Читать книгу Muckefuck / Molle mit Korn / Weiße mit Schuss - Georg Lentz - Страница 10
ОглавлениеDie Großmutter, Eisenbahnstationsvorstehersgattin aus Dubberow, an Uniformen also gewöhnt, war dennoch erstaunt über meine vorwiegend braune Ausrüstung, die ja auch in nichts an Eisenbahnermonturen erinnerte. Sie arbeitete jetzt täglich an ihrem Strumpfvorrat, der denn auch für den Rest ihres Lebens reichen sollte: lange schwarze gestrickte Röhren aus grober Wolle, Fersen verstärkt. Beim Stricken traf ich sie auch, als ich ihr die neue Jungvolkausrüstung vorführte. Sie rückte ihre schwarz geränderte Brille auf die Nasenspitze, betrachtete mich eingehend, während ihre großen Stricknadeln weiterklapperten, und sagte kopfschüttelnd: »Ein Braun – wie Schifferscheiße!«
Großmutter hatte, zum Spaß und frischer Eier wegen, auch im neuen Hause eine Hühnerzucht begonnen. Eine kleine Hühnerzucht. Das hatte Gründe. Sie wollte gern mit den Hühnern ein persönliches Verhältnis haben, sie etwa bei den Namen nennen, die sie ihnen gegeben hatte. Lauter einfache Namen. Erna, Berta, Frieda. Gerade mit Hühnern ein persönliches Verhältnis zu bekommen, das wird jedem einleuchten, ist schwer. Großmutter schaffte es. Jedenfalls rannten die Hühner nicht, wie bei uns, gackernd davon, wenn sie die Stalltür öffnete. Trotzdem blieb Großmutter sachlichen züchterischen Grundsätzen treu. Das hieß, auf die kürzeste Formel gebracht: Wenn eines der Hühner nicht mehr legte, nahm die Großmutter ein Beil und schlug ihm den Kopf ab. Am nächsten Tag gab es dann bei uns Huhn, und obwohl die Großmutter genau wusste, dass da vor ihr auf dem Teller Berta lag oder Ida, die gestern noch fröhlich gegackert hatte, ließ sie es sich schmecken. So sachlich konnte Großmutter sein.
Je mehr nun das Braun um Großmutter herum zunahm, mit den Uniformen der Goldfasanen und schließlich sogar mit meinem braunen Hemd, kurz auch Braunhemd genannt, desto empfindlicher begann die Großmutter gegen diese Farbe zu werden. Sie entschloss sich, ihre braunen Kleider wegzuwerfen, sie hängte Bilder ab, die braun gerahmt waren, beförderte sogar ihre dickbäuchige geliebte braune Bunzlauer Kaffeekanne in den Müll, und eines Tages hatte sie alle ihre braunen Möbel im kleinen sonnigen Zimmer mit Ölfarbe hellblau gestrichen. Meine Mutter schimpfte. Ede aber unterstützte die Großmutter. Er verstand sie. Ein Glück, dass seine Taxen grün waren.
Wir ahnten nicht, wohin diese Marotte bei Großmutter noch führen sollte. Bis wir eines Morgens vom Hof her lautes Gegacker hörten. Großmutter hatte bis dahin Rodeländer gezüchtet. Das sind braune Hühner. An diesem Morgen erschlug sie alle braunen Hühner. Wir aßen wochenlang Huhn in jeder Variation, Suppenhuhn, Brathuhn, Hühnerfrikassee, Hühnersuppe, zuletzt versuchten wir Hühnerbouletten. Die Zucht wurde auf weiße Leghorns umgestellt.
Allmählich gewöhnte Großmutter sich wieder an die Farbe. Ganz gegen Ende des Krieges hatte sie sogar wieder ein paar Rodeländer.
Über diese Hühnerzucht, mit der es beinahe ein zeitgemäßes Ende genommen hätte, ist überhaupt allerhand zu sagen. Großmutter äußerte jede Idee in einer Form, die Widerspruch ausschloss. Das war so ihre Art. Onkel Adolar wollte ihr die Leghorns ausreden. Er wusste eine Menge über Hühner. Beim Kaffeetrinken hielt er Großmutter lange Vorträge.
»Du musst es mal mit Ramerslohern versuchen«, schlug er vor, »oder mit Thüringer Pausbäckchen.«
Großmutter schniefte und rührte unwillig in ihrer Kaffeetasse, was immer als Alarmzeichen anzusehen war. Ohnehin hatte sie Onkel Adolar auf dem Kieker, weil er morgens immer im Stall verschwand und die noch warmen Eier austrank. Er stach sie an den Enden mit dem Korkenzieher von seinem Taschenmesser an, setzte das eine Loch an den Mund und schlürfte den Inhalt.
Ohne Großmutters Rührwarnung zu beachten, fuhr Onkel Adolar fort, sein Wissen anzubringen. »In Frankreich«, dozierte er, »züchten sie die Le-Mans-Hühner. Gute Eierleger. Sehr gute. Oder kennst du die La Fleche? Mit den kleinen Häubchen? Aber die Häubchen werden leicht schmutzig. La Fleche kann man nur in ganz sauberen Ställen halten.«
Großmutter rührte schneller und schoss Blicke. Sie hielt schon die Tasse mit dem Daumen der anderen Hand an der Innenseite fest, sonst wäre sie vom Tisch gefallen. Onkel Adolar räkelte sich in seinem Korbstuhl, dass es krachte, belehrte die Großmutter, dass Langsham-Hühner einhundertsechzig Eier im Jahr zu legen pflegten, und dass der Bergische Schlotterkamm frühreif sei.
Da stellte Großmutter ihre Kaffeetasse mit einem Krach auf den Tisch, stand auf und sagte bissig:
»Vom Eieraussaufen wird man wohl klüger!«
Sie ging in ihr Zimmer und bestellte per Postkarte zwanzig weiße Leghorns.
Später, nach Onkel Adolars Tod, bedauerte Großmutter diese Szene oft. Viel später pflegte sie allerdings wieder zu sagen: »Adolar? Er wusste zu viel über Hühner!«
Wenige Monate trennten uns noch von jenem ersten September, an dem der Polenfeldzug begann. Wir spielten Frieden auf Teufel komm raus. Großmutter verschanzte sich hinter der Hühnerzucht, entwickelte sogar im Laufe der Zeit einen neuen ernsthaften Tick, indem sie beim Essen aufstand, um in den Stall zu gehen und die Hühner hinten abzufühlen, ob Eier zu erwarten seien. Ede spielte immer noch Taxiunternehmer. Obwohl sie ihm eine Lizenz nach der anderen wegnahmen. Meine Mutter lag, Migräne vorschützend, auf der Chaiselongue und knabberte Konfekt. Und ich selbst, in Braunhemd und Ribbelsamthose, linientreuer Pimpf mit gutem Gedächtnis für zackige Liedertexte? Ich atmete die frische Luft des Birkenwäldchens. Ich trug die mit schwarzen Flammenzungen bemalte Trommel, paukte den Fünferschlag aufs Kalbfell: »Bum, – bum, bumbumbum. – Unter der Fahne – schrei-heiten wir.« Neue Lieder sang Jungzugführer Kulle Rosenbusch mit uns. Lieder, die uns nun lehrten, dass die Fahne mehr als der Tod sei. Ich dachte an unsere Fahne zu Hause, den kleinen roten Fetzen, der sich so leicht um die Fahnenstange wickelte. Und an das noch kleinere Fähnchen von Herrn Reh, aufbewahrt im Besenschrank. An diesen beiden Fahnen gemessen war der Tod nicht viel.
Geländefalten, frisch eingesätes Grün. Brombeergebüsch, die ersten kleinen Beeren schimmerten unreif blassgelb. Unter dem Bahndamm führte eine enge Röhre hindurch, Kulle Rosenbusch stand da, Fahrtentasche am Koppel. Vollgepfropft war sie mit Karte, Kompass, Hitlerjugendgesangbuch und Notizblock. Blau leuchteten Kulles Augen, Wikingerblick, wie sollte es anders sein. Sogar Othmar, der zarte Knabe, war ja zum Jomswikinger geworden. »Entfernungsschätzen«, schnarrte Kulle. »Das erste Glied bildet eine Kette, jeder mit fünf Schritt Abstand vom nächsten.«
Befehle, deren markante Kürze die Nation einte, von Schleswig-Holstein meerumschlungen bis zum Burgenland.
Wir schätzten. Mit Telegrafenstangen ging es leicht. Die hatten einen bestimmten Abstand, man brauchte nur zu zählen. Aber sonst gab es viele Möglichkeiten, sich zu verschätzen. Kulle ließ nicht locker. Er machte aus uns perfekte Entfernungsschätzer.
War der Sonntagsdienst beendet, so fuhr ich mit Ede aufs Land. Wir hatten jetzt eine wundervolle Ausrede: Hühnerfutter besorgen. Bald kannten wir viele Bauern in den kleinen Dörfern vor der großen Stadt. Bauern in Häusern mit Strohdächern und mit Pferden im Stall, denn Traktoren gab es damals noch kaum. Zu einem Bauern gingen wir besonders gerne. Sein Haus war auf moorigem Boden gebaut. Im Laufe der Zeit war der hintere Teil versunken. Die Fußböden in einigen Räumen waren unglaublich schräg. Um das wieder auszugleichen, besaßen die Möbel verschieden lange Beine, die Tische, die Stühle, und ganz hinten in der Kammer auch das Bett. In diesem Bett saß einmal, als wir kamen, ein weißbärtiger Großvater zwischen rot karierten Plümos. Er war neunzig und starb gerade. Aber er war ganz fröhlich dabei. Während wir auf den Stühlen mit den verschieden langen Beinen um ihn herumsaßen, verlangte er drei große Schlackwurstbrote. Die Bäuerin brachte sie. Er schnitt sich Reiterchen und aß die Brote in kurzer Zeit. Am nächsten Tag war er tot. Mit Hühnerfutter an Bord kehrten wir von unseren Landausflügen zurück. Die Leghornzucht war gediehen in den Stunden unserer Abwesenheit, wir rochen es, weil Großmutter schwache Küken in der Küche aufzog. Aber immerhin verbreiteten wir etwas Gegengeruch: nach Bauernstuben, Kleie und Rieselfeldern.
Dann wieder Antreten: »Die Fahne hoch, marschiert! Voran der Führer führt!« Im Gänsemarsch zogen wir hinter unserem Wimpel her, durch den knöcheltiefen Sand im Birkenwäldchen.
Kulle Rosenbusch, neben uns, gab den Schritt an. Seine randgenagelten Schuhe wirbelten Staub auf, der sich trocken in die Nasenlöcher setzte. Wir sangen trotzdem, was die Lungen hergaben, auch O du schöner Westerwald oder Am Mühlenberg von Sanssouci und Schwarzbraun ist die Haselnuss mit der Strophe Löcher hat der Schweizerkäs.
»Zwei Daumensprünge rechts neben Heuschober bewegliches Ziel!«
»Jawoll, Jungzugführer! Erkannt!« – Löcher hat der Schweizerkäs. Othmar schneuzte den Staub in ein blütenweißes Taschentuch. Er hatte immer blütenweiße Taschentücher. Auf unseren Fahrtenmessern war eingraviert: Blut und Ehre! - Damals waren wir elf.
Im Garten bauten Ede und ich aus einem alten Vogelbauer eine Falle und fingen Grünlinge. Aber wir ließen sie immer wieder fliegen. Im Zimmer, auf der Etagere, stand ein neuer Radioapparat.
Durchs offene Fenster drang eine Stimme bis in den Garten. »Der teutschsche Solltatt …«. »Meingottmeingott«, sagte meine Mutter, »wo wir doch schon so viel durchgemacht haben…«
Ich verstand sie nicht.
Ede ließ die zuletzt gefangenen Grünlinge frei.
Großmutter ignorierte die neuen Zeiten. Sie buk weiter Eierkuchen, fütterte die weißen Leghorns und versuchte noch, mir aus dem dicken grünen Buch mit den Märchen vorzulesen.
Kulle Rosenbusch führte uns an den Dienstagnachmittagen und sonntags zu Veranstaltungen. Wir trotteten über den Asphalt der großen Stadt, vier Jungzüge, das ganze Fähnlein. Vorneweg der Fähnleinführer, den wir nur selten sahen, hinter ihm die Fahne und die Wimpel und die Trommler. Dann der Fanfarenzug, dann die vier Jungzüge. An unserer Seite immer Kulle Rosenbusch mit der grünen Jungzugführeraffenschaukel am Hemd, mit der Fahrtentasche und den randgenagelten Schuhen, die auf dem Asphalt knirschten.
Vor dem Denkmal Joachim Hansens, dem Husarenreitergeneral, zogen wir auf, riefen heil, als die Achse Berlin-Rom gehärtet wurde. Ganz weit weg auf dem Balkon stand er, der Führer, und reckte den Arm neben seinem römischen Gast, während vor uns die Bersaglieri, Hahnenfedern am Hut, im Laufschritt ihre schutzblechlosen Fahrräder vorbeischoben. Der Fanfarenzug blies. Die Sonne brannte auf uns herab.
Dann abends, Kulle Rosenbusch immer neben uns, Aufmarsch in den stillen, regenglänzenden Straßen des Villenvororts. Die Kiefern, die in den verwilderten Gärten standen, dufteten. Kommandos. Schuhe scharrten. Kulle meldete dem Fähnleinführer. Eine Mischung aus Hitlerjunge und Goldfasan stand vor der Front, rote Affenschaukel auf Braun, der Bannführer. Einer trat vor und sagte ein selbst gereimtes Gedicht auf. Ein Holzstoß wurde in Brand gesetzt. Wir sangen: Flamme empor!
Aus dem Radio drang die Stimme des Führers. Wir hörten sie in der Schule beim Gemeinschaftsempfang, wir hörten sie auf den Heimabenden, sonntags zu Hause, nachmittags in den Wohnungen.
Selbst in den Büchern über Komposthaufen war nun schon sein Bild, gegenüber der Titelseite. Der strenge Blick seiner Augen verpflichtete jeden. Der Führer und die Sudetendeutschen. Der Führer füttert ein Eichhörnchen. Der Führer bekommt von BDM-Mädchen einen Blumenstrauß. Der Führer auf dem Berghof. Der Führer und ein altes Mütterchen. Der Führer und die alten Kämpfer. Der Führer in jeder Zeitung, in jedem Buch. Sein Bild im Wartesaal, im Jungvolkheim, im deutschen Wohnzimmer, auf der D-Zug-Toilette.
Nicht nur die Saar, ewiger Bumerangstaat, war heimgekehrt. Wir waren auf dem besten Weg zu Großdeutschland. Großmutter hielt nicht viel davon, dass nun auch der sogenannte Korridor heimkehren sollte ins Reich. »Da sind nun die Pollacken, und da soll man sie auch lassen«, meinte sie.
Kulle zog mit uns auf den Schießstand. Vorerst war es noch Kleinkaliber.
Die Katze, die dreibeinige schwarze Hauskatze? Sie war von Natur misstrauisch. Ihren Lieblingsplatz hatte sie jetzt hinten an dem Herd, an der Wand. Neben ihr stand Großmutters Kaffeekanne. Eine blaue statt der braunen Bunzlauer, aber auch dickbäuchig. Und gemütlich. Denn, abgesehen vom Dienst im Birkenwäldchen, lebten wir so, als sei alles normal. Gewiss, wir lasen Patrouille Bosemüller und Armee hinter Stacheldraht und sangen: Wildgänse rauschen durch die Nacht. Sicher, der Biologielehrer trug ein kleines schwarzes Abzeichen mit zwei weißen Runen im Knopfloch. Sicher, der Turnlehrer rief »Bismarckschule stillgestanden!«
Einmal in der Woche war Rudern. Wir schleppten die schlanken braunen Boote zum Wasser, das hier, an einem Nebenarm des Sees, ruhig und dunkelgrün war. Weiden wuchsen am Ufer. Rechts lag die Durchfahrt zum großen See, unter einer schwarzen gusseisernen Brücke hindurch. Der Turnlehrer benutzte ein Megafon, eine Flüstertüte. Aus Blech. Damals begann die Zeit der Flüstertüten und der Lautsprecher. Schon durch eine Flüstertüte ließ es sich wesentlich besser befehlen. Bismarcks Bild schaute durchs Treppenhausfenster, wenn wir die Boote ins Wasser setzten und die glatte grüne Oberfläche zerstörten. Auch Bismarck war überall. Hier, im Ruderheim, hing Bismarcks Bild. In der Schule hing er gleich dreimal: in der Aula, auf dem Flur und im Treppenhaus. Er hing überall da, wo der Führer nicht hing.
Bismarck hatte auf den meisten Bildern einen goldenen Kürassierhelm auf. Zu Hause besaßen wir sogar einen Kuchenteller mit dem Bild Bismarcks in der Mitte. Auch dort hatte er den goldenen Helm auf. Ringsherum lief unter dem durchbrochenen Rand, in Goldbuchstaben, die Inschrift: Wir Deutschen fürchten Gott – sonst nichts auf der Welt.
Die Boote lagen am Steg, wir setzten die Riemen in die Dollen. Dann peitschte uns die Flüstertüte zu strengem Rhythmus. Wir weiteten unsere Hühnerbrüste im gleichmäßigen Ruderschlag. Schon schossen die Boote unter der eisernen Brücke hindurch, auf den silbernen großen See hinaus. Eins, zwei, eins, zwei. An den Ufern glitt Heimatkunde vorbei.
Hier hatte der große König gelebt, jener mit dem ständigen Durchfall und den abgeschnittenen Handschuhfingern, gelebt immer dann, wenn er nicht seine Grenadiere mit den roten Blechzipfelmützen bei Rossbach oder Leuthen anfeuerte, die Heerscharen einer immerhin recht zivilisierten Königin zu füsilieren. Hier hatte er ihn empfangen, Joachim-Hans, den Husarengeneral, der so häufig aus dem Busch kam, um Panduren die Hosen stramm zu ziehen. Und dort, hinter jenem Hügel, lag des Königs Schloss, von hier aus nicht zu sehen, aber wir wussten ja alle, dass seine Lieblingswindhunde da begraben waren, auf der Terrasse. Heimatkunde links am Ufer, rechts am Ufer, während der Bug des Bootes in das Wasser schnitt, das, wie wir auch wussten, eine eiszeitliche Senke füllte, die von hier aus bis Warschau reichte. Warschau wurde jetzt aktuell. Es handelte sich um alten deutschen Kulturboden.
Wir ruderten. Die Flüstertüte blitzte in der Sonne. Weiter hinten hing über dem See die dunkle Rauchfahne von einem Dampfer der Stern- und Kreisschifffahrt. Eins, zwei, eins, zwei. Wir waren es gewohnt, uns im Rhythmus zu bewegen. Kulle hatte es uns beigebracht, mit Kommandostimme und randgenagelten Schuhen, Größe 45. Und es war auch, wie wir gelernt hatten, die Lingua Latina aus derselben Sprachenfamilie abgeleitet wie diese Kommandosprache und wie die Reden des Führers und seines Reichsjägermeisters, schließlich seines Propagandaministers.
Wir streckten die Knie – der Rollsitz rollte zurück. Die Ruderblätter wirbelten das Wasser auf. Die Flüstertüte klebte am Mund des Turnlehrers. Unsere Boote nahmen Kurs auf den Dampfer.
Wir ruderten. Ede polierte seine Taxe. Er hatte jetzt nur noch eine. Auf der Straße ging Herr Gallert vorbei und rief laut:
»Heil Hitler!« Ede überhörte es.
Oben im Haus lag meine Mutter im Bett und hatte Halsweh. Dr. Erdemann wurde gerufen, traf auch ein, im Nadelstreifenanzug, ganz der Vertrauenswürdige und mit schwarzer Tasche. Jovial lächelnd und plaudernd – »na, wo fehlt es uns denn?« – hantierte er mit dem Spatel, drückte die Zunge herunter, ließ »Aaaa«, sagen. Es kam aber nur ein Krächzen. Nun flink die Bettdecke zurück, das Nachthemd hochgerollt, bis Mutters Oberkörper frei dalag, trotz der Tage des Leidens immer noch ein Meer von rosa Wülsten und Rundungen, auf dem der Doktor nun schwamm mit kurzem hölzernem Stethoskoprohr, die Innereien abhorchte durch die vielfältigen Schichten hindurch, die den Ton von Herz und Lunge auch dem empfindlichsten Arztohr zu entziehen versuchten: Erfolglos bei ihm, dem Wellenreiter auf Rosa. Die Krankheit wurde erkannt, mit strenger Formulierung umrissen, als Angina, schwerster Art allerdings, wie ja auch das Fieberthermometer schon bewiesen hatte, und wenn die Patientin in der Lage gewesen wäre, Worte ohne Beschwerde zu formulieren, hätte hier wahrhaftig Anlass vorgelegen zu vielen »Mein Gotts«.
Die Krankheit war da und wurde, nachdem der Leib der Kranken wieder verhüllt, der bakterienbesäte Spatel beseitigt war, Anlass zu einer Flüsterkonferenz auf dem Flur vor dem Krankenzimmer, zwischen dem mutigen Doktor und Ede, meinem Vater. Ich hörte, von meinem Zimmer, wo ich hinter der nur angelehnten Tür verborgen stand, dass nur ständig wiederholte Wickel, bestimmte Tabletten und Medizinen hier helfen konnten. Helfen auch nur, wenn man eifrig sei, eine Schlacht schlüge sozusagen, unter immer neuem Einsatz, mit allen zur Verfügung stehenden Streitkräften. Er drückte sich wirklich so militärisch aus, der eigentlich zivile kleine Dr. Erdemann.
Wir begannen den Kampf. Großmutter marschierte, machte Wickel, brühte Pfefferminztee, dessen Dämpfe von meiner Mutter inhaliert wurden. Mutters Gesicht, schon sonst von der Anstrengung gerötet, fast zwei Zentner Lebendgewicht treppauf, treppab zu tragen, glühte nun dunkelrot in den weißen Kissen, zu denen wiederum das dunkle Holz der Bettstelle einen Bilderrahmen abgab.
Im Kampf mit der Krankheit überkletterte Großmutter täglich sich erneuernde Zeitschriftenhürden neben dem Bett, denn auch jetzt ließ meine Mutter nicht von ihrer Gewohnheit ab, die deutsche Hausfrau in einschlägigen Magazinen zu betrachten. Großmutter stieß sich durch den Papierberg mit wohlgezielten Tritten ihres pantoffelbewehrten Fußes, bevor sie den nächsten feuchten Umschlag anlegte, Aufgüsse von Bockshornklee und Gundelrebe reichte.
»Wird schon werden«, murmelte sie, und die hochrote, stark schwitzende Kranke nickte dankbar. Vernachlässigt wurden jetzt sogar die Hühner, sie legten, wohin sie wollten. Und während von oben der medizinischschwüle Brodem aus dem Krankenzimmer das Haus zu durchdringen begann, brannte in der Küche einmal sogar Großmutters Klümpersuppe an. Nun stieg von unten herauf Gestank von angesetzter Milch und verschmortem Mehlpaps, vermischte sich mit dem Geruch der Krankheit.
Täglich kam Dr. Erdemann, um seinen Wellenritt auf den rosa Wülsten des befallenen Körpers zu absolvieren, täglich presste er einen neuen Holzspatel in den eitrigen Schlund. Danach, während das Wasser im Badezimmer rann, der Doktor sich die Hände wusch, beteuerte er über die Schulter hinweg »es wird schon, es wird schon«, beteuerte es jedem. Alle waren hinter ihm im Flur versammelt, der so dunkel war, dass auch tagsüber das Licht brennen musste: eine trübe Angelegenheit, denn die Sparfunzel ließ den Raum, obwohl neu tapeziert, zu einem Arme-Leute-Gemach herabsinken.
Trotz Dr. Erdemanns gelenkten Angriffen: es wurde anscheinend nichts. Die Patientin verweigerte die Nahrungsaufnahme, begann nach Luft zu ringen. Nur ständige kleine Schlückchen Selterswasser erleichterten die grimmigen Beschwerden.
Großmutters Ledersohlenpantoffeln klapperten durchs Haus. Die Treppe hinauf, durch den halbdunklen Flur, wieder hinunter. Minnamartha saß im Bett, von vielen Kopfkissen gestützt, auf denen sich die zartrosa Blumenund Rankenmuster des Plümos wiederholten.
Wir hörten Großmutter murmeln, sie führte Selbstgespräche, eine Angewohnheit, der sie immer mehr verfiel. Sie stocherte mit dem Feuerhaken im Küchenherd, und dieses Geräusch drang bis nach oben durch das stille Haus. Großmutter duldete keine Niederlage durch Krankheit, das wussten wir. Aber würden auch diesmal ihre Teeaufgüsse helfen?
Der Abend kam, die Hühner saßen auf der Stange, ein letztes Mal auf Legefähigkeit befühlt. Wir hörten Großmutter kommen, und nun stand sie in der Tür, eine Tasse in der Hand, von der der Henkel abgebrochen war. Wir hatten diese Tasse schon vorher gesehen. Als Kükentränke. In der Tasse schwabbelte eine ölige, durchsichtige gelbe Flüssigkeit. Sie roch so durchdringend, dass selbst die übrigen in Flur und Krankenzimmer brütenden Gerüche zurückgedrängt wurden. Ede äußerte die Vermutung, es sei Petroleum.
»Dummkopf!«, sagte die Großmutter.
»Und was soll damit?«, fragte Ede.
Großmutter: »Damit wird jejurjelt!«
So geschah es. Meiner Mutter war es sowieso egal, was noch an ihr versucht wurde. Sie gurgelte. Dann bekam sie einen Erstickungsanfall. Wir glaubten, das sei das Ende. Nur Großmutter war ungerührt. Und dann brach Minnamarthas Abszess auf.
In dieser Nacht schlief niemand in diesem Haus. Großmutter klapperte weiter treppauf, treppab. Minnamartha stöhnte. Ede saß in einem roten Plüschsessel neben ihrem Bett. Eine schwache Nachttischlampe beleuchtete die Szene. Ich lag wach nebenan im Bett, bei offener Tür. Zwischendurch fiel ich in Halbschlaf und träumte von einer riesigen Gangsterlimousine – Pullman -, die in rasender Fahrt an mir vorbeizischte, ich wusste, sie gehörte eigentlich mir, aber sie schien unwiederbringlich verloren. Da sah ich, dass sie im Vorbeirasen einen Faden abspulte, ich fasste diesen Faden, die Limousine kam, schon weit entfernt, zum Stehen, ziemlich ruckartig, und es gelang mir mit heftiger Kraftanstrengung, den Faden aufzuwickeln und die Limousine wieder zu mir heranzuziehen. Leute saßen nun nicht mehr darin, aber trotzdem raste das schwere Auto nach ein paar Minuten wieder davon, und das Spiel begann von vorn. Dazwischen, in den wachen Augenblicken, dachte ich daran, wie wir auf dem Feld Drachen hatten steigen lassen, wie sie, vom Herbstwind emporgetragen, Meter um Meter Drachenschnur in den Himmel spulten, bis ein Fallwind unsere Werke aus Latten und Seidenpapier jäh herunterdrückte, wie sie nach rasendem Sturzflug mit einem unangenehmen Laut aufschlugen und zertrümmert dalagen.
Die Bilder verwischten sich, übrig blieb die Schnur, und immer wieder der schwere Pullman, den ich zurückzerren musste. Nach einigen Stunden hörte ich Minnamartha nebenan deutlich sagen:
»Suppe.«
Ede räusperte sich. »Wie bitte?«
»Suppe. Sup-pe!« Minnamartha wiederholte das Wort laut und deutlich.
Ede: »Meinst du, du willst Suppe essen? Jetzt?«
Minnamartha: »Suppe. Ich möchte Suppe.«
Großmutter kam herbei. »Suppe«, hörte ich auch sie fragen. Minnamartha wiederholte: »Suppe!«
Ich stand auf, wankte schlaftrunken hinüber. »Ich will auch Suppe«, sagte ich.
Großmutter und Ede lachten, dann begann auch Minnamartha zu lachen, ein wenig heiser, aber sie lachte. Und weil Minnamartha lachte, lachten alle anderen auch, immer weiter, eine Lachorgie wurde es, ansteckend, schließlich lachte ich auch, lachten wir alle, Minnamartha hatte einen hochroten Kopf, die Tränen liefen ihr die Wangen hinab, das Bett wackelte. Alle lachten. Lachten.
So hatten wir noch nie gelacht.
»Hühnersuppe?«, fragte schließlich Großmutter.
Minnamartha winkte ab, entkräftet vom Lachen. »Nicht Hühnersuppe. Oder willst du jetzt ein Huhn schlachten?«
Großmutter zuckte mit den Mundwinkeln. »Warum nicht?«
Es war aber noch Rindsbouillon da, sie wurde aufgewärmt. Auch Ede und Großmutter entschlossen sich, ein Schälchen mitzuessen, und bald saßen wir im Schlafzimmer, es war lange nach Mitternacht, und schlürften heiße Suppe.
Minnamartha fragte Großmutter: »Hast du mir wirklich Petroleum zum Gurgeln gegeben?«
»Jewiss. Als wir in Dubberow lebten, war der nächste Arzt vier Stunden weg. Mit Fuhrwerk vier Stunden! Da muss man sich anders helfen.«
Minnamartha schüttelte den Kopf. »Sag das bloß nicht Doktor Erdemann!«
Der Doktor kam am nächsten Tag, sondierte mit Stethoskop und Spatel, war erstaunt. »So plötzlich«, sagte er. »Das Aufbrechen des Abszesses. So was habe ich noch nie erlebt.«
»Wie ist das denn sonst verlaufen?«, fragte Minnamartha.
»Hartnäckig. Sehr hartnäckig«, sagte Dr. Erdemann. Dann empfahl er sich. Großmutter stand unten am Fenster und schaute zu, wie Dr. Erdemann in seinen Opel stieg.
Butter war schon lange rationiert. Die Kartenstelle war vier Kilometer entfernt. Jetzt gab es richtige Lebensmittelkarten. Auch Zucker, Fleisch und Nährmittel wurden rationiert. Großmutter zog ein paar neue schwarze Strickstrümpfe an. »Nu will ich das Zeug mal holen«, sagte sie. Den Vormittag über war sie unterwegs. Dann war unsere Ernährung für einen Monat amtlich gesichert. Minnamartha und Großmutter saßen am Küchentisch und rechneten zusammen, was wir bekamen. »Ein nasser Furz auf die Herdplatte ist das«, sagte Großmutter. »Wir müssen uns was ausdenken.«
Während sie sich was ausdachten, schnallte ich das Koppel um, denn zum zweiten Mal sollte ich den Führer sehen. Das Fähnlein trat Ost-West-Achse an, vor uns sperrten SS-Männer ab, und als wir fast zwei Stunden gestanden hatten, rollten blitzschnell ein paar schwarze Mercedes-Wagen vorbei. Im ersten stand ein Mann mit erhobenem Arm, wahrscheinlich der Führer, hinter den SS-Männern nicht genau zu erkennen. Fünf Minuten später ließ Kulle Rosenbusch uns wegtreten.
Ede fragte, wo ich mich den Tag über rumgedrückt hätte. Ich erzählte es ihm. »So ein Blödsinn«, murmelte Ede. »Ein ausgemachter Blödsinn.« Ich dachte, lass mich aus, Alter, zog Zivilkluft an und ging zu Othmar.
»Mein roter Bruder möge mir folgen«, sagte der, »und seine Silberbüchse mitnehmen, damit sie neben meinem Bärentöter und dem Henrystutzen zu den Coyoten spreche, die sich Kommantschen nennen.«
Karl May, der Siebzig-Bände-Spinner aus Radebeul bei Dresden, hatte es uns angetan. Wir liehen uns die grünen Schwarten aus und ließen sie uns zu Weihnachten und zum Geburtstag schenken. Auf dem Zimmereiplatz suchten wir geeignete Holzabfälle, um daraus die Gewehre herzustellen, wie Old Shatterhand und Winnetou sie trugen. Beschlag der Silberbüchse waren Sohlennägel, die eigentlich für Militärschuhe bestimmt waren. Es gab sie damals bei jedem Schuster.
»Du bist Winnetou«, hatte Othmar bestimmt. Also war ich Winnetou, die edle Rothaut aus dem Stamm der Apachen. Othmar war Old Shatterhand, der mit seinem Jagdhieb stärkste Gegner niederstreckte. »Was suchst du denn immer im Hühnerhof«, fragte Großmutter.
Federn, natürlich, für den Winnetoukopfschmuck.
Die Leghornhennen waren längst mit mir verfeindet, denn wenn sie gerade nicht mauserten und Federn verloren, riss ich ihnen die notwendige Erstausstattung aus den Schwänzen.
Meinem weißen Bruder folgte ich hinaus aufs Feld, wo uns die Laubenkinder nun schon früher sichteten, weil mein Leghornfederbusch weithin leuchtete. Zwar schossen wir Dauerfeuer mit unseren Eigenbauflinten, aber unerschrocken zogen Siegfried und Genossen wieder einmal auf, wir endeten an Marterpfählen, und um uns her sprangen mit wildem Kriegsgeheul unsere Feinde. »Hilfe«, schrien wir, obwohl das bei Karl May nur die miesesten Typen tun und niemals ein Old Shatterhand und ein Winnetou, aber sie ließen schließlich von uns ab. Wie üblich entfesselten wir uns und schlichen zurück in die Siedlung: »Mein roter Bruder möge mir folgen.«
Wie träumten wir vom Blockhaus, das uns aufnehmen sollte, während Kulle Rosenbusch doch dachte, aufrechte braune Kameraden aus uns gemacht, uns zu dem geformt zu haben, was die Parteipropagandisten mit hart wie Kruppstahl bezeichneten. »Ein Blockhaus«, schwärmte Othmar, »mit Kamin. Löwenfelle davor, wie bei Karl May. Oder Büffelhäute, falls es Löwen in Amerika nicht gibt. Stell dir vor, wir kommen aus dem Llano Estacado, der Wüste, in der die Gebeine Verirrter bleichen, wir sind Tage geritten, das Wasser wurde alle, und nun sind wir hier, in unserem Blockhaus, oder in einem Blockhaus, das vielleicht Tante Droll gehört oder Hobble Frank.«
»Tante Droll?«, fragte ich, »hatte Tante Droll ein Blockhaus?«
»Ich weiß nicht«, sagte Othmar. »Ich habe erst vierzig Bände gelesen. Aber vorstellen kannst du dir das doch, nicht?«
»Vorstellen schon.«
»Also, es ist eine Quelle vor der Tür, der frische Trunk, der erste nach dem Wüstenritt! Wir tränken auch die Pferde. Wir haben Pemmikan.«
»Was ist Pemmikan?«
»Bist du plemplem? Trockenfleisch in Streifen geschnitten. Vielleicht kommt auch ein Grizzlybär, du legst die Silberbüchse an, peng, aber er ist nicht ganz tot und keilt nach dir mit der Tatze. Da erledige ich ihn mit dem Jagdmesser. Mit dem Bowieknife. Ich rette dir das Leben.«
Ich drehte meinen Leghornkopfputz in den Fingern. Spinner, dachte ich. Eine Macke hat dieser Othmar, so groß wie der Funkturm. Othmar spann weiter:
»Oder wir sind fast tot in der Wüste, und dann finden Tante Droll und Hobble Frank uns und retten uns und bringen uns in dieses Blockhaus.«
Für Regentage hatten wir auch ein paar kleine Lineolindianer und Tipis, Zelte aus Stoff für sie, und ein künstliches Lagerfeuer mit Batterie. Wir spielten also die Llano-Estacado-Sache oben in Othmars Zimmer. Othmar hatte eine winzige Narbe über seiner linken Augenbraue – Sturz mit dem Dreirad als er fünf war -, und das fand ich sehr schick. Folglich war ich bei unserem Planspiel gleich wieder im Nachteil.
Scheißothmar! Der schöne Knabe, der immer Boss war! Wie satt ich das hatte. Und trotzdem ging ich immer wieder hinüber zu ihm, ließ mich drangsalieren, von seiner dummen, schönen Mama anschauen, als sei ich eben aus der Kanalisation gekrochen, wankte zwischen Esszimmeranrichte und Herrenzimmerklubsesseln umher, in einer fremden Welt, Minnamarthas Konsolenspiegel als Albdruck ins Hirn geprägt!
Wunschkonzert dröhnte aus dem Volksempfänger, den Othmar ganz für sich allein besaß, in einem Polenstädtchen – da lebte einst ein Mädchen ...
Sender Gleiwitz. Böse Polen, so lernten wir, verletzten die Grenze, robbten in deutschem Gras und unternahmen einen Angriff auf diesen Sender. Der Führer schlug selbstverständlich zurück, ab vier Uhr früh, eines schönen Septembertages, und Ede packte einen Koffer.
Minnamartha schluchzte. Großmutter murmelte Flüche.
»Was soll der Koffer?«, fragte ich.
»Vati ist einberufen«, sagte Minnamartha. Damit konnte ich nichts anfangen. »Junge«, erklärte Ede, »es gibt einen Hilfsdienst. Da kümmern wir uns um verwundete Pferde. Jetzt im Krieg.«
Es war glücklicherweise in der Nähe, und auch Onkel Hubert war zur gleichen Einheit eingezogen worden: Man hatte einfach jene rekrutiert, die irgendetwas mit Pferden zu tun hatten, wie Onkel Hubert, den Bierfahrer, oder Ede als Ex-Kavallerist. Vielleicht holten sie auch Prinz Eitel zur Pferdestation?
Minnamartha hatte sich nach der Petroleumkur gut erholt. Sie beschloss, aus mir einen ganzen Menschen zu machen, und beaufsichtigte meine Schularbeiten.
Für Schularbeiten hatte ich wenig Sinn, hinter der Blattpflanze, die höher und höher wuchs. Ich war Winnetou, oder Kulle Rosenbusch verlangte, dass wir marschierten. Sondermeldungen von Siegen der deutschen Truppen tönten aus den Volksempfängern, es war ja ein Blitzkrieg, und die paar Tage, so meinten wir, konnten wir gut ohne Schule auskommen. Dazu noch Bruchrechnen!
Jene Feldgrauen, die auf den Zigarettenbildchen idyllische Übungen abgehalten hatten, fuhren nun nach Lodsz, was bald Litzmannstadt hieß. Wann konnten wir endlich abhauen?
»Spinn man nicht«, brummte Großmutter. »Was wollt ihr eigentlich fressen?«
»Aber Großmutter, wir haben doch die Karten. Die Lebensmittelkarten.«
Großmutter stampfte mit dem Fuß auf. »Hier, geh zu Puvogel, du dummer Lümmel, und hol ab, was wir diese Woche bekommen.«
Zwar bezog Wanda Puvogel manchmal noch ihren Posten, aber sie stieß niemand mehr in die Pfütze. Es hätte zu viel Ärger gegeben, wenn sie Fadennudeln oder deutsche Einheitsseife, alles auf Karte, versenkt hätte. Ernie Puvogel, ganz Igel, wog genau, immer fünf Gramm zu seinen Gunsten, er war einstweilen von der Einberufung zurückgestellt worden. Ein Wunder, denn die verdächtigen Laubenkolonisten durften als Erste ins Feldgrau schlüpfen und ihre Schädel gefährden. »Noch zweiundsechzig Komma fünf Gramm Margarine«, sagte Puvogel sanft, wog, verpackte notdürftig in Fetzen vom Völkischen Beobachter, das Einkaufsnetz blieb schmächtig. Ich zahlte, ging zurück durch altvertraute Gefilde der Laubenkolonie Tausendschön, ein Extausendschönchen, von Puvogel betreut, schüttete auf den Küchentisch, was ich gebracht hatte.
»Siehste«, sagte die Großmutter.
Sie hatte recht. Zum Leben wars ein bisschen wenig.
»Was machen wir, Menschlein?«, fragte sie.
»Mehr Hühner vielleicht?« Mir grauste.
»Ja, mehr Hühner. Und Enten. Und mehr Karnickel. Wenn dein Vater Urlaub hat, könnt ihr größere Ställe bauen. Und einen Ententeich. Und …«
Oh. Mütterchen des gefiederten Volkes! Tausend Schwanzfedern hätte ich bald ernten können! Die Glucke gluckte im Keller. Bald schauten aus dem schwach erwärmten Bratrohr in der Küche kleine gelbe Küken. Dann hüpften sie in der Wohnung umher, und gelegentlich trat jemand auf eins. Wenn mein Vater und Onkel Hubert von ihrer langweiligen Station vorbeikamen – was sie häufig taten -, waren die Küken sehr gefährdet, denn die Militärschuhe hatten Eisenabsätze.
»Mein Gott«, schrie Minnamartha, »ihr Mörder! Wer hat das Küken zertreten?« Sie schmiss das Opfer in den Mülleimer. Großmutter zerschnitt harte Eier in kleinste Würfel, als Geflügelbabykost. »Kann schon mal passieren«, murmelte sie. Ede und Onkel Hubert wanden sich verlegen und trauten sich gar nicht mehr, durch die Wohnung zu gehen. So blieben sie meistens auf dem Sofa mit der Umrandung sitzen und tranken Bier. Gleich aus der Flasche. »Habt ihr denn nichts zu tun?«, rief Minnamartha. »Die jungen Enten müssen abgeholt werden. Bei Krauses. Im Keller sind Körbe.« Und zu mir: »Menschlein, was ist mit den Schularbeiten?« Ich also wieder hinter die Blattpflanze, aber mit langsamer Landung. Wie ein Fieseier Storch. Tinte war auch alle, da musste ich wieder aufstehen. Die Männer waren weg, aber Minnamartha schwebte mit Ausklopfer heran. »Ich werde dir beibringen Schularbeiten machen«, schrie sie in abgekürzter Grammatik. »Himmel, so eine Trantüte! Kriegt die paar Brüche nicht raus! Ich werde dich …«
Sie schwang den Ausklopfer, ich stieg steil auf, eine Me 109 nun, zog eine Schleife und entging dem ersten Hieb mit sportlichem Zwischenraum von zwei Zentimetern. Das Haus mit seinen ineinandergehenden Zimmern war günstig, Minnamartha dick, eher ein Bomber als ein Jäger, ich kreiste, bis sie müde auf die Chaiselongue sank, wo sie murmelte: »Welch ein Kind! Womit habe ich das nur verdient?«
Othmar kam eine Stunde später, Ede und Onkel Hubert kamen mit den Enten, die sie auf dem Teppich aussetzten, und die kleinen Enten, halb Flaum, halb Federn, schissen alles voll.
Minnamartha: »Sind sie nicht süß?«
Großmutter: »In den Stall damit!«
Es war ein neuer Stall, aus Brettern und Dachpappe schnell zusammengenagelt, mit riesigem Auslauf. »Da in die Mitte«, sagte Ede, »kommt der Teich hin. Sonntag betonieren wir ihn.«
»Wir brauchen Futter«, sagte Großmutter. »Für die Hühner. Und für die Enten.«
Ede hatte versucht, bei Fouragehändlern einiges aufzutreiben, aber die Zeiten waren schlecht. »Ein Sack Kleie ist alles«, meldete er. »Gut«, sagte Großmutter. »Dann geht Brennnesseln mähen, die Brennnesseln stampfen wir, dann kommt Kleie darüber. Ist gut für Enten.« Brennnesseln mähen? Ich besprach die Geschichte mit Othmar.
»Brennnesseln brennen«, sagte philosophisch mein weißer Bruder Old Shatterhand. Nirgends bei Karl May stand etwas über den Umgang mit Brennnesseln. Sie waren beim Spielen hinderlich, in dieser Gegend wuchsen eine ganze Menge, und sie dienten dazu, alte Matratzen, Fahrräder und Emailleeimer ohne Boden zu tarnen, im Winter kam der ganze Mist zum Vorschein. Jetzt sollten wir das Zeug mähen und den Enten vorsetzen? »Ente gut, alles gut«, witzelte Onkel Hubert. Niemand lachte. Aber das war er gewohnt.
Einen Tag später kam Mathilde angeradelt, in schnieker BDM-Kluft, um die süßen kleinen Enten zu besichtigen. »Ach, wie lieb«, sagte sie. Sie beugte sich über den Draht, der den Entenauslauf umgab, und Othmar und ich starrten ihr auf die blassen Kniekehlen, die deutlich sichtbar wurden, weil sich der Rock hochschob. »Ob sie unsere Indianersquaw wird?«, flüsterte Othmar. Ich schüttelte den Kopf. »Die liebt nur den Führer«, sagte ich. »Oder Baldur von Schirach.«
Othmar passte Mathilde trotzdem ab, fragte sie wegen der Indianerangelegenheiten und holte sich eine Ohrfeige. »Du spinnst wohl«, empörte sich Mathilde. »Jetzt, wo uns der Führer braucht, denkst du an Indianer.« Mit fliegendem BDM-Faltenrock radelte Mathilde davon.
Es gehört zu den Eigenarten slawischer Menschen, dass sie kaum je etwas wegwerfen. Obwohl wir nun germanische Rassenbescheinigungen besaßen, behielt auch Minnamartha diese Eigenschaft. Das erwies sich jetzt als nützlich. Denn in dem Kramuri, der auch den Keller des neuen Hauses schon zu einer interessanten Wildnis gestaltet hatte, fanden sich viele einzelne Handschuhe, linke, rechte, die, als Fundsachen von Minnamartha zusammengetragen, nun den Brennnesselsammlern dienen sollten.
Mit Mähen war nämlich nichts, wegen der Emailleeimer und alten Fahrräder, und dann machten auch die dicken Brennnesselstiele die Sense bald stumpf. Also rupften wir nun, verbrannten uns trotz der Handschuhe, stopften in Säcke, trugen heim und zerstampften.
Froh waren die Enten. Sie wuchsen, verloren ihren Flaum. Aber Wasser musste her. »Wann baut ihr den Entenpfuhl?«, fragte Minnamartha jedes Mal, wenn Ede auf seinem schwarzen Dienstfahrrad von der Veterinärstation geradelt kam. »Die Enten wollen schwimmen«, sagte Großmutter mit Vorwurf in der Stimme.
Wie fehlte uns Onkel Adolar, der elegante Schnellmaurer, Sonntagshandwerker und Erfinder. Aber er eroberte gerade Polen, als Panzergrenadier, und nur Tante Linchen kam, unsere Federviehzucht mit misstrauischen Blicken betrachend, als sähe sie uns in naher Zukunft als Opfer all der Schwimmvögel und Bratrohradler. Denn eines Tages, so ließ sie auch durchblicken, würden wir das Federvieh ja nicht mehr füttern können, und die Kaninchen, und dann würden die Tiere sich über uns hermachen, uns annagen, die Hühner würden uns auf die Schultern fliegen und uns die Augen auspicken – ein ruhmloses Ende der Familie Kaiser, Bärlappstraße, Strafe für die Vermessenheit, dem Hunger zu trotzen!
Tante Linchen trotzte nicht, musste auch nicht so sehr, die Winzige kam mit zwölfhundert staatlich verordneten Kalorien schon eher aus. Außerdem reiste sie jeden Sonntag an, um Großmutter Onkel Adolars neueste Feldpostbriefe vorzulesen, und aus Dank bekam sie heimlich einen Blumenkohl zugesteckt oder ein Glas Eingewecktes. »Wie würde Adolar sich freuen«, murmelte dann Tante Linchen ergeben und verschwand mit der nächsten S-Bahn.
Mathilde kam geradelt und sagte: »Vati hat fünf Sack Zement.«
»Fünf Sack«, wiederholte Ede, »das kann reichen.« Reichen für den Entenpfuhl, der nun in Angriff genommen wurde.
Onkel Hubert und Ede schachteten im Entenkäfig eine Kuhle aus, warfen Hügel märkischen Sandes auf, von den Jungenten beäugt. Auf einer ausgehobenen Stalltür mixten sie Zement und Kies, ich schleppte Wasser, und Onkel Hubert glättete bald die erste Schicht. Als zweite Schicht kam Maschendraht hinein, damit der Zement bei Frost nicht Risse zog. Dann die dritte Schicht, wieder dicker Beton, und am Schluss übernahm der kräftige Onkel es, in Feinarbeit die wasserdichte Glattschicht aus fettem Zement aufzutragen: Binnen eines Tages war das Meisterwerk vollendet, ein Entenswimmingpool, damals Pfuhl genannt, Größe zwei mal anderthalb Meter, an der tiefsten Stelle fünfzig Zentimeter tief, mit einer Rampe, auf der die Enten ins Wasser watscheln konnten.
Sie taten es zu früh, noch bevor das Wasser eingelassen war, und ewig behielt der Beton ein paar Abdrücke von Entenfüßen. Mit Schwimmhäuten.
Erst zwei Tage später, die Männer waren längst wieder an ihre kriegswichtigen Posten geeilt, bewässerten Großmutter und ich die Schwimmanstalt, Großmutter lockte »Wulle, wulle, wulle«, und die Enten rannten begeistert ins Wasser. Mit fünf Sack Zement war eines unserer Hauptprobleme aus der Welt geschafft. Enten hatten wir sogar in der Schule durchgenommen, und in meinem alten Lexikon stand: Enten (Anatinae), Unterfamilie der Zahnschnäbler aus der Ordnung der Schwimmvögel, sind Vögel mit kurzem Leib, dickem Kopf, mittellangem, auf der Firste gewölbtem, an den Rändern scharf bezahntem Schnabel mit kleinem Bürzel, kurzem oder mittellangem Hals, mittelgroßen, schmalen, spitzigen Flügeln, kurzem, breitem Schwanz und weit nach hinten gestellten, niedrigen, bis zur Ferse befiederten Füßen mit großen Schwimmhäuten und schwachen Krallen. Die Männchen tragen ein buntes Hochzeitskleid.
Ich las das Großmutter vor. »Quatsch«, sagte sie. »Bei uns nicht. Wir haben Essenten.«
Davon stand in keinem Buch etwas, es sei denn, die Hausente Anas boschas domestica war gemeint, aber auch sie sah bunt aus im Lexikon, während unsere Enten weiße Federn bekamen und behielten, auch die Erpel. Erst Othmars Mutter, von unseren Reden über den Ententeich angelockt, stellte fest: »Es sind Pekingenten.« Chinesen also, und Othmar und ich malten uns aus, wie die Ahnen unserer Speiseenten in Palästen gelebt hatten, gehätschelt von Mandarins mit Zöpfen, und gelegentlich von Chinakaisern verzehrt. Unsere Vorstellung von China entsprach etwa dem, was wir aus einer Nachmittagsvorstellung von Madame Butterfly mitbekommen hatten, einer entenfreien Aufführung übrigens.
Unsere Pekingenten fuhren mit ihren Schnäbeln in dem mühsam von uns beschafften Futter umher und vertilgten Unmengen. Manches warfen sie in ihren Pfuhl, fischten es wieder heraus, aber nach drei Tagen schafften sie es jedes Mal, eine Schlammschicht in den unteren Regionen zu verursachen, die uns zwang, den Pfuhl auszuschöpfen und neues Wasser einzulassen. Es war eine Heidenarbeit mit diesen Schwimmvögeln, Othmar sah ich kaum mehr. Winnetou vergaß seine Silberbüchse.
»Was machst du denn den ganzen Tag?«, fragte Othmar. Ich wies auf die zwei verschiedenen Handschuhe, die ich trug. »Brennnesseln rupfen«, sagte ich. Othmar sagte: »Mein roter Bruder möge mir verzeihen, wenn ich das nicht verstehe.« Ich verzieh ihm und radelte am selben Nachmittag einen weiteren Sack Kleie nach Hause, den Ede auf dem Tauschweg organisiert hatte.
Großmutters Zimmerchen diente nun als Fouragierzentrale. Von hier aus schickte sie Postkarten an ländliche Verwandtschaft, von der ich noch nie etwas gehört hatte, aber sie war weit verteilt über Uckermark und Mecklenburg, bis nach Hinterpommern reichten unsere Verbindungen. Es gab sogar einen Onkel Willi Kaiser, der einen großen Hof besitzen sollte, irgendwo in der Nähe der Schnellzugstation P., einen Onkel, mit der Würde eines Ortsbauernführers bekleidet.
Onkel Willi schickte als Erster ein Dreißigkilopaket mit Hafer, und auch von anderen Verwandten kamen Pakete und Päckchen.
»… das reicht doch nicht hin und nicht her«, sagte Großmutter. »Ich muss mir was einfallen lassen.«
»Was denn?«
»Dämlack, so schnell jeht dat nich.«
»Worüber streitet ihr denn schon wieder«, sagte Minnamartha, die, glänzend erholt, nach ihrer Petroleumkur, jetzt giftgrüne und rosa Fondants auf Zuckerkarte schleckte. Großmutter sah sie an. »Minnamartha, du könntest zu Willi reisen.«
»Ich, zu Willi?«
»Mir ist da son’n Jedanke jekommen.« Großmutter entwickelte einen kühnen Plan. Im Rahmen der Butterbewirtschaftung hatte man den Bauern verboten, selbst zu buttern. Sie mussten ihr volles Milchkontingent abliefern und bekamen ihre Butter von der Molkerei zugeteilt. Behördenangestellte reisten auf die Dörfer und versiegelten die Zentrifugen. Manche Bauern besaßen zwar noch ein altes Butterfass für Handbetrieb, aber das war eine zeitraubende Prozedur, und viel Butter gab es auch nicht pro Gang. Inzwischen war jedoch die Butter wertvolles Handelsobjekt auf dem schwarzen Markt geworden. Die Städter kamen mit ihren Fettrationen nicht aus und zahlten Höchstpreise. Solche schwarze Butter konnte man aber nur herbeischaffen, wenn man wieder mit Zentrifugen butterte.
»Sie brauchen Zentrifugen«, sagte Großmutter. »Wir liefern an Onkel Willi Zentrifugen, und er verteilt sie weiter und besorgt uns Hühnerfutter.«
Meine Mutter tippte sich an die Stirn. »Tsss, tsss«, machte sie. »Da habe ich doch zwei Fragen. Erstens: Meinst du, ein Ortsbauernführer, ein Nazi wie Onkel Willi, verteilt verbotene Zentrifugen? Zweitens: Woher willst du die kriegen?«
»Geh mal raus«, sagte Großmutter zu mir. Aber dann vergaß sie, dass ich zuhörte, und meldete: »Da kenne ich einen Klempner, auch aus dem Korridor. Ich weiß, er kann so was machen.«
»Und Willi?«
»Willi liebt Geld. Der macht mit. Da kannste Gift drauf nehmen.«
Minnamartha nahm ein neues Fondant, und damit begann unsere Schmuggelorganisation zu arbeiten. Der Mann aus dem Korridor baute eine vereinfachte Form jener Lefeldt’schen Zentrifuge nach, die damals allerorts in Betrieb war. Prinzip: Mit etwa tausend Umdrehungen in der Minute werden die schwereren Teile der Milch nach außen geschleudert, während die leichteren sich um die Achse herumballen. So gibt es außen Magermilch und innen Fett, also Butter.
Die Ausmaße unserer Schwarzhandelszentrifugen waren so gewählt, dass man die Apparate auseinandergenommen in Koffern und Paketkartons verstauen konnte, von Ernie Puvogel bekamen wir dessen Restbestände an Persilkartons. Minnamartha reiste tatsächlich aufs Land, Onkel Willi und die anderen Bauern waren sehr glücklich, und die Persilkartons trafen, mit Hühnerfutter gefüllt, per Post wieder bei uns ein.
Schwere Strafen standen auf solchen Vergehen, Sabotage war das gegen die Kriegswirtschaft. So wickelten wir die Tauschgeschäfte mit großer Vorsicht ab, und ich glaube, wir flogen nur deshalb nicht auf, weil unser Verteiler ein über jeden Verdacht erhabener Ortsbauernführer war: Unser Onkel Willi!
Die Stadt war dunkel geworden. An den langen Winterabenden drang kein Lichtschein mehr aus den Fenstern, nicht nur, weil wir, wie vorgeschrieben, den rationierten Strom sparten. Dunkel machten die einstige Lichterstadt jene Maßnahmen, die uns gegen feindliche Flieger schützen sollten. Noch waren sie ja nicht da, wir siegten, die polnische Luftwaffe war am Boden zerstört, wie es in den Wehrmachtsberichten hieß. Verdunkelungsrollos dichteten alle Offnungen ab, durch die ein Lichtschein nach außen fallen konnte. Noch heute träume ich, dass ich vergessen habe, ein Rollo zu schließen. Blockwart Kutschke schleicht wie damals durch die Straßen, um zu kontrollieren, und ruft: »Licht aus!« Polnische Zwangsarbeiter mit dem P im gelben Rhombus auf den Jacken malten Bordkanten mit Leuchtfarbe an. Im Dunkeln liefen wir durch eine Geisterstadt. Die wenigen Autos, die noch fuhren, hatten Kappen auf ihren Scheinwerfern, mit schmalen Schlitzen. Die Scheiben von Autobus und Straßenbahn waren ultraviolett bemalt. Die Leute darin sahen aus, als säßen sie in einem Aquarium. Fast alle trugen Leuchtplaketten an den Aufschlägen ihrer Mäntel, einfach runde oder quadratische oder aber leuchtende Möwen und sogar Mickymäuse, denn Amerika befand sich noch nicht im Krieg, und die Mickymaus war erlaubt. Wo keine Rollos hingen, waren unsere Innenfenster mit Verdunkelungspapier tapeziert, pechschwarz. Weil man im Winter diese Innenfenster kaum öffnen mochte, lebten wir jetzt auch am Tage im Halbdunkel, schmuggelnd, überlebend, fürs Vaterland diensttuend, Zentrifugen in einem Geheimversteck im Keller, während draußen das Federvieh die mühsam herbeigeschaffte Nahrung verschlang. Minnamartha verlor wieder einmal zwanzig Kilo und erschien uns äußerst aktiv, wie sie, von Großmutter gesteuert, in ungeheizten Dampfzügen über Land fuhr.
Großmutter freundete sich vorsichtshalber mit Kutschke an, der seine Neugier nur schwer zügeln konnte und bei uns unbedingt Kellerbesichtigungen vornehmen musste. Das hatten wir nicht gerne, aber Großmutter wusste einen Trick. »Kommense man, kommense«, winkte sie dem Gewaltigen, aber nie sah Kutschke, was er vielleicht vermutete und gerne entdecken wollte: Unser Geheimversteck für Schmuggelware. In den Nebenkeller führte ihn Großmutter, wo es im Halbdunkeln gluckste und gluckerte, denn hier standen in einer Reihe sechs oder sieben große Tonkruken, in denen Sauerkirschensaft vergor, mit Weinstein angesetzt. Bei Erreichung eines gewissen Reifegrades gewann Großmutter daraus einen Grundstoff, den sie durch Zusatz reinen Alkohols zu einem teuflischen Kirschlikör verwandelte. Auf Flaschen gezogen, diente auch dieser Kirschlikör als Tauschartikel, zur Bestechung, zur Beruhigung und Benebelung der Verwandtschaft, und – als Waffe gegen Kutschke, Block- und Luftschutzwart.
»Ich muss sowieso probieren, wie weit der Saft gegoren ist«, gab Großmutter vor, beugte sich über die Kruken, die weiterglucksten, leuchtete auch wohl mit einem Streichholz hinein oder bat Kutschke, das mit der Taschenlampe zu tun. Aus der Schürzentasche zog sie zwei Gläschen, meinte: »Wollen wir?«
Kutschke wollte. Der fertige Likör aus der stets bereitstehenden Flasche hatte seine milden fünfunddreißig Prozent, aber es musste ja nicht bei einem Gläschen bleiben. »Auf den Führer!«, sagte Kutschke. Zack, mit einem Schluck war das Gläschen leer. Großmutter hielt mehr vom genussreichen Süffeln, und so kam es, dass Kutschke. bald auf Göring, Himmler, die Partei und alle Volksgenossen trank, und zum Schluss auf Großmutter, die nur leicht umnebelt im Keller stand, Gläschen einfüllte und schadenfroh zusah, wie Kutschke alle Schnüffelvorsätze vergaß und sich einen andudelte.
»Gut, was?«, fragte Großmutter. »Wollen Sie nicht ein Fläschchen mitnehmen? Ist gut gegen Grippe.« Aber Kutschke wollte nicht, das empfand er als Bestechung. »Lieber noch einen hier«, meinte er, und setzte sich vorsichtshalber auf die grünen Blumenkästchen, die den Winter über im Kellergang abgestellt waren.
Also noch ein Gläschen auf den Reichsluftschutzbund. Dann war Kutschke vollfett wie eine Friedensleberwurst. Großmutter stieß und wuchtete den Würdenträger die Treppe hinauf, entließ ihn ins Freie, und wir sahen Kutschkes Taschenlampenkegel durch die Finsternis schwanken. Manchmal, wenn Kutschke stolperte, verschwand der Lichtkegel. In der Haustür stehend, Licht aus, hörten wir ihn fluchen und sich wieder aufrappeln.
Auch Großmutter war nach solchen Spionageabwehrtaten heiter bis beschwingt und benutzte die Stimmung, um schnell ein paar schlafende Enten aus dem Stall zu holen und zu köpfen. Am nächsten Tag durchzog Bratenduft das Haus und wir empfingen keine Besucher, solange unsere Mastvögel in der schweren Eisenpfanne schmurgelten.
Übers Feld zischen im Tiefflug zwei Me 109. Auf der weiten mit Raureif bedeckten Fläche stehe ich, ein dunkler Punkt. Auf dem Weg entlang der Lehrter Bahn kommt eine Gestalt auf mich zu. Es dauert eine ganze Weile, bis ich erkennen kann, wer es ist: Herr Gallert. Er sollte eigentlich auch nach Polen marschiert sein, aber die Partei hat ihn freigestellt. Gallert ist wieder ganz in Braun. Aber mein Gruß ist lässig, Gallert bedeutet mir nicht mehr so viel wie damals, als ich an seinem Fahnenmast vorbeiklotzte. Partei, SA und Uniformen haben von ihrem Glanz verloren, seit die Städte dunkel und die Lebensmittel knapp sind. Die Farbe fehlt in unserem Leben, ist für eine Weile ausgeknipst wie die bunten Sarottimohren im Zentrum. Gallert erwidert meinen Gruß, so zackig, dass er fast auf dem raureifbedeckten Gras ausrutscht. »Morgen ist Eintopfsonntag«, sagt er, »dran denken, Pimpf!«
Der Pimpf steht immer noch auf dem Feld, Gallert ist längst verschwunden. Mein Atem friert in der Luft. »Kohlrüben«, denke ich. »Morgen gibt’s Kohlrüben.«
»Was hat er gesagt?«, will Minnamartha wissen. »An den Eintopfsonntag hat er dich erinnert? Gallert?«
Ich nickte.
»Nicht so schlimm«, meint Großmutter. »Wir haben noch Kohlrüben im Keller.«
Habe ich es nicht geahnt? Die Kohlrübe, bei uns eigentlich Wruke genannt, von anderen Leuten Boden-, Erdoder Unterkohlrabi oder Dorsch, fressen wir nun wahrscheinlich den ganzen Winter hindurch. Wir ziehen sie im Garten, früher wuchsen da ihre eleganteren Verwandten, die Teltower Rübchen. Anfang November haben wir die dicken Wruken aus dem Boden geklaubt und im Keller eingelagert, die Kaninchen mögen sie gerne, aber an den staatlich verordneten Eintopfsonntagen taucht die Wruke auf unserem Tisch auf.
»Fürchtet euch nicht«, sagt Großmutter, »ich koch ein bisschen Entenklein mit, dann schmeckt’s gut.«
»Und wenn Kutschke kommt und in den Topf guckt?«
»Kriegt er Kirschlikör.«
Großmutter glaubte fest an die alles verschleiernde Macht des Kirschlikörs. Unser Leben begann, sich auf eine Art Überlebensprogramm zu reduzieren, das merkte sogar ich. Dabei waren wir doch erst im ersten Kriegsjahr, siegreich dazu.
Am Sonntag ließ Ede wieder sein Pferdelazarett im Stich, viel verdarb er nicht damit, denn das einzige Pferd dort war auf einer riesigen Wandtafel abgebildet, teilweise aufgeschnitten, wie in den Biologiebüchern der Mensch. Das Pferd war wartungsfrei. So saßen wir alle um den Wrukentopf versammelt, der Dampf verschleierte unsere Gesichter, wir löffelten Eintopf. Allerdings war die Verfeinerung von Wruken mit Entenklein wirklich zu empfehlen: Es schmeckte erstaunlich gut, besser noch als jene Kälberzähne genannten Graupen, die es auf Edes Pferdestation viermal die Woche gab. Ich dachte an meine Fünf in Latein, von der noch niemand wusste, und an Mathildes Kniekehlen. Sicher trug sie jetzt lange Wollstrümpfe, denn es war kalt geworden, auch mit Heizmaterial musste gespart werden. In unserem Kohleküchenbeistellherd verbrannten wir Holzabfälle, die wir im Wäldchen sammelten, und die Küche war nun Zentrum unseres Lebens geworden. In die kalte Wohnstube ging fast niemand mehr. Meine Schulhefte hatten Fettflecken. Aber das merkte niemand. Außer unserem Biologielehrer mit dem SS-Bonbon am Revers (er war natürlich freigestellt) hatten wir nun bereits pensionierte Lehrkräfte, einen Englischlehrer mit Beinprothese aus dem Ersten Weltkrieg, der aber ein Buch The Britsh Commonwealth of Nations verfasst hatte, wir durften es auswendig lernen. Der Erdkundelehrer war fast blind, kleinere geografische Einheiten als die Gobi konnte er auf den Wandkarten nicht mehr orten, und wir trieben in seiner Stunde Unfug. Besonders schauten wir uns die Pornofotos an, die Dieter Rohde, letzte Bank, einschleuste, und wir bewunderten diesen Knaben, weil er angeblich elfmal hintereinander konnte. Othmar fand das scheußlich. »Mein roter Bruder wird mir recht geben«, sagte er, in den Jargon unserer Karl-May-Tage zurückfallend, »dass dieses Bleichgesicht ausgerottet gehört.« Ich war nicht so ganz der Meinung. Die Fotos interessierten mich, und während der alte Lehrer sich über den Hindukusch verbreitete, sah ich mir an, wie zwei Herren es mit einer einzigen Dame trieben, schwarz-weiß, denn Farbfotos gab es damals noch nicht. »Ist doch Klasse«, sagte ich zu Othmar. »Besser als die Rio Ritas von Onkel Didi.«
»Du wirst gleich versenkt«, murmelte Othmar drohend. »Komm lieber mit, die Sammelbüchsen holen.«
Lumpen, Knochen, Leder und Papier sammelten wir, nun auch Geld fürs Winterhilfswerk. In Winteruniform, mit Überfallhose und Skimütze, Schweinsleder-HJ-Halbschuhen auf Sonderbezugsschein, stand ich an der Straßenecke, die Rasselbüchse schwingend, ein kleines Rädchen der Bewegung. Tante Lizzi, immer noch mit Ponyfransen und langer Zigarettenspitze, arbeitete in einer Dienststelle der Partei, Ortsgruppe, und verteilte die Büchsen.
»Hier, eine für dich, eine für Othmar«, sagte sie. »Voll wieder abgeben. Die Abzeichen gibt es dort drüben.«
Tante Lizzis Mann war jetzt Bomberpilot. Er flog eine He 111 und hatte sich beim Angriff auf Warschau ausgezeichnet. Die He 111 hatte schon die Legion Condor in Spanien erprobt, ein bewährter Flugzeugtyp mit gläserner Bugkanzel und dadurch typischer, unverwechselbarer Silhouette.
Wir verkauften winzige Flugzeuge aus silbrigem Kunststoff, wenn wir mit den Sammelbüchsen klappern gingen: perfekte kleine Nachbildungen der richtigen Maschinen, der He 111, Me 109, Arado und Fieseier Storch. Wir kannten uns aus. An den Flugzeugen waren Fäden befestigt, damit man sie sich ins Knopfloch flechten konnte. Irrtümlich herrschte auch die Meinung, dass man nicht weiterspenden müsse, wenn man erst so einen Plastikadler unterm Kinn trug. Aber darauf konnten wir keine Rücksicht nehmen, wir hielten allen die Büchse unter die Nasen, ob Volks- oder Parteigenosse, ob nach oder vor vollzogener Spende. So wollte es Kulle Rosenbusch. Für zwanzig Pfennige eine He 111! – Viele gaben mehr, Geld hatte man ja in jenen Tagen.
An anderen Sonntagen verkauften wir kleine Weißbücher über Polen, in denen die Tapferkeit unserer zivilisatorisch hochstehenden Soldaten und polnisches Untermenschentum anschaulich gegenübergestellt waren. So lebte also der Arbeiter in Krakau, mit Waschschüssel auf einem Drahtgestell und in der Ecke drei schmutzigen Kindern in einem verlotterten Bett. Dagegen unsere Feldgrauen, wie sie Essen an die abgestumpfte Zivilbevölkerung ausgaben, humane Taten überall. Ich befragte Großmutter über den Wahrheitsgehalt dieser Darstellungen. »Dussel, verdammter!«, sagte sie.
Gegen Weihnachten verkauften wir erzgebirgisches Holzspielzeug, alles auch ganz klein, Schaukelpferdchen, nur einen Zentimeter hoch, Nikolause, Nussknacker. In Heimarbeit hergestellt von fleißigen deutschen Händen. Gallert lief jetzt als Oberkontrolleur in der Ortsgruppenstelle umher, mit nagelneuen Breeches, die an den Seiten abstanden wie Elefantenohren. Misstrauisch umkreiste er Tante Lizzi, die Rauchwölkchen aus ihrer Zigarettenspitze in seine Richtung stieß, aber Gallert traute sich nicht, über Tante Lizzi ein Rauchverbot zu verhängen: Die Frau eines frisch dekorierten Bomberpiloten hatte Privilegien.
Wenn wir unsere Sammelbüchsen abgaben, war Tante Lizzis Tisch über und über bedeckt mit schmutzigen Münzen, klein gefalzten, total verdreckten Markscheinen, zerfledderten größeren Scheinen. Tante Lizzi löste die Plomben von unseren Büchsen, stürzte den Inhalt vor sich auf die Tischplatte, und begann zu zählen. Die Pfennige, Sechser, Groschen und die Markstücke und Fünfziger bildeten Säulen, der Betrag wurde in Listen vermerkt, mit der Nummer der Büchse. Rekordsammler waren Othmar und ich nicht, das sahen wir an den Summen, die andere Winterhilfswerkklapperer mitbrachten. Aber wir liefen so durch, ohne Anstände.
»Zweiundsechzig Mark dreißig. Karl Kaiser, Stütze der Bewegung«, spottete Tante Lizzi. Zu Othmar sagte sie nichts, die beiden schwiegen sich gerne ein bisschen an.
Wirklich sah die deutsche Frau anders aus als Tante Lizzi. Wir sahen das auf den Gemäldereproduktionen der Ausstellungen im Haus der Deutschen Kunst. Vor allen Dingen rauchte die deutsche Frau nicht, schon gar nicht aus langen Zigarettenspitzen, die an Zeiten erinnerten, als dem internationalen Judentum angehörende Schieber versucht hatten, sich zu bereichern, das Vaterland in den Schmutz zu ziehen, ihrer internationalen Mafia auszuliefern. Bis es dann von einem rein arischen Menschen gerettet wurde, einem Mann, bei dem die Ohrläppchen nicht angewachsen waren. Auch er rauchte nicht, und auch sonst tat er nichts Unedles, dachte man.
Preisfrage: Wie lange würde Tante Lizzi, umgeben von biederen Kopftuchschwestern und strammbeinigen Parteiamseln, ihre Rauchwolken ausstoßen dürfen?
»Noch ist Hermann Göring in Gnade«, sagte Ede.
»Wieso noch?«, meinte Onkel Hubert. »Meinst du, das wird sich je ändern?«
»Denkst du, die Tommys haben keine Flieger? Warte mal ab, bis sie uns die ersten Bomben aufs Hirn pfeffern.«
Das hielten alle für unmöglich. Hatte Göring doch im Rundfunk erklärt, er wolle Meier heißen, wenn nur ein einziges Feindflugzeug Bomben auf deutschen Boden… Und Frankreich war noch zu besiegen.
Dieter Rohde wichste nun in der Geografiestunde, Zuschauen kostete fünfzig Pfennige.
Auf Abschnitt A der Fettkarte gab es eine Sonderzuteilung von zweihundertfünfzig Gramm Schweineschmalz.
Eine einzige sorgenvolle Unterhaltung zwischen Ede und Onkel Hubert belauschte ich, im herbstlichen, abgeernteten Maisfeld vor Onkel Huberts Laube versteckt.
»Machst du dir nicht manchmal Gedanken über Mathilde?«, fragte Ede Onkel Hubert, auf die BDM-Begeisterung seiner Nichte anspielend.
»Was heißt Sorgen«, meinte Onkel Hubert. »Beim BDM ist sie gut aufgehoben. Stell dir vor, sie würde auf der Straße herumlungern. Da hätte ihr schon längst irgendein Rüpel unter den Rock gelangt. Außerdem, dein Karl, der macht ja auch mit.«
»Was blieb uns übrig? Du weißt doch, die Sache mit der arischen Abstammung.«
»Siehst du. Und Mathilde hat keine Mutter mehr. Soll ich sie an die Leine legen? Dann schon besser BDM.« Das wars. Wir waren gut untergebracht.
So wie Dr. Erdemann seine Stethoskopritte auf den Körpern seiner Patienten absolvierte, wie Großmutter Entenklein einweckte, Minnamartha zwischen ihren Futterexpeditionen Fondants lutschte, so spielte Gustavchens Vater den Scherzbold der Nation. Als der alte Herr Fanselow wurde er bei uns geführt, Gustavchen war ein Nachkömmling, seine Schwester acht Jahre älter, und Vater Fanselow recht betagt und daher nicht erwünscht für den aktiven Kriegsdienst. Der alte Fanselow hatte eine Glatze, wie Gustavchen im Sommer, aber beim Vater war sie echt, nicht rasiert.
Die Platte glänzte.
Fanselows, Besitzer eines Haustyps B, mogelten sich auf ihre Art durchs Leben. Nach Großmutter galt die pferdegesichtige Frau Fanselow, wesentlich jünger als ihr Mann, als eifrigste Marschiererin. Sie war eigentlich dauernd zum Bahnhof oder vom Bahnhof unterwegs, behängt mit verschiedensten Taschen, in denen sie Tauschware aus der Stadt hinaus – und Lebensmittel einführte, mit gebleckten Zähnen, ausschreitend, unwiderstehlich, von den Bauern gefürchtet wie ein scharfer Hund. Auch Verbindungen zum fernen Pommern bestanden. Von dort her führte Vater Fanselow per Paketpost Schinken und pralle Würste ein.
Den zähnebleckenden Wahn ihrer Mutter hatte Gustavchens Schwester geerbt, Agathe, die mit zwölf schon zu Brennschere und Lockenwickler gegriffen hatte. Sie war, obwohl inzwischen ein Backfisch, plättbrettplatt, und vergebens suchten wir, von Gustavchen herbeigelockt, durchs Schlüsselloch Rundungen zu erspähen. Wenn wir unsere Enttäuschung äußerten, sagte Gustavchen empört:
»Wartet doch noch! Manchmal schmiert sie sich das Arschloch mit Mousoncreme ein.« Das brachte uns auf die Idee, eines Tages Gustavchen die Hosen herunterzuziehen und seinen Hintern zu salben.
Die Fanselows waren Zauberer. Ein Genie war Vater Fanselow. Gustavchen begann, in Vaters Fußstapfen zu treten. Fanselows zauberten nicht mit den üblichen Mitteln, wie Seilen mit und ohne Knoten, Zylindern mit doppeltem Boden oder weißen Kaninchen. Nein, bei Fanselows spritzte stinkender Saft aus einer harmlos aussehenden Wachsrose, künstliche Exkremente garnierten Möbel und Teppiche, ahnungslose Besucher setzten sich auf unterm Kissen verborgene Luftblasen, die knatternde Furzgeräusche erzeugten.
Wie lachten da alle Fanselows, wenn ihnen solche Überraschung gelungen war! Ede explodierte einmal die listig vertauschte Zigarre, er war schwarz im Gesicht wie eine Karikatur aus der Mottenpost, und er ging nie wieder zu Fanselows. Die bedauerten das sehr, denn sie wollten ihm eine Quietschblase in den Schuh bauen, wozu es nun nicht mehr kam. Die Fanselows lachten und lachten, Vater meckernd, Mutter und Agathe mit gebleckten Pferdezähnen, dass die Lockenwickler wackelten, Gustavchen in hohen Quietschtönen.
Gustavchens Genie ging damals als neuer Stern am Himmel von Fanselows Lachkabinett auf, übertraf zuweilen seinen wiehernden, Bocksprünge vollziehenden Vater. Gustavchen entwickelte einen tieferen Sinn für alles, was klebrig, unappetitlich, anstößig war, geeignet, andere in Verlegenheit zu bringen. Der gelbe große widerwärtige Mostrichfleck auf Mathildes BDM-Rock war Gustavchens Werk, eine reife Leistung, weil Gustavchen kaum Gelegenheit hatte, Mathilde anzutreffen. Auch die Blindschleiche ging auf Gustavchens Rechnung, die meine Mutter eines Tages im Milchtopf fand.
Beschwerden halfen nichts. Vater Fanselow förderte Gustavchens Genie und schützte ihn. Freute sich, wenn Gustavchen Käserinde in die Polster fremder Autos oder hinter Bücherrücken gleiten ließ, Ofenrohre mit alten Filzhüten verstopfte und in den ersten Frosttagen künstliches Glatteis auf dem Gehweg herstellte. Da lauerten alle Fanselows hinter der Gardine und wieherten, wenn die Passanten ausglitten, mit grotesken Verrenkungen den Sturz zu vermeiden suchten und schließlich doch auf Hintern oder Nase landeten.
Trotz der vielen Tausend Opfer, die der erste Blitzkrieg kostete, änderte sich für niemand etwas. Die Lebensläufe aller Deutschen schienen vorgestanzt, in Hollerith-Lochkarten geprägt. Fiel einer, bekamen seine Angehörigen eine Rente, beschäftigten sich weiter damit, ihre Lebensmittelzuteilungen zu verbessern und neue Methoden zur Ersparung von Heizmaterial auszutüfteln. Stolze Trauer war erlaubt.
Onkel Adolar kam ein letztes Mal nach Hause, Heimaturlaub, wechselte verbotenerweise sein Feldgrau gegen das beliebte Zivil mit gepunkteter Fliege, und besuchte uns, weswegen es Entenbraten gab.
Der einstige Bonvivant war nur äußerlich noch einer. Er schwieg, auf unsere Fragen nach dem Polenfeldzug bekamen wir ausweichende Antworten, der neue Entenpfuhl interessierte ihn kein bisschen. Onkel Adolar hatte auf null geschaltet. Tante Linchen, die Arme leicht erhoben, als wolle sie an einer Kundenfrisur etwas richten, umflatterte ihn, stellte tausend banale Fragen, den Zustand der Bratente betreffend, bekam kaum Antwort, auch sie nicht. Sie blieben über Nacht, und auch Gustavchen konnte den Onkel nicht erheitern, als er ihm, gegen den Preis eines Glasbuckers, Fanselows künstlichen Hundedreck ins Bett legte. Onkel Adolar warf das Pappmachéexkrement wütend an die Wand, wo es zerplatzte und einen braunen Fleck hinterließ.
Es war die letzte Spur von Onkel Adolar. Denn nun begab er sich an die Westfront, wo er ein paar Wochen in verschiedenen Bunkern des Westwalls in Bereitschaft lag. Dann kam der Sommer, und die Ketten unserer Panzer mahlten über Frankreichs Straßen. Fröhlich sangen nun die Panzermänner ihr Lied: Es braust unser Panzer… im Sturmwind dahin! Wir kannten dieses Lied von Kulle Rosenbusch, und wir wussten, auch Kulle Rosenbusch saß in einem dieser Panzer, Kopfhörer über die schwarze Mütze gestülpt, und brachte dem Franzmann das Rennen bei. Dem Franzmann und den Engländern!
Kulle Rosenbusch! Ein letztes Mal hatte er uns noch versammelt, sechzehn Uhr Birkenwäldchen, und sich verabschiedet. Uns geht die Sonne nicht unter … hatten wir gesungen, während Kulle, schon in Panzeruniform, die Klampfe schlug.
In den Wochenschauen sahen wir mit dem weißen Staub der Champagne überzogene Kübelwagen an den Kriegsberichterstattern vorbeifahren, nach Westen, nach Westen! Braun gebrannt, die Ärmel aufgerollt, marschierten die Infanteristen auf Paris zu. Die Maginotlinie war ausgeräumt, leer standen ihre Bunker, die Rohre gesprengter Geschütze ragten in die Luft, oder gen Himmel, wie wir in einem Bericht der Morgenpost lasen. Gen Himmel waren auch die Besatzungen der Geschütztürme gefahren, ein paar geballte Ladungen in die Luken der Bunker wirkten da erstaunlich, wie dieser und jener Urlauber fröhlich erzählte. Wieder siegten wir, wieder tönten die Fanfaren der Sondermeldungen aus den Volksempfängern. Ede unkte weiter, verwundeter Pferde vergeblich harrend, und meinte: Es hat sich schon mancher totgesiegt.« – »Wenn bloß der Lümmel nicht noch rankommt«, seufzte Minnamartha. »Ach, was«, sagte ich, »Bis dahin ist der Krieg schon gewonnen.«
Eigentlich schien es mir aber interessanter, Bunker zu knacken als hier in der Heimat Brennnesseln zu rupfen, und ich ging in den Stall und trank für alle Fälle ein Ei aus, wie ich es bei Onkel Adolar gesehen hatte.
Doch wuchs ich nicht schneller vom Leghorntrinkei, auch die Frankreichvorstellung ging rasch über die Bühne. Die erste Fliegerbombe fiel auf Berlin, die kecke Bevölkerung erinnerte sich sofort, dass Göring nun Meier hieß, und wallfahrtete in die Innenstadt, die Schadenstelle zu besichtigen. Glaser rissen sich darum, zersprungene Fensterscheiben in der Umgebung der Abwurfstelle zu Sonderpreisen zu ersetzen.
Das sollte sich ändern.
Onkel Adolar schrieb nichtssagende Briefe an Tante Linchen, Briefe eines unbeteiligten Zuschauers am Frankreichfeldzug, scheinbar ging ihn die ganze Sache nichts an. Nun bei einer Etappeneinheit tätig, so erfuhren wir, zog er nach den aktiven Fronttruppen in Paris ein, nicht über die Champs Elysées, sondern von Osten her an Vincennes vorbei, durch die endlose Banlieu, bis sie eine Kaserne im Norden der Stadt erreichten. Eine französische Kaserne, anspruchsloser noch als die preußischen Feldgrauensilos, aber es war Sommer, und ab und zu bekamen die Soldaten Ausgang, fuhren nach Paris hinein. Eine leere Stadt, man sah überall Soldaten, aber wenig Zivilisten. Die Franzosen, soweit noch in Paris vorhanden, hielten sich lieber in den Häusern.
Beim zweiten Ausgang ging Onkel Adolar mit Kameraden den Boulevard St. Michel entlang. Vor einem Café standen Korbstühle in der Sonne. Sie setzten sich, bestellten einen Pastis. Onkel Adolar wechselte, als gerade die Gläser mit dem Getränk kamen, den Platz, weil ihn die Sonne blendete. Er setzte sich in einen anderen Korbstuhl, fuhr aber gleich wieder hoch, laut »Au« rufend, und um ein Haar hätte der Kellner das Tablett hingeworfen. Onkel Adolar schaute hinten an sich herunter und dann genauer auf den Korbstuhl: Ein langer rostiger Nagel lauerte da, und er hatte Onkel Adolar in den Hintern gestochen.
»Kommt schon Blut?«, fragte einer aus der Runde. Alle lachten, holten einen anderen Stuhl heran. Es schien nicht zu bluten. Onkel Adolar inspizierte Stuhl Nummer drei, ließ den anderen Stuhl, den mit dem rostigen Nagel, vom Kellner entfernen, und man trank weiter.
Gelegentlich, während des Nachmittags, kamen sie an einer deutschen Sanitätsstelle vorbei, und ein Sanitäter verpflasterte die Stelle, ein roter Einstich, kaum sichtbar, Blutverlust gleich null.
Am Mittag des nächsten Tages hatte Onkel Adolar vierzig Fieber, bekam eine Spritze auf dem Krankenrevier der Kaserne, erschien nicht zum Verpflegung fassen. Abends lag er in der Revierstube, das Fieber stieg. Um die Einstichstelle hatte sich ein roter Hof gebildet, an den Handgelenken in der Nähe der Pulsadern zeigten sich bläulich-rötliche Verfärbungen. Diagnose: Blutvergiftung.
Am nächsten Morgen brauste ein Sanka mit Onkel Adolar in Richtung Osten, in ein Lazarett in Vincennes. Hier ergriff man schleunigst alle notwendigen Maßnahmen, das Fieber ging bald zurück, bis achtunddreißig fünf, aber niedriger nicht. Auch nach drei Wochen war es immer noch achtunddreißig fünf, und die Wunde hatte sich vergrößert und eiterte.
Die Ärzte beschlossen, Onkel Adolar zu verlegen. Für seine Einheit zuständig war das Reservelazarett in Sagan, Niederschlesien. Quer durch Frankreich und Deutschland fuhr der fast leere Lazarettzug, in dem bejahrte Sanitäter und blonde Karbolmäuschen Dienst taten und sich um Onkel Adolar kümmerten. Durch unsere große Stadt rollte der Zug zu nächtlicher Stunde, ohne dass wir etwas davon wussten, nach Onkel Adolars Briefen zu urteilen war Harmloses, eher Lächerliches geschehen, eine rechte Kriegsverwundung war das ja nicht.
Von Sagan aus, wo Onkel Adolar in das frühere Schloss Wallensteins eingeliefert wurde, das nun als Lazarett diente, bekam Tante Linchen die Aufforderung, ihren Mann zu besuchen.
Sie blieb gleich da. Denn sie fand ein Skelett vor, das nur noch entfernte Ähnlichkeit mit dem Onkel Adolar von einst aufwies, in ein vorn mit Schleifchen zu bindendes gestreiftes Lazaretthemd gehüllt, ohne Lust am Leben.
Das Fieber blieb weiter. Tante Linchen besuchte Onkel Adolar täglich, konferierte mit den Ärzten. Sie wussten keinen Rat. Ein rostiger Nagel wirkte selten tödlich. Was war mit diesem Patienten los? Senkungen und Blutbilder zeigten Übliches, kein Hinweis auf irgendeine ernsthafte Komplikation.
Nach drei Wochen jedoch bekam Onkel Adolar eine Lungenentzündung. Innerhalb von achtundvierzig Stunden war er tot.
Tante Linchen weinte, ließ sich zum Heldentod ihres Mannes kondolieren, versuchte lange, einen Sarg in passender Größe aufzutreiben, denn Onkel Adolar maß auch im Tode noch fast zwei Meter. Ein Tischler aus Sagan lieferte endlich eine Sonderanfertigung. Die Leiche wurde in die Heimatstadt überführt, ein Heldengrab auf unserem Friedhof war Onkel Adolar sicher.
Tante Linchen saß bei uns und weinte. »Ausgerechnet Adolar«, schnupfte sie, »warum gerade er? Alles hat er überstanden. Den Polenfeldzug. Und Frankreich. Und dann muss er sich auf einen Nagel setzen. Ich verstehe das nicht! Ich verstehe das nicht!«
Minnamartha kämpfte mit einem Fondant, das ihr in den Zähnen klebte, und sagte:
»Es ist Bestimmung. Jeder kommt einmal dran.« Großmutter rückte die Kaffeekanne auf dem Herd hin und her, was der dreibeinigen schwarzen Katze wenig gefiel. »Wer weiß, wozu es gut ist«, sagte sie.
Allmählich versammelten sich alle in unserer Küche. Ede und Onkel Hubert standen schweigend herum, Mathilde, fesches BDM-Mädchen, umarmte Tante Linchen, und dunkler Kopf an blondem Kopf schluchzten beide. »Nu lass man«, sagte Onkel Hubert.
»Was ziehe ich bloß zur Beerdigung an? Wann ist sie denn?«, fragte Minnamartha.
Linchen löste sich aus der tränenfeuchten Umarmung Mathildes. »Donnerstag«, sagte sie. »Um vier Uhr.«
Alle interessierten sich für die Kleiderfrage. Minnamartha eilte nach oben und kam mit mottenpulverduftenden schwarzen Kleidern wieder. Nach Anprobe zeigte sich: Sie würden es tun. Großmutter ging immer in Schwarz, sie hatte keine Probleme. Die Witwe hatte auf Sonderbezugsschein Trauerkleidung bekommen. Viele gingen in Uniform, wie es nun üblich war.
An einem heißen Augusttag trugen wir Onkel Adolar zu Grabe. Dem Sarg folgte eine Schar von Verwandten und Bekannten. Ein Oberleutnant mit gezücktem Degen schritt, flankiert von zwei Grenadieren mit Stahlhelm, hinter dem Sarg. Dann kam die Witwe, gestützt von Onkel Hubert und Ede, die ein stramm militärisches Gesicht machten, wie auf dem Husarentag. Sechs andere Grenadiere trugen den Sarg, der mit der Reichskriegsflagge bedeckt war. Unbarmherzig brannte die Nachmittagssonne auf die hellgelben Sandhügel links und rechts von der Grube. Der Sarg wurde hinabgelassen. Es war ganz still. Plötzlich traten aus den Hecken hinter Onkel Adolars Grab sechs Grenadiere heraus, legten ihre Karabiner an und feuerten drei Salven. »So was Dummes«, schimpfte Großmutter leise. »Ich gehe. Alle sollen zu uns kommen.«
Zwischen den Gräbern schritt Großmutter davon, auf dem langen, sonnenbeschienenen Weg kleiner und kleiner werdend, während sich die übrige Trauergesellschaft um Tante Linchen ballte, die, in einen unendlich großen schwarzen Schleier gehüllt, auf der Spitze des einen Sandhügels stand und Kondolationen entgegennahm. Mathilde und ich warteten abgedrängt am Rande der Grube, wo unten der Sarg mit der Flagge zu sehen war, und unmittelbar vor meinem Auge pulste an Mathildes Hals ein Aderchen. Ihre sehr schöne Nase war mit Schweißperlen bedeckt.
Endlich löste sich der Menschenklumpen am Grab auf und alle begannen, in Richtung des Ausgangs zu gehen. Mathilde und ich stolperten hinterher, sie in weißer Bluse, ich im Braunhemd. Als ich mich noch einmal umdrehte, sah ich einen der Grenadiere in die Grube springen und die Reichskriegsflagge bergen. Sie wurde noch gebraucht. Für weitere Heldentode.
Großmutter hatte vorgesorgt. Wie einst saßen wir im Garten, nur war die Gesellschaft weniger bunt und das Bier dünner. Ein paar Stallhasen hatten ihr Leben lassen müssen für den Leichenschmaus. Nie mehr würde Onkel Adolar eiertrinkend aus dem Stall treten, nie wieder würde seine gepunktete Fliege leuchten, wenn sie abends unter dem Pflaumenbaum saßen, und, um die Mücken zu vertreiben, an ihren Zigarren sogen.
Tante Linchen hatte sich aus dem Schleier gewickelt, schaute bleich, aber gefasst, über den Tisch und griff herzhaft zu.
»Ja, ja, unser Adolar«, seufzte Großmutter. »Die Laube hat er mitjebaut. Dabei hat er sich auf keinen rostigen Nagel gesetzt. Ich möchte wissen, wieso er in Kaffeehäuser jehen muss.«
»Mutter«, sagte Minnamartha warnend, während sie eine Kaninchenkeule benagte. Aber Großmutter war nicht zu bremsen. »Er war ein schwächliches Kind«, sagte sie. »Schon damals in Dubberow. Aber sein Bruder starb an Typhus. Er nicht. Er war der Jrößte. In der Schule dann. Immer der Jrößte.«
»Wer soll nun auf dem Klavier spielen?«, heulte Tante Linchen plötzlich. Alle beruhigten sie, oder versuchten es wenigstens. »Lass doch das Klavier«, sagte Ede. »Man kann es verkaufen.« – »Ich trag’s runter«, rief Onkel Hubert und zeigte seine Bierfahrerhände.
»Verkaufen! Runtertragen!« Tante Linchen war außer sich. »Wie kann ich mich davon trennen? Das Klavier, auf dem Adolar gespielt hat?«
»Was hat er denn gespielt?«, erkundigte sich Mathilde. Pampig sagte Tante Linchen: »Den Flohwalzer!«
»Adolar war immer musikalisch«, fuhr Großmutter fort. »Damals in Dubberow haben sie ihn sogar im Kirchenchor singen lassen. Zweimal die Woche haben sie geübt. Es war vier Kilometer zu Fuß. Fast eine Stunde. Ich verstehe nicht, wieso er in Kaffeehäuser gehen musste.«
»Mutter, nun lass das aber«, rügte Minnamartha. »Er ging nicht in Kaffeehäuser. Nicht gewöhnlich, jedenfalls. Sie hatten Ausgang. Urlaub. Es ist schließlich Krieg.«
Großmutter fuhr mit der Gabel ärgerlich in der Soße herum. »Gehe ich vielleicht in Kaffeehäuser?«
Ede schüttelte den Kopf. Tante Linchen schluchzte, die Tränen fielen ihr auf den Teller. »Das schöne Klavier …« murmelte sie.
Onkel Hubert erzählte von Arras, neunzehnhundertvierzehn, da hatte auf der Straße vor einem zerschossenen Haus ein Klavier gestanden und ein Kamerad hatte sich an das Klavier gesetzt und den damals so berühmten Schlager Puppchen, du bist mein Augenstern gespielt. »Man muss sich das mal vorstellen«, rief Onkel Hubert, »ein Klavier mitten auf der Straße, während die französische Artillerie über unsere Köpfe schoss. Ganz dicke Koffer. Und da spielt der Puppchen, du bist mein Augenstern. Nee, das kann ich nicht vergessen!«
Tante Linchen hörte nicht mehr hin, es fiel auch keinem mehr eine Klaviergeschichte ein, glücklicherweise, das heißt, ich hätte schon eine gewusst, aber ich traute mich nicht, sie zu erzählen: Wie unser Musiklehrer zu Klavierbegleitung die schöne Löwenballade gesungen hatte: Ich trage, wo ich gehe, stets eine Uhr bei mir… Er beendet die Ballade stets, indem er lässig in die Westentasche griff und eine altmodische silberne Zwiebel herauszog. Diesmal wollte er ziehen, aber die Uhr war verschwunden. Er hatte sie irgendwo liegen gelassen, oder jemand hatte sie ihm geklaut. Jedenfalls lachten wir alle über sein verdutztes Gesicht, und er sang die Ballade nie mehr. Da waren wir froh.
Sollte ich die Geschichte Mathilde erzählen? Aber das Fest ging weiter, Mathilde und ich hatten artig dazusitzen, zu lauschen und Kriegslimonade zu schlürfen. Großmutter kam mit dem Kirschschnaps. »Ein Gläschen kann nicht schaden …«, meinte sie. Als habe er das Stichwort gehört, stellte sich Kutschke ein, der Block- und Luftschutzwart, kondolierte der Witwe und verbreitete betretenes Schweigen. Nur kurz allerdings, Großmutter schenkte wacker ein, und auch Kutschke hatte seine Geschichte: Zu Übungszwecken wurden dem Luftschutz original britische Brandbomben zur Verfügung gestellt, Stabbrandbomben. Mit der Feuerspritze hatte Kutschke erst gestern so eine Beutebombe löschen dürfen. »Es geht sehr gut«, sagte er. »Einfach draufhalten, es zischt, und aus ist das Feuer.«
»Wir rufen Sie, wenn es so weit ist. Prost«, sagte Ede.
Onkel Hubert klatschte Mathilde, die neben seinem Stuhl stand und am Likör nippte, auf den Hintern. »Wirst du das wohl lassen«, rief er.
Aber Mathildchen nippte weiter, ein paar Löckchen baumelten ihr in die Stirn. Ich zog sie vom Tisch weg. »Willst du meine Zigarettenbilder sehen? oben«, sagte ich.
»Pööööh«, machte Mathilde. Aber sie folgte mir doch ins Haus. In der Tür zu meinem Zimmer blieb sie stehen. »Komm mal her«, flüsterte sie. Ich ging zu ihr. Sie schlang ihre Arme um mich und küsste mich. Ganz lange. Ihr Gesicht war heiß, aber ihre Lippen waren ganz kühl und schmeckten nach Kirschen. Dann rannte sie die Treppe hinunter. Ich wischte mir mit dem Handrücken den Mund. Unten, im Garten, saß Mathilde wieder brav am Tisch, aber sie hatte ein volles Glas vor sich. Sie sah mich nicht an. Großmutter sagte: »Einmal, der Adolar war erst fünf, da hatte er einen Bandwurm …«
Tante Linchen schluchzte.
In den letzten Schultagen vor den Ferien war Rabumm zu uns gestoßen. Rabumm hieß eigentlich Werner Pethmann, war einen Kopf größer als ich und zu Streichen stets aufgelegt. Er kam aus Brandenburg an der Havel, wo er sich so gelangweilt hatte, dass er das in seiner Schule zu Lehrzwecken aufgestellte Aquarium wegen einer Wette ausgesoffen hatte. Die Fische, darunter wertvolle Schleierschwänze und Black Mollies, waren verendet, der Schüler Pethmann von der Schule verwiesen worden. Seine Mutter (der Vater war im Krieg) zog nach Berlin, um ihrem Einzigen eine gute Erziehung angedeihen zu lassen: »In der Großstadt sind, glaube ich, die Lehrer strenger«, hatte sie gesagt.
Mutter und Sohn wohnten zur Miete in einem der Siedlungshäuser, es gab nun schon ein paar Kriegerwitwen, und die vermieteten Zimmer. Der starke Knabe soff nicht nur Aquarien aus, sondern beendete viele seiner Sätze mit einem bekräftigenden »Rabumm!« Daher Werner Pethmanns Spitzname. In der Schule setzte er sich einfach neben mich in die Bank, weil wir uns auf dem Schulweg angefreundet hatten. Eigentlich saß da Othmar, der blonde, schöne. Er kam drei Minuten später, reklamierte seinen Platz, aber Rabumm sagte einfach: »Scher dich zum Teufel, Häuptling Blondlocke. Sonst skalpiere ich dich. Rabumm!«
Othmar nahm weiter hinten Platz. Am Nachmittag, als ich Rabumm unsere Kriegspfade auf dem Feld zeigte, schlich Othmar uns nach und warf einen Stein. Rabumm setzte sich in Bewegung wie ein Nashorn, holte den fliehenden Othmar ein und erwischte ihn mit einer geraden Linken, die alle Probleme zwischen den beiden für die Zukunft löste.
Ich war glücklich. Othmars Tyrannei hatte ein Ende. Ich schloss mich Rabumm an.
Bald waren dann große Ferien. Ich streifte mit Rabumm durch die Prärie, und sogar die Laubenkinder hielten sich zurück. Einmal sahen wir Ingrid, die nun größer und reizvoller geworden war, immer noch mit viel Weiß im Auge, und Werner Pethmann alias Rabumm sagte andächtig: »Die müsste man verkasematuckeln!«
Was war nun das wieder? Ich wagte nicht zu fragen, bewunderte aber Rabumm ob seines Vorsatzes. Verkasematuckeln!
Die Ferien dauerten noch vier Wochen. Allmählich erwarben Werner Pethmann und ich uns einen gewissen Ruf. Hasen sprangen aus den Ställen und wurden in unserem Wohnzimmer gesichtet. Minnamarthas Teppichklopfer, listig präpariert, zersprang in lauter einzelne Stücke, als sie mir schließlich doch einmal einen Hieb auf den Rücken verpasste (Bohnerwachs in der Fluchtkurve war schuld). Großmutters Leghorns hatten eines Morgens blaue Flügel. Mit Recht vermutete man Rabumms Einfallsreichtum und meine Assistenz bei der Durchführung hinter diesen Vorfällen. (Rohrstöcke und Ausklopferstiele springen, wenn man sie spaltet und mit Zwiebel einreibt. Hühnerflügel färbt man am besten mit in Wasser gelöstem Waschblau, das man flink mit einem Lappen aufträgt.) »Das hält kein Schwein aus«, sagte meine Mutter. »Ede, lass dir bloß was einfallen!«
»Warum schicken wir sie nicht aufs Land? Zu Onkel Willi?«
Minnamartha zog energisch ihre Eieruhr auf, als wolle sie eine messbare Restzeit für unsere Untaten einstellen. »Onkel Willi? Der wird sich schön bedanken! Willst du, dass seine Scheune abbrennt? Welcher Teufel hat uns nur diesen Babumm geschickt!«
»Rabumm«, verbesserte Ede. »Ich glaube, bei Onkel Willi ginge es. Die großen Jungs sind daheim. Auf Ernteurlaub. Die werden schon mit den beiden fertig. Schreib mal ’ne Postkarte. Ist doch dein Onkel.«
Alles klappte. Onkel Willi schrieb zurück »in Gottes Namen«, was sich von einem Ortsbauernführer merkwürdig ausnahm. Auch Rabumms Mutter war glücklich. Ede machte unserem neuen Zugführer, einer ziemlichen Flasche, klar, dass wir Onkel Willis Ernte mit einbringen mussten.
So reisten wir im Auftrag der Partei.
Minnamartha brachte uns zum Zug, sie hatte den Wecker so eingestellt, dass er zehn Minuten vor Abfahrt des Zuges nach P. klingeln musste. »Dann weiß ich, wir haben noch zehn Minuten.«
»Wozu?«, fragte ich.
»Na, damit man weiß, dass man noch zehn Minuten Zeit hat!«
Minnamartha stöhnte in der Hitze und putzte sich in der S-Bahn die Stirn mit einem spitzengesäumten Taschentuch. Werner und ich saßen mit ihr, in Uniform, im Abteil für Reisende mit Traglasten zwischen vielen Gepäckstücken, denn eine neue Lieferung Zentrifugen war eingetroffen, die wir jetzt zu Onkel Willi transportierten. Am Eilzug nach P. standen wir dann, das Gepäck verstaut im überfüllten Abteil, die Eieruhr klingelte. »Ich will man wieder zurück«, meinte Minnamartha, »falls es Alarm gibt.« Während ich auf dem Trittbrett stand, fuhr sie mit ihrer Hand in mein Hosenbein: »Hast du auch warme Unterhosen angezogen, Menschlein?«, rief sie.
Im August! Warme Unterhosen! Ich schämte mich. Der Zug fuhr ab, Minnamartha war noch hinten auf dem Bahnsteig zu sehen, sie winkte mit dem kleinen weißen Taschentuch. »Rabumm!«, sagte Werner. »Hast du auch eine lange Unterhose? Falls es noch kälter wird!« – »Halt doch mal die Klappe«, sagte ich.
Unsere Mitreisenden grüßten wir zackig mit Heil Hitler! Was teils freundlich, teils gar nicht aufgenommen wurde. »Gib mal ’ne Klappstulle«, sagte Werner.
Wir waren noch in den nördlichen Vororten, der Zug dampfte zwischen Laubenkolonien hindurch, die hier Gartenlust oder Feierabend hießen, wie wir an den Transparenten über den Haupttoren sahen. – Es waren Prachtstullen, weil Großmutter sie geschmiert hatte, dick mit Schmalz bestrichen und mit Schlackwurst belegt. Wir schlangen alles schnell hinunter, weil die anderen Leute im Abteil uns ein bisschen neidisch anschauten. Die meisten hatten nur Karo einfach, ein paar Schnitten trockenes Brot, und einen Apfel.
Zweimal hielten wir ein paar Minuten auf größeren Bahnhöfen. Ein paar Leute stiegen aus, die hofften, schon hier Erfolg bei ihren Hamsterunternehmungen zu haben. Die meisten reisten weiter, wie wir. Gegen Brandgefahr durch Funkenflug waren auf freier Strecke Gräben durchs Gras und Gehölz gepflügt. Der hellgelbe Sand schaute in den Furchen hervor. Wir lehnten aus dem Fenster, verdauten Großmutters Schlackwurststullen, und waren froh, der Stadt entronnen zu sein.
In P. luden wir Koffer und Zentrifugenkartons aus. Onkel Willi erwartete uns vor dem Bahnhof mit einem Einspänner. Er saß auf dem Kutschbock und rauchte. Wir, in Uniform, knallten unsere Hacken zusammen und riefen: »Heil Hitler, Ortsbauernführer!« Onkel Willi wedelte mit der rechten Hand in der Luft herum und murmelte: »Heil, heil!« Er sah Rabumm an: »Du bist der Werner?«
»Jawohl, Rabumm!«
»Rabumm«, sagte Onkel Willi. »Dann steig man ein.« Wir verstauten unsere Koffer und Schachteln und setzten uns auf die Polster. Das Pferd zog an. Durch die kleine Stadt rollten wir, durch ein Backsteintor, hinaus aufs Land. Nach einer Stunde sahen wir das Dorf mit der Kirche aus Feldsteinen. Wir waren da. Ein Haus mit Veranda und zwei lange Stallgebäude bildeten mit einer Scheune einen fast quadratischen Hof. Hinter dem Haus lag sogar ein kleiner Park mit Birken und Linden und Wacholderbüschen. In einer schattigen Ecke dämmerte auf einem Steinsockel ein Kunstwerk aus braunem glasierten Ton: ein zottiger Faun presste eine Nymphe, die ihm entfliehen wollte, an sich und hielt sie mit beiden Händen an den Hinterbacken. Unter dieser Gruppe lud eine weiße Gartenbank zur Rast ein.
Tante Anna, Onkel Willis Frau, erwartete uns auf der Treppe.
»Habt ihr Zentrifugen mit?«, rief sie laut.
»Verdammt«, sagte Onkel Willi. »Wirst du wohl ruhig sein!«
Tante Anna war rund und gemütlich. Genau wie Großmutter trug sie einen Mittelscheitel und einen Dutt und eine schwarzrandige Brille mit kreisrunden Gläsern. Aus dem Flur kamen Jagdhunde angetrottet, um uns zu beschnuppern. Wir stiegen hinter Tante Anna die Treppe hinauf.
Später, am Kaffeetisch, war die Familie fast vollständig versammelt. Wir wussten, es gab zwei Töchter, aber wir sahen nur eine, Johanna, die ältere. Die beiden Söhne, Ziethen und Blücher genannt, trugen feldgraue Hosen. Sie waren auf Ernteurlaub, wie Ede vermutet hatte. Frankreich war so gut wie erledigt. Da brauchte man sie nicht mehr.
Die Türen zur Veranda standen offen. Vom Hof hörte man Geräusche. Die Fliegen krochen träge über den Streuselkuchen. Dann gingen wir mit Ziethen und Blücher zum See hinunter. Mit einem Korb am Arm kam uns ein wunderschönes Mädchen entgegen. Es war Ingeborg, die andere Tochter. Sie hatte Schnürstiefel an mit wadenhohen Schäften. Wir verliebten uns beide in sie.
Der lange Hausflur war dunkel und kühl. Auf den schwarzen und weißen Fliesen lagen alte Pferdedecken für die Jagdhunde, unter einer Reihe von Kleiderhaken, an denen die Schrotflinten hingen. Oben, auf dem Hutbrett, standen aufrecht die Schrotpatronen mit farbigen Papphülsen. Auf dem See gab es viele Enten und Wasserhühner. Tante Anna zeigte uns unser Zimmer, im Giebel gelegen, mit Blick auf den Park und den Faun mit der Nymphe. Dicht am Haus wuchs eine Birke. Vom Fenster aus konnten wir ihre Äste mit den Händen erreichen.
Als Tante Anna gegangen war, untersuchten Werner und ich den Dachboden, der an das Zimmer grenzte. Eine dicke Tür an einem seitlichen Verschlag fiel uns auf. Wir öffneten sie. Es war die Räucherkammer. »Mensch, Würste«, sagte ich. Da hingen sie, Seite an Seite. Große lange dicke rote Würste. Riesig. Dahinter, in der zweiten Reihe, Schinken. »Mir ist wohl, rabumm!«, sagte Werner. »Mir ist nicht bange«, sagte ich. »Trotzdem«, sagte Werner, »musst du die ältere nehmen. Ingeborgs Schwester. Johanna. Ich kriege Ingeborg.«
Werner versuchte, sie zu verteilen. Der Fehler war nur, dass wir beide Ingeborg wollten. Ingeborg mit ihren Schnürstiefelchen, mit dem dunklen Haar, das wie gelackt aussah, Ingeborg mit ihren kühlen Augen und dem roten Mund, den sie, hier auf dem Land, und obwohl sie ein deutsches Mädchen war und Tochter des Ortsbauernführers dazu, leicht schminkte.
Wir klappten die Tür zum Würsteparadies leise wieder zu. Und dann hatten wir unseren ersten Krach, Rabumm und ich, unter dem Dach, das glühte von der Hitze. Ein Ergebnis hatte dieser Krach nicht. Es blieb dabei: Wir beide wollten Ingeborg.
Die alte Fuckruschen gab Handarbeitsunterricht in der Dorfschule, aber die Kinder mochten sie nicht. Nicht nur, weil sie einen Buckel hatte und rote Haare und rote Augen vom Trinken. Die Fuckruschen war die Spökenkiekerin des Dorfes. Sie wusste alles Unheimliche, was sich im Dorf und in der Gegend abspielte oder in den letzten paar Hundert Jahren abgespielt hatte.
Sie lebte in einem halb verfallenen Haus gegenüber dem Friedhof. Die eine Innenwand ihres Zimmers, in dem es muffelig nach alten Teppichen und Franzbranntwein roch, spaltete ein langer Riss, der die kümmerliche Kate so in Einsturzgefahr gebracht hatte, dass sie außen durch einen schrägen Balken gestützt werden musste. Die Fuckruschen versperrte die Tür zu diesem Rest einer menschlichen Behausung mit einem etwa pfundschweren Schlüssel. Diesen Schlüssel trug sie immer mit sich herum, benutzte ihn auch zuweilen, in der Handarbeitsstunde, als Waffe gegen ungezogene Kinder. Sicher wehrten sie sich gegen das Unheimliche, das von der Fuckruschen ausging, besonders, wenn sie einen mit ihren roten Augen durch die große Hornbrille ansah.
Weil nun im weiten Umkreis um das Dorf kein Wald wuchs, der für Spukgeschichten hätte herhalten können, musste das Dorf selbst dran glauben, und in zweiter Linie der See.
Die Dorfbewohner rechneten verkalbende Kühe und was an Unheimlichem sonst noch vorkam der Fuckruschen aufs Konto. Sie behaupteten einfach, es sei die Fuckruschen, die ihre Kühe, Onkel, Großväter und Hofhunde verhexe. Die lächelte nur und glotzte, wenn ihr so was zu Ohren kam, bis ihre roten Augen aus dem Kopf hervortraten. Dann rannten alle Kinder, so schnell sie konnten, hinter die nächste Hausecke, um sie von dort aus zu beobachten. Die Fuckruschen wusste das und ging schnurstracks durch die eiserne Pforte in der Feldsteinmauer auf den Friedhof. Da stoben die Kinder auseinander. Sie wussten, dass die Fuckruschen jetzt in der Ecke saß, wo Knochen und Schädel angehäuft waren. Man hatte die Gebeine kürzlich gefunden, als der Kirchturm neu fundamentiert worden war, und bisher hatten sie hier, zwischen Brennnesseln und einem blauen Emailleeimer, der über Rhabarberpflanzen gestülpt war, ihren vorläufigen Platz gefunden. Nicht, dass die Fuckruschen an diesen alten Knochen besonders interessiert gewesen wäre. Sie wusste nur, dass es ihren Ruf untermauerte, wenn sie vorgab, mit den Schädeln früherer Dorfbewohner Zwiesprache zu halten.
Der schöne See also war zweites Gespenstergebiet der Fuckruschen. Da sie immer zu Onkel Willi und Tante Anna kam, wenn es Streuselkuchen gab (sie kannte die Geburtstage aller Familienmitglieder auswendig), bekamen wir reichlich Gelegenheit, ihre Theorien über das Geisterleben am See zu vernehmen. So spukten dort nachts einige Dorfbewohner, die auf irgendeine Weise im See umgekommen waren. Aber noch nicht genug damit. Wenn man Glück hatte, konnte man in bestimmten Nächten, nämlich jeweils sechs Tage nach Vollmond, ein Schiff in rasender Eile über den See fahren sehen, bemannt mit einer Besatzung, die im Dreißigjährigen Krieg nach der Zerstörung einer Kirche geflohen und mit diesem Schiff versunken war.
Wenn die Fuckruschen ihren Hausschlüssel schwang und mit glotzenden Augen solche Geschichten erzählte, so war der Abend, der auf diese Erzählstunden folgte, nie ein üblicher Abend. Uns gruselte. Darum überredeten wir die Söhne mit den Heerführerspitznamen zu einem nächtlichen Ausflug an den See. Ziethen und Blücher hatten nichts dagegen. Sie wollten Enten schießen. Auch Ingeborg und Johanna machten mit, und noch ein Mädchen mit schwarzen Haaren und Schnecken über den Ohren, Margot, die sich bald mit Ziethen verloben wollte. Das Schwierige für Werner und mich war nur, dass Onkel Willi und Tante Anna sich für uns verantwortlich fühlten. Sie hatten uns verboten, spätabends noch das Haus zu verlassen.
Die Treppe von unserer Mansardenstube nach unten führte an Onkel Willis und Tante Annas Schlafzimmer vorbei, und die Stufen knarrten. Doch weil wir wussten, dass Ingeborg mitkam, fiel uns auch ein, wie wir uns aus dem Zimmer schmuggeln konnten. Brav gingen wir zu Bett und lagen wach, bis unter unserem Fenster ein Pfiff ertönte. Die Brüder waren bereit. Wir stiegen aus dem Fenster und kletterten die Birke hinunter. Die Mädchen lachten. Da stand Ingeborg im Dunkeln des Parks, zwischen den anderen. Die Brüder hatten die Schrotflinten aus dem Flur umgehängt, die Mädchen hielten die Jagdhunde an der Leine. Wir brachen auf. Der Weg war genügend beleuchtet, wir hatten auf den sechsten Tag nach dem Vollmond gewartet, wegen der Geschichte von der alten Fuckruschen. Wir wollten das Schiff sehen. Die Brüder, auch heute untenherum feldgrau, oben in alten Jacken, lachten. »Dat Schiff jibt es gar nicht«, sagten sie. Werner und ich hörten nicht auf sie. Wir wollten, dass uns gruselte. Noch mehr wollten wir eigentlich, dass es Ingeborg gruselte. Obwohl wir da unsere Zweifel hatten. Aber eine Errettung aus Gruselnot wäre doch ein schöner Ersatz für Errettung aus Feuersnot gewesen.
Vor uns gingen die Brüder mit dem Mädchen mit den Schnecken über den Ohren. Rabumm hielt sich dicht an Ingeborg, die zuweilen, mitten im Flüstern und Tuscheln, hell auflachte. Das wurmte mich, denn ich war so weit hinter ihnen, dass ich nicht hören konnte, was sie miteinander redeten. Das hatte ich mir selbst eingebrockt. Denn anstandshalber glaubte ich, neben Johanna gehen zu müssen. Die hatte mittelblonde Haare mit starren Löckchen. Sie war etwas älter als Ingeborg, und soff immer mit der Fuckruschen zusammen in der Küche Kartoffelschnaps. Davon war ihre Nase rot. Ein bisschen blätterte die gerötete Haut ab. Als wir zum See kamen, übernahm Ziethen das Kommando. Das Unternehmen begann schnell unromantisch zu werden. Vor uns lag der See, gut übersehbar in hellem Mondlicht. Es war so gar keine Stimmung für den planmäßigen Verkehr von Geisterschiffen. Ob die Fuckruschen nicht mit ihrer Terminangabe einen Fehler gemacht hatte? Sechs Tage nach Vollmond war es einfach noch zu hell.
Den Abhang zum Wasser hinunter standen vereinzelt alte Linden. Unten, am Rand des Sees, wuchsen Weiden, deren Wurzeln vom Wasser benetzt wurden. Ebenso tauchten sie die äußersten Spitzen ihrer Zweige in den See. Es war schwierig, bis zu ihnen vorzudringen, denn der Schilfgürtel begann ziemlich weit oben, und bei jedem Schritt scheuchten wir Schwärme von Mücken auf, die sich gierig auf uns stürzten.
Ziethen bahnte uns den Weg. Das Schilfrohr raschelte. Ein Entenschwarm stob mit rauschendem Flügelschlag auf und ging in sicherem Abstand auf dem See nieder. Wenn die Vögel das Wasser berührten, schimmerte es silbern im Mondlicht.
Ziethen schimpfte leise vor sich hin. »Wie eine Herde Elefanten«, sagte er und meinte uns. »Hätte ich euch bloß zu Hause gelassen.«
Wir machten es uns im Schilf so bequem wie möglich und hielten uns ganz ruhig. Das freute die Mücken. Sie mussten lange gehungert haben. Ingeborg war so nahe, dass ich den Geruch, der von ihr ausging, wie Wellen zu mir dringen fühlte. Es war kein verführerisches Parfüm, das ihn verursachte. Aber dieser Geruch löste sich deutlich von dem Geruch nach Wasser und Schilf und Bäumen, der um uns war.
Nach einer Weile kamen die Enten wieder näher ans Ufer. Ziethen und sein Bruder machten die Flinten bereit, luden mit fünfundsechziger Patronen, Dreieinhalb-Millimeter-Schrot, wie auf dem roten Verschlussdeckel gedruckt stand, zudem rauchendes Schwarzpulver für Damastläufe. Es knackte, als sie die Sicherungsgürtel umlegten. Die Hunde machten lange Hälse. Schnuppernd bewegten sie ihre braunen lackblanken Nasen. Ziethen scheuchte den Schwarm durch einen Pfiff auf. Dann knallte es zweimal kurz hintereineinander, und die Gerüche, die bisher um uns waren, wurden jäh zerstört durch den scharfen Pulvergeruch der Treibladungen.
Weit draußen stürzte eine Ente ins Wasser. Der Schwarm zog weiter. Wir sahen nicht, wo er niederging, denn nun rasten die Hunde ins seichte Wasser, das hoch aufspritzte. Sie bellten laut. Bald mussten sie schwimmen. Dann kamen sie zurück. Einer hatte eine Ente im Maul und brachte sie Ziethen.
Wieder mussten wir warten. Der Mond stand endlich hoch über dem Ende des Sees. Ein anderer Entenschwarm näherte sich dem Schilf, wurde durch den Pfiff aufgescheucht, wieder knallten die Gewehre, die inzwischen nachgeladen waren. Zwei Enten stürzten und wurden von den Hunden apportiert.
Unsere Haut war inzwischen von den Mückenstichen so angeschwollen, dass die übrigen Mücken die Lust verloren und von uns abließen. Auch die Enten wurden so vorsichtig, dass sie nicht mehr in unsere Nähe kamen. Ein dürres Wasserhuhn schossen die Jungen noch, aus Versehen. Sie hatten es für eine Ente gehalten. Dann gingen wir durch das Schilf zurück und das Ufer hinauf. Werner und ich kratzten uns mit einer Hand. In der anderen trugen wir je eine vom Schrot getroffene Ente. Leblos, nass und schwer zerrten die Vögel am Handgelenk. Die Hunde versuchten, sie uns zu entreißen. Ziethen trug in der linken Hand auch eine Ente, den rechten Arm hatte er angewinkelt, und da hatte sich das Mädchen mit den Schnecken eingehängt, von der wir inzwischen wussten, dass sie Margot hieß. Margot war munter und gesprächig, nachdem sie so lange schweigsam im Schilf hatte hocken müssen. Sie war die Erste, die wieder ans Geisterschiff dachte. Wir hatten es vollkommen vergessen.
»Was ist damit, Ziethen?«, fragte sie. Ziethen lachte.
»Da glaubt nur die Fuckruschen dran«, sagte er. »Allein die Fuckruschen. Vielleicht hätten wir sie mitnehmen sollen?« Er lachte wieder, denn er hielt das für einen guten Witz. Ich sagte: »Wir sind gar nicht enttäuscht. Die Entenjagd war so schön.« Ziethen brummte. Er dachte wohl daran, dass wir uns wie Elefanten benommen hatten. Aber wer geht auch schon mit Stadtbesuch, Schwestern und zukünftigen Bräuten jagen?
Plötzlich blieb Ziethen stehen. »Moment mal«, sagte er, reichte mir die tote Ente und knöpfte mit der linken Hand seine Hose auf. Er musste mal. Schamvoll schauten Werner und ich weg. Das Mädchen, Margot, löste sich nämlich keinesfalls von ihm, sondern blieb, Arm eingehängt, bei ihm stehen und schaute zu, wie sich nun ein kräftiger Strahl hell und dampfend gegen den Pfosten des Weidezauns richtete, an dem wir entlanggegangen waren. Sie blickte auch nicht weg, als er, leicht in die Knie gehend, die letzten Tropfen abschüttelte und die Tülle wieder in der Hose verstaute. Dann nahm er die Ente wieder, und der Zug schritt weiter. Werner und ich schwiegen. So etwas hatten wir noch nie gesehen! Und jeder von uns dachte, ob wohl unsere entsagungsvolle Art, Ingeborg zu verehren, die richtige sei. Ich schaute mich um. Von dem Zaunpfahl dampfte es noch.
Ein wenig später sahen wir weit entfernt am Himmel einen roten Schein. Berlin brannte. Ein Luftangriff hatte die Reichshauptstadt getroffen.
Werner und ich nahmen am Leben des Dorfes und der Familie teil, wie es sich ergab. Mit Ingeborg waren wir nicht viel weitergekommen. Fast konnte ich annehmen, dass meine Chancen gestiegen waren. Denn eines Tages fand ich Ingeborg hinter der Scheune, über einen Zettel gebeugt, auf dem etwas unglaublich Komisches stehen musste, denn während sie las, schien sie sich umbringen zu wollen vor Lachen und Glucksen und allerlei Verrenkungen. Ich fragte sie, was sie da lese. Schnell versteckte sie den Zettel hinter ihrem Rücken. »Es ist ein Gedicht«, sagte sie und bekam einen neuen Lachanfall. Ich hielt ihre Arme fest und beugte mich über sie, um ihr den Zettel zu entreißen. Auf einmal stieg mir wieder der wundervolle frische Geruch in die Nase. Ihr roter Mund war vor meinen Augen. Ich hatte Lust, sie zu küssen. Aber ich tat es nicht.
Endlich erwischte ich den Zettel, der schon ganz zerknüllt war. Wir waren außer Atem. Ingeborg kreuzte die Arme vor der Brust, die sich schnell hob und senkte nach dem Kampf. »Lies«, sagte sie. Ich las. Es war ein Gedicht. Es war überschrieben: »Zur Erinnerung an eine Nacht am See«, und es lautete:
Seerosen liebt das Schifferkind
wenn sacht im leisen Sommerwind
sich stille Wasser kräuseln.
Im Röhricht Geister säuseln,
die über ihren Schätzen wachen.
Es schwankt der leichte Nachen.
Tief sich das Mädchen vorwärts neigt.
Noch einmal alle Schönheit zeigt
sich ihr. Dann zieht es sie hinab.
Der See wird kühles Grab.
Ingeborg stand da und lachte wieder. Sie lachte künstlich. »Ha-ha-ha-ha!« – »Von Rabumm?«, fragte ich.
Sie nickte. Dann trat sie einen Schritt vor, nahe an mich heran. Sie schaute mir in die Augen. »Was seid ihr beide nur für Dussels«, sagte sie. Und drehte sich um und rannte davon über die Wiese. Ich zerknüllte den Zettel mit dem Gedicht und ließ ihn ins Gras fallen, weil ich gelesen hatte, dass man das so machte. Ich schritt, ein Einsamer, der eine brennende Liebe im Herzen trug, zurück zum Hof. Ich ging nicht, ich schritt. Denn auch das hatte ich gelesen.
Über Werner staunte ich. Ein Kumpel, der Leghorns die Flügel blau färbte, und nun machte er Gedichte! Gedichte ausgerechnet für Ingeborg. Für ein Mädchen, dessen Wert er gar nicht ermessen konnte. Nur ich allein, dessen war ich sicher, konnte Ingeborg so lieben, wie sie es verdiente. Dieser Rabumm! Und sein Gedicht! Seerosen liebt das Schifferkind! Es war doch einfach unerhört. Es war mehr. Es war geschmacklos und hanebüchen. Die alte Fuckruschen müsