bassenatratsch erzählt wurde. Kubicek hatte von einem der Nachbarn erfahren, dass es hin und wieder Streit gegeben hatte, allerdings keine gröberen Auseinandersetzungen. Die beiden hatten offenbar ein zurückgezogenes Leben geführt, wurden als höflich und zuvorkommend beschrieben. Der wenige Kontakt zu den Mitbewohnern war überwiegend von der Ermordeten ausgegangen.

Orsini griff nach seinem Handy, noch bevor es seine Melodie fertig gespielt hatte.

„Er hat um genau 20 Uhr 57 seine Karte durchgezogen“, sagte Elvira Zobl am anderen Ende.

„Hat er den anderen Portier abgelöst?“

„Ja, das hat der bestätigt.“

„Und dann?“

„Angeblich befanden sich bereits ab 19 Uhr keine weiteren Angestellten mehr im Gebäude.“

„Das heißt, er hätte nach neun für ein paar Stunden verschwinden können?“

„So einfach ist das nicht. Er muss alle 90 Minuten einen Rundgang in dem Gebäude machen und seine Karte an bestimmten Orten in den Scanner stecken. Was theoretisch zwar auch jemand anderer für ihn hätte tun können – aber wer sollte das sein?“

„Gibt es Überwachungskameras?“

„Gibt es. Vom Eingang. Man sieht ihn abends kommen und morgens gehen.“

„Hmm. Wegen dem Handy von der Hausner – lass es anpeilen. Wir brauchen das Ding“, erwiderte Orsini und sah der Kellnerin zu, wie sie mit ihrem leeren Tablett zurückkam.

„Cantaloupe Island“, bemerkte die Kellnerin, nachdem Orsini sein Handy weggesteckt hatte.

„Sie interessieren sich für Jazz?“

„Nein“, gab sie zurück, „ist die einzige Jazznummer, die ich kenne. Reiner Zufall.“ Dass der Zufall genauso alt wie sie selbst war, Charly hieß und ihr WG-Mitbewohner war, verschwieg sie. „Wollen Sie einen Drink? Sie sehen so aus, als könnten Sie was brauchen.“

„Theoretisch gern – praktisch bräucht ich eher einen doppelten Schwarzen!“

„Kommt sofort.“ Mit einer schwungvollen Bewegung leerte sie den alten Kaffeesatz in den Müll, füllte den Filter mit frischem Kaffee und schob ihn an seinen Platz. Sie hatte ungewöhnlich hohe Wangenknochen, fand Orsini, was ihr gut stand. Ihr freundliches Lächeln war mehr oder weniger der erste Lichtblick seines Tages. Dabei war für die meisten hier schon Afterwork-Chilling angesagt.

„Wie heißen Sie?“

„Chantal, und Sie?“

„Conrad.“

„Conrad, sprach die Frau Mama, ich geh jetzt fort und du bleibst da“, deklamierte Chantal, während der Kaffee in die Tasse tropfte. „Sind Sie wegen der Frau hier, die umgebracht worden ist?“

„Ja.“ Er hielt ihr seine Visitenkarte hin.

„Wow, Gruppenleiter. Klingt ja fast nach Drittem Reich.“

Orsini zuckte mit den Schultern. „Hatten Sie gestern Abend Dienst?“

„Nein, leider ... vielleicht besser gesagt, zum Glück nicht.“ Sie krauste ihre Stirn, auf der winzige Sommersprossen wie Gänseblümchen auf einer Wiese blühten. „Was genau suchen Sie eigentlich?“

„Na ja“, antwortete Orsini, „während des Gewitters sind einige Leute von hier aus zum Beethovenplatz rübergelaufen. Kann sein, dass jemand den oder die Täter gesehen hat. ­Apropos, diese beiden kennen Sie nicht zufällig?“ Orsini schob ihr die Fotos von Dorothea und Franz Hausner hin und schlürfte dabei einen Schluck Kaffee.

Chantal stützte das Kinn auf Daumen und Zeigefinger, studierte die Fotos und schüttelte den Kopf. Während sie mit einer Wodkaflasche hantierte, fuhr sie fort: „Ist sicher spannend, Ihre Arbeit.“

„Manchmal könnte ich durchaus darauf verzichten“, antwortete Orsini. „Und Ihre?“

„Na ja.“ Sie zog einen Mundwinkel hoch und deutete dabei auf die Gäste. „Ich muss jetzt wieder, oder haben Sie noch Fragen?“

„Aus rein kriminaltaktischen Gründen muss ich wissen, ob Sie jeden Tag hier sind ...“

„Nein, das wechselt, meine Tage sind meistens Dienstag, Mittwoch, oder sonst am Wochenende.“

„Alles klar. Dann weiß ich ja, wann ich Sie hier wiederfinde, falls mir noch eine Frage einfällt“, antwortete er und wandte sich einer Gruppe von vier Männern zu, die neben ihm an einem Stehtisch ihr Bier tranken. Es waren eindeutig Musiker. Ein Geigen- und ein Cellokoffer lehnten daneben.

„... das Allegro schleppt sich so dahin!“, stöhnte der eine und zeigte mit dem Finger auf ein Notenblatt.

„Das liegt am Dirigenten“, antwortete der offensichtlich Älteste aus der Runde, „ich versuch schon mein Bestes, aber natürlich ...“

Orsini zückte seine Dienstmarke. „Entschuldigen Sie: Wir suchen jemand, der diese Frau gesehen hat“, unterbrach er kurzerhand und zeigte den Musikern das Foto.

„Trenk, Erste Geige“, sagte der ältere Musiker und streckte Orsini die Hand hin. „Ist das die Tote von da drüben?“

Orsini nickte.

Trenk runzelte die Stirn. „Noch nie gesehn, tut mir leid“, antwortete er dann und reichte es weiter. Der Kollege neben ihm öffnete den Cellokoffer und steckte die Noten weg. Wie beiläufig und doch höchst einstudiert fuhr er sich durch die makellose Fönwelle, warf einen Blick auf das Foto und schüttelte wie die übrigen den Kopf.

„Hatte jemand von Ihnen gestern Abend Konzert?“, fragte Orsini und deutete zum nebenan liegenden Konzerthaus.

„Ich nicht, aber du hast doch gestern mit deinem Bläserquartett gespielt, oder?“, meinte Trenk zum blassen, ziemlich großen Kollegen auf seiner anderen Seite.

„Und, waren Sie gestern nach dem Dienst zufällig auch hier, was trinken?“, hakte Orsini nach.

„Nein“, entgegnete der Bläser, „warum wollen Sie das wissen?“ Mit dem Zeigefinger schob er dabei seine Brille die Nase hoch.

„Vielleicht haben Sie ja was gesehn ...“

„Leider, ich bin nach der Vorstellung gleich heim.“ Erneut schob er seine Brille zurecht. Sie wirkte in seinem Gesicht ein wenig zu groß.

„Was willst denn wissen?“, mischte sich plötzlich eine ­tiefe Stimme ein. Sie gehörte zu einem von zwei Latzhosenträgern, die gemeinsam mit einem dritten Mann in Jeans und Pullover hinter ihnen an der Theke standen.

„Kennt einer von euch diese Dame oder diesen Herrn, oder hat jemand sie zufällig die letzten Tage gesehen?“

„Und wer genau will des wissen?“, fragte einer der beiden Latzhosenträger. Von seiner Statur her erinnerte er an einen Bodybuilder. Sein Stiernacken schien den Ausschnitt des T-Shirts sprengen zu wollen und endete erst bei den Ohren, die wiederum beachtlich vom spiegelglatt rasierten Kopf abstanden. Eine tätowierte Schlange wand sich von seinem Handrücken aufwärts und verschwand im Ärmel oberhalb eines beeindruckenden Bizeps.

„Ich.“ Orsini zeigte seine Dienstmarke. „Ist garantiert echt.“

„Gib her“, sagte der zweite Latzhosenträger, der seinem Kollegen in den körperlichen Dimensionen nur unwesentlich nachstand, allerdings von seiner Haarpracht Conan, dem Barbaren, zur Ehre gereichte. Eine Tätowierung konnte Orsini zwar nicht sehen, allerdings war Conan offensichtlich ein stolzer Biker. Harley forever stand nämlich auf seinem Stirnband. Die beiden entsprachen im Grunde genau der Zielgruppe von Männern, auf die es der börsennotierte amerikanische Motorradkonzern abgesehen hatte. Männer, die geboren worden waren, um sehr, sehr wild zu sein und sehr, sehr jung zu sterben, die aber letztlich erkannt hatten, dass dies überaus anstrengend war. Mit fortgeschrittenem Alter verlegten sie sich meist ohnehin lieber aufs Teilzeitwildsein, und das mit dem Sterben für die Ideale schoben sie bis zur Pension hinaus.

Prüfend nahm Conan die Dienstmarke zwischen die dicken Finger.

„Nicht verbiegen, die brauch ich noch“, erwiderte Orsini und griff danach.

Mittlerweile hatte sich der Mann in Jeans das Foto Dorothea Hausners geschnappt und betrachtete es gemeinsam mit dem Glatzkopf. Obwohl er kaum kleiner war als die beiden Fleischgebirge, wirkte er zwischen ihnen beinahe schmächtig. „Ist das die Ermordete von da drüben?“, fragte er.

Orsini nickte.

„Sicher kennen wir die“, bemerkte der Glatzkopf.

„Das ist eine von den Gärtnerinnen“, ergänzte der Jeansträger. Sein Haare passten von der Länge her genau zwischen Glatzkopf und Conans Mähne. Allerdings waren sie brav in der Mitte gescheitelt.

„Und den Mann, kennt ihr den auch?“ Er schob ihnen Hausners Bild hin.

Allgemeines Kopfschütteln. „Na. Wer solln des sein?“

„Ist im Moment egal“, erwiderte Orsini. „Mich interessiert, woher ihr die Frau kennt.“

Der Glatzkopf wies zuerst zum Stadtpark und dann auf seine graue Latzhose. WKN, MA 30 stand da. „Wir räumen rund um die Uhr dein Dreck weg“, sagte er, machte eine Pause und fügte erklärend hinzu: „Kanalbrigade! Wir habn öfters mit den Gärtnerinnen zu tun.“

„Alles klar!“, erwiderte Orsini. „Und, wann habt ihr sie zuletzt gesehen?“

„Is vielleicht ... ein, zwei Wochen her. I glaub, wir habn die Abflüsse vorn bei der Baustelle am Stubentor kontrolliert. Oder?“

„Zwei Wochen“, verbesserte Conan. „I hab sie aber vor a paar Tag no gsehn.“

„Sind Sie sicher?“

Der Mann fuhr sich durch die schulterlangen rotbraunen Haare, begutachtete das Foto eingehend und nickte.

„Wann war das genau?“

„Keine Ahnung.“

„Welcher Wochentag?“

„Hm. Montag, eventuell. Warum?“

„Wo?“, fuhr Orsini fort, ohne auf die Frage einzugehen.

„Na glei dort drüben, beim Ausgang.“

„Um welche Uhrzeit?“

„Phh!! So zwischen neun und Sperrstunde.“

„Wo waren Sie?“

„Na da, wo i jetzt steh, ungefähr.“

„War sie allein?“

„Eng umschlungen warens net.“

„Ein Mann also?“

„Ja.“

„Können Sie ihn beschreiben?“

„Na. Hab ihn ja nur von hinten gsehn.“

„Hat er vielleicht eine graue Latzhosn und schwarze Stiefel anghabt?“, fragte der Glatzkopf und stieß seinem Kollegen in die Rippen.

Orsini ignorierte die Frage. „Versuchen Sie sich genau zu erinnern. Das wäre wichtig.“

„Eher ... a Anzug. Ja, Anzug auf jedn Fall.“

„Sonst nichts?“, drängte Orsini.

„Na, ... tut ma leid“, antwortete Conan und zuckte mit den Schultern.

„Wo sind sie hingegangen?“

Wieder zuckte der Mann mit den Schultern.

„Wieso wolln S’ des wissn?“, fragte der Glatzkopf.

Orsini kippte den Rest des Kaffees hinunter. „Reine Routine.“ Er spürte, wie die bittere Medizin in seine Eingeweide biss.

„Was gibt’s, Männer?“, fragte ein Mann im gleichen Outfit, der sich dazugesellt hatte. Er trug dicke, schwarze, über dem Knie umgekrempelte Lederstiefel, war um die 50, und auf seiner Kappe stand Teamspüler.

„Tolle Schuhe“, bemerkte Orsini.

„Is unser Boss“, sagte Conan mit einer Spur Ehrfurcht in der Stimme.

„Seklitsch“, stellte sich der Mann vor und reichte Orsini die Hand. Er war von eher gedrungenem Körperbau, hatte noch beinahe durchgehend schwarze Haare und einen dichten Stoppelbart. An seinem dicken Ledergürtel hing ein massiver Schlüsselbund.

„Sie sind also der Trainer“, spielte Orsini auf die Kappe an.

„Kann ma so sagn. Worum geht’s?“

„Er is von der Polizei. Der Mord da drübn“, erklärte Conan.

„Kennen Sie die Frau?“ Orsini hielt ihm Dorothea Hausners Bild hin.

„Kennen is übertrieben. I glaub, die ist Gärtnerin.“

„Des hamma ihm eh schon gsagt. Hast sie irgendwann gsehn in letzter Zeit?“, übernahm der Glatzkopf die Initiative.

„Na.“ Seklitsch schüttelte den Kopf. „Chantal, a Bier!“

Orsini nahm das Foto wieder an sich.

„Sonst no was?“

„Im Moment nicht.“

„Ein Bier?“, fragte Conan.

„Das nächste Mal“, erwiderte Orsini und schnappte sich einen Block vom Tresen. „Ich brauch Namen und Adresse von Ihnen.“

„Für was?“, erwiderte Conan erstaunt.

„Du bist verdächtig“, feixte der Glatzkopf.

„Es gibt ein Video, ich möchte, dass Sie sich das ansehen.“

Conan nickte und gab seine Daten an. Dann kniff er ein Auge zu und blickte zu Seklitsch: „Geht’s in der Dienstzeit?“

„Na, sicher net“, erwiderte Seklitsch, streifte Orsini dabei mit einem abschätzigen Blick und nahm sein Bier entgegen.

„Schönen Dank, meine Herren“, verabschiedete sich Orsini. „Ich melde mich.“

„Wenn die Spülung net funktioniert ...“, bemerkte Conan, machte mit Daumen und kleinem Finger ein Telefon nach, hielt es sich ans Ohr und deutete auf den Zettel, den Orsini in der Hand hielt.

„... mach ma da an Spezialpreis“, ergänzte der Glatzkopf.

„Gib eam no a Kartn mit“, sagte Seklitsch zum Jeans­träger.

„Oder no besser den Orson“, grinste der Glatzkopf. Der Jeansträger lächelte ihm unauffällig zu und zog einen Schlüsselanhänger mit dem Konterfei Orson Welles’, in Plastik gegossen, aus seiner Hosentasche. Er drückte auf das Gesicht, und die weltberühmte Zithermelodie ertönte in nervenden Piepstönen.

„Is doch super, oder?“, höhnte Seklitsch.

„Dauert eh nur a halbe Minutn“, stimmte Conan zu und schlug sich dabei mit der Hand auf den Oberschenkel. Für einen Moment erblickte Orsini auch bei ihm den Kopf der tätowierten Schlange, allerdings auf der Innenseite des mächtigen Oberarmes.

„Hab leider keinen mehr“, sagte der Jeansträger grinsend, zog rasch eine Karte hervor und reichte sie Orsini, der sich zunehmend verarscht fühlte.

„Danke“, sagte er gereizt und ließ die vier Arbeiter stehen. Dritte Mann Tour, stand auf der Karte, besuchen Sie die Original-Kanaldrehorte!

Er brauchte dringend eine Pause, das wusste er. Wann er sie bekommen würde, war allerdings fraglich. Eigentlich sollte er schon längst im Büro sitzen, anstatt die Fußarbeit zu verrichten. Er warf einen letzten Blick auf die beiden Gruppen von Männern. Die Musiker standen ihr Leben lang im Rampenlicht, und die Kanalarbeiter ...

Grübelnd marschierte Orsini zu einem der uniformierten Kollegen. „Und?“, fragte er mürrisch.

„Nichts“, antwortete der Beamte, nahm seine Kappe ab und fuhr sich mit der Hand über die verschwitzte Stirn.

„Ihr befragt alle, die hier arbeiten und in den nächsten Stunden auftauchen. Ich fahr in die Zentrale.“

„Glauben Sie, dass wir was finden?“

„Keine Ahnung. Ihr erreicht mich jederzeit am Handy. Meldet mir alles, auch wenn es euch noch so unwichtig erscheint.“

„Jawoll!“, antwortete der Polizist laut.

Orsini sackte für einen Moment in sich zusammen. Die Afterworkszene hatte auf den Beamten offensichtlich noch nicht abgefärbt. „Du könntest versuchen, dich hier ein bisschen anzupassen“, schlug er halbherzig vor und wies auf die Gäste. Als der Beamte daraufhin fein säuberlich die Ärmel aufkrempelte, zwei Mal und in exakt derselben Breite, zog Orsini endgültig Richtung Stadtpark ab.

Im Gehen griff er in seine Jackentasche und holte die mittlerweile zerknitterte Zigarette, die er von Dr. Mirno bekommen hatte, hervor. Der Filter war abgebogen und hatte einen Riss. Achtlos entfernte er ihn und suchte in seinen Taschen nach Feuer.

*

Markus, oder Mark, wie er von seinen Freunden gerufen wurde, saß auf einer Bank im kleinen Pavillon oberhalb des Wienflussportals, beim Eingang zum Stadtpark, und zupfte nervös am Ärmel seines roten Hemds. Er streifte den Typen gegenüber immer wieder mit fahrigen Blicken. Mark war ihm gefolgt, weil er ein Geschäft witterte, das er dringend brauchte. Dringender als dringend. Das leichte Zittern der Hände hatte bereits begonnen. Er wusste, was das bedeutete: Die Wirkung der drei Benzos ließ nach.

Nervös blickte er auf das Päckchen in seiner Hand. Entweder machte er bald ein Geschäft mit dem Alten, oder gar nicht, dachte er. Er war so mit sich selbst beschäftigt, dass er erst nach dem zweiten Winken des Mannes reagierte. Scheiße, warum machte der Typ das so auffällig? Er blickte um sich. Kein Mensch in der Nähe. Der Pavillon lag etwas abseits. Mark erhob sich und ging auf den Mann zu. „Brauchst was?“

„Hast du Feuer?“

„Feuer?“, entgegnete Mark enttäuscht. Er war wohl an den Falschen geraten.

„Ja. Bei einem Feuerzeug kommt es gelegentlich oben raus.“

„Ja klar, Feuer“, wiederholte Mark zerstreut und begann hektisch, seine Sachen zu durchsuchen. Feuer geben und dann nichts wie weg, dachte er, als er endlich das abgegriffene Feuerzeug gefunden hatte. Unkontrolliert fuhr sein Daumen über das geriffelte Rädchen. „Scheiße“, entfuhr es ihm, als ihm das Päckchen aus der Hand glitt und zu Boden fiel. Gleichzeitig loderte eine Flamme aus dem Feuerzeug. So stand er kurz da wie ein Ministrant, der nicht wusste, ob er sich nach der hinuntergefallenen Hostie bücken sollte, weil er die lodernde Kerze in Händen hielt.

Inzwischen hob der Mann das Päckchen auf, steckte sich gleichzeitig die filterlose Zigarette in den Mund und holte sich Feuer. „Danke“, sagte er und hielt Mark das Päckchen vor die Nase. „Wie heißt du?“

„Mark.“

„Und wo dealst du?“

„Was geht dich das an?“

„Jede Menge.“

Mark schluckte, sah um sich und griff blitzschnell nach dem Päckchen, um damit loszurennen. Wie konnte er nur so blöd sein! Normalerweise roch er Bullen 100 Meter gegen den Wind!

Orsinis Hand schloss sich schneller um das Päckchen, als Mark denken konnte. Mit der anderen Hand hielt er den Burschen am Arm fest. „Also, wo dealst du?“

Marks Rücken krümmte sich, während er gepresst antwortete: „Stadtpark bis Karlsplatz, aber nur kleine ...“

„Interessiert mich nicht, was du dealst“, winkte Orsini ab, „solange du Kleinunternehmer bleibst.“

„Kleinstunternehmer“, versicherte Mark, der seine normale Lautstärke wiedergefunden hatte.

„Ich will von dir nur, dass du dich umhörst.“

„Was soll ich?“

„Du bist doch ein schlauer Junge. Dir wird nicht entgangen sein, dass ein Mord passiert ist.“

„Am Beethovenplatz.“

„Sogar superschlau. Und es hat einen Selbstmord am Karlsplatz gegeben.“

„Greta?“

„Genau.“ Orsini holte die Fotos der beiden Hausners aus seiner Tasche. „Kennst du die zufällig?“

Mark schüttelte den Kopf. „Ihn nicht, sie is doch die ..., ich schwör, mit der hab ich nie was z’ tun gehabt.“

„Na gut“, erwiderte Orsini und drückte Mark das Päckchen in die Hand. „In ein paar Tagen besuch ich dich wieder, und du erzählst mir dann, was so darüber geredet wird.“

„Und wenn nicht?“

„Danke für das Feuer“, entgegnete Orsini, stand auf, trat die Zigarette aus und ließ Mark stehen.

Mark starrte auf die ausgedämpfte Zigarette am Boden. Der Typ hat sie nur verglühen lassen, dachte er irritiert.

4

Angespannt sah Orsini auf die Uhr, es war bereits fast neun. Die Teambesprechung hatte länger gedauert als geplant und dennoch nicht viel Neues gebracht. Alle hatten versucht, die Fakten auf den Punkt zu bringen. Trotzdem war die Sitzung von einem beinahe lähmenden Gefühl überschattet gewesen.

Es war höchst fraglich, ob Franz Hausner der Mörder sein konnte. Zumindest hatten sie nichts gefunden, was konkret in diese Richtung wies. Gleichzeitig war ihnen allen bewusst, dass die ersten 24 Stunden nach einem Mord die wichtigsten waren. Was bis dahin nicht geklärt war, blieb oft für immer im Dunklen.

Er starrte beim Fenster hinaus auf die Wasserfläche. Die untergehende Sonne hatte ihr Licht wie einen durchsichtigen Schleier über die Stadt geworfen, der alles in einer intensiven rot-orangen Farbe leuchten ließ. Auch die kleinen Wellen im Donaukanal hoben sich rot schimmernd von den dunkleren Stellen im Schatten ab. Orsini mochte den Ausblick von diesem Fenster. Jedes Mal, wenn er von hier aus dem ruhig dahinströmenden Wasser zusah, renkte sich in ihm etwas wieder ein, zumindest für einen Augenblick. Es brachte eine gewisse Distanz, als könnte das Wasser seine Gedanken bis zur Mündung ins Schwarze Meer mitschwemmen und dabei den Dreck von ihnen abwaschen.

Locker trottete er nach einer Weile die Stufen hinauf, klopfte an und öffnete die Tür. Pokornys Büro war genauso groß wie sein eigenes. Nur dass dieser es nicht mit einem Kollegen teilen musste. Die linke Wand wurde von einem großen Stadtplan dominiert, der aber zum Teil von einer riesigen Monstera Deliciosa verdeckt wurde. Die Pflanze gedieh so außergewöhnlich gut, dass manche der Blätter mehr als klodeckelgroß waren. Fingerdicke Luftwurzeln streckten sich bereits bis zum Fußboden.

„Ist der schon wieder gewachsen?“, fragte Orsini. Mit seinem eigenen Gummibaum war er weitaus nicht so erfolgreich.

Pokorny deutete auf seine filterlose Zigarette. „Die sind das Geheimnis.“

„Geheimnis?“

„Sie liebt meine Zigaretten.“

„Das ist ein eindeutiger Wettbewerbsvorteil, den Sie da haben!“ Seit in öffentlichen Gebäuden nicht mehr geraucht werden durfte, war Pokorny einer der wenigen, die sich darüber hinwegsetzten, ohne mit der Wimper zu zucken. In Wahrheit war für das außergewöhnliche Wachstum der Pflanze allerdings eine der Putzfrauen verantwortlich. Sie kümmerte sich leidenschaftlich um alle Pflanzen und war zudem die Einzige, die Pokornys Büro säubern durfte.

„Also?“ Wie üblich wechselte Pokorny übergangslos zum Fachlichen.

„Na ja“, Orsini holte tief Luft, „wie besprochen habe ich den Kollegen die Akte der Drogensüchtigen gegeben. Aber wir waren heute hauptsächlich damit beschäftigt, im aktuellen Fall zu ermitteln.“

„Und da ist“, Pokorny blätterte in seinen Unterlagen, „die Tatortgruppe 2 am Werk ...“

„Genau. Der Kollege Lehner ist da auch sehr kompetent.“

Pokorny zog die Mundwinkel zusammen. „Und Gottschlich?“

„Hat uns zumindest nicht an der Arbeit gehindert“, antwortete Orsini und fuhr mit den Einzelheiten des Tages fort. „Dass Dorothea Hausner sich umgebracht hätte, können wir mittlerweile ausschließen. Dr. Mirno sieht das auch so. Außerdem hat der Lehner bestätigt, dass es im Erdreich so gut wie kein Blut gibt. Deshalb fällt der Beethovenplatz insgesamt auch als Tatort weg“, schloss er wenig später seinen Bericht.

„Haben Sie schon mit den Kollegen der Gärtnerin gesprochen?“

„Steht für morgen am Plan“, erklärte Orsini, griff nach einem der Blätter der Monstera Deliciosa und fuhr mit den Fingern die Kanten entlang. „Was mich am meisten stört“, fuhr er endlich fort, „ist, dass wir keine Verbindung zwischen den beiden Toten gefunden haben, nicht einmal den kleinsten Hinweis.“

„Und der Hausner? Hat er ein Alibi für den Mord an der Drogensüchtigen?“

„Wie letzte Nacht: Er war von zirka 21 Uhr an im Dienst. Um sieben in der Früh hat ihn ein Kollege abgelöst. An und für sich muss er alle 90 Minuten einen Rundgang durchs Firmengelände machen und seine Karte an bestimmten Orten durch einen Scanner ziehen. Innerhalb von 90 Minuten den Mord zu begehen, wo auch immer, vom 21. Bezirk in die Stadt und zurück ... Also ich weiß nicht, theoretisch ist es möglich, aber praktisch?“

Pokorny dämpfte seine Zigarette aus und überlegte. „Was ist mit dem Glas?“

„Nicht Besonderes. Am Foto der Drogensüchtigen sieht es eher wie die Scherbe einer Bierflasche aus, während es bei der Hausner eindeutig von einem Fensterglas stammt. Aber leider keine Fingerabdrücke, keine Spuren, kein Hinweis auf die Herkunft.“

„Die Wohnung?“

„Können wir als Tatort ausschließen. Apropos Tatort: Gibt es zusätzliche Leute für mich? Ich meine, wir müssen dringend die ganzen Fahrzeuglenker aus der Garage ausfindig machen, weitere Zeugen suchen, das Umfeld der Drogensüchtigen abklappern, das Video gehört bearbeitet und gesichtet ...“

„Mir brauchen Sie das nicht aufzuzählen! Die anderen Gruppen sind genauso unterbesetzt ...“ Pokorny schüttelte den Kopf. „Und überhaupt, solange es eben den Zusammenhang nicht gibt, ist das ein einzelner Fall, der keine Soko erforderlich macht. So wird das gesehen. Punkt.“

„Niemand?“ Orsini starrte Pokorny ungläubig an.

„Na ja, völlig unfähig bin ich auch wieder nicht. Aber wenn ich zwei raushole, ist das das absolute Maximum.“

„Damit könnte ich auch leben, wenn es gute Leute sind“, brummte Orsini.

„Problem Nummer zwei“, winkte Pokorny ab. „Leute in Ausbildung ist das Höchste, was ich bieten kann.“

„In Ausbildung?“

„Ist doch besser als Greenhorns, oder?“, lächelte Pokorny gezwungen zurück.

„Aber das ist doch verrückt!“

„Verrückt. Nein, das ist die Realität. Sehen Sie sich meinen Drucker an, Orsini!“

„Was ist damit?“

„Schauen Sie genau! Was klebt da drauf?“

„Ein Preisschild, 39 Euro 90.“

„Und exakt 39 Euro 90 habe ich aus meiner eigenen Geldbörse für dieses Großmarktprodukt bezahlt, weil uns das Ministerium den Geldhahn zugedreht hat.“

*

Nach dem ernüchternden Gespräch mit Pokorny hatte Orsini endlich seine Jacke geschnappt und stand nun draußen vor dem Amtsgebäude. Es war noch angenehm warm, so wie es sich für den Frühsommer gehörte. Zwei graue Kleintransporter, die zu Einsatzwagen umgebaut waren, standen auf den amtlichen Parkplätzen. Geräuschlos glitt bei einem der Fahrzeuge die Fensterscheibe nach unten. Die Scheibe stoppte mit einem satten Quietschen.

„He!“

Orsini erkannte die Stimme. Er blieb stehen und sah zum Wagen. Gottschlich lehnte sich lässig ein Stück aus dem geöffneten Fenster. Obwohl es bereits finster war, verdeckte eine goldgerahmte Ray Ban seine Augen. „Genug für heute?“

Orsini antwortete nicht.

„Wie läuft die Ermittlung?“

„Hängt davon ab, wie gut die Tatortgruppe arbeitet.“

Gottschlich blies eine dünne Rauchwolke aus dem Fahrzeug. Die Umrisse der kleinen Aknekrater in seinem Gesicht schimmerten im künstlichen Licht. Im Glas der Brille spiegelten sich die roten und gelben Lichtspuren der vorbeifahrenden Autos. „Hängt eher vom leitenden Ermittler ab.“

„Sonst noch was?“, fragte Orsini und wandte sich ab, um zu gehen.

„Sicher.“

„Dann leg es mir morgen in aller Früh auf den Schreibtisch.“ Ohne Gottschlich eines weiteren Blickes zu würdigen, ging Orsini am Einsatzwagen vorbei. Er war müde. Die Kleider klebten an seinem Körper, er hatte sie seit der Probe am Vorabend nicht gewechselt, und er sehnte sich nach einer Dusche. Dennoch, oder gerade deswegen entschied er sich, zu Fuß heimzugehen, über die große Schleife, wie er den Weg entlang des Rings nannte. Er hielt seine Lederjacke mit zwei Fingern, warf sie über die Schulter, bog nach rechts und marschierte los. Sein Blick war auf den Boden gerichtet. Die Ringstraße hatte ihre ganz eigene Geräuschkulisse. Manches Mal schloss er im Gehen für einen Moment die Augen, nur für wenige Sekunden. Vor der Rolltreppe in die Unterführung am Schottentor blieb er stehen und sah hinter sich. Doch das, was er zu hören glaubte, verklang rasch in einer der Seitengassen.

Vor dem Eingang zur Karlsplatzpassage kaufte er bei einem Straßenhändler zwei Zeitungen: einmal Seriosität und einmal Boulevard – Glanz und Elend quasi. Bei Glanz nahm Dorothea Hausners Tod eine schmale Spalte in der Chronik ein. Elend widmete dem Tod im Park eine halbe Seite mit Foto vom Fundort. Zumindest machte ein schmaler schwarzer Balken das Gesicht der Toten unkenntlich. Wie der Artikel aussehen würde, wenn die Presse spitzbekam, dass es noch einen weiteren Mord mit einer Glasscherbe gab, wollte er sich vorläufig nicht ausmalen. Vor dem Gebüsch, in dem die Drogensüchtige gefunden worden war, blieb er stehen und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.

Zwei tote Frauen. Eine Drogensüchtige und eine Gärtnerin. Was hatten die beiden noch gemeinsam, fragte er sich zum x-ten Mal und stierte ins Gebüsch, als läge dort eine Antwort versteckt. Plötzlich bewegte sich etwas. Wind fuhr über die Zweige und ließ die Blätter rauschen. Neben ihm ragten die Bäume dunkel in die Nacht, als wollten sie ihm zu verstehen geben: Hier hast du nichts zu suchen!

Erneut spürte er eine Bewegung, mehr als dass er sie sah. Langsam bückte er sich und griff nach einem am Boden liegenden Ast. Angespannt suchte er das dunkle Gelände ab. Nur eine verschreckte Ratte. Kurz verharrte sie in ihrer Bewegung und sah ihn neugierig an. Wenn du nur reden könntest, dachte er, könntest du mir vielleicht weiterhelfen! Doch die Ratte hatte bereits kehrtgemacht und verschwand nun genauso schnell wie sie aufgetaucht war.

Eine Weile später bog Orsini vom Ring ab. Auf der Stubenbrücke blieb er stehen. Es war ein langer Tag gewesen. Unter ihm spiegelte sich die nächtliche Parkbeleuchtung im Wasser wider. Ein Windstoß fuhr über kleine, sich kräuselnde Wellen. Nicht mehr als ein Rinnsal. Kaum vorstellbar, dass es jahrtausendelang ein Fluss gewesen war, der Mühlen angetrieben und Menschen mit sich gerissen hatte. Er sah zu den weißen Lemurenköpfen hoch, die einsam auf den Brückenpfeilern thronten, Wächtern gleich. Sie sahen aus, als hätte man sie aus überdimensionalen Kartoffeln geschnitzt – knorrig, die ausgestochenen Augen schwarze Löcher in ein hohles Nichts. Orsini war schon unzählige Male hier gestanden – ob sie ihm gefielen, wusste er immer noch nicht.

... Seelen entsteigen dem Nass, las er das Zitat von Heraklit, das an der Brücke angebracht war.

Pagat ultimo

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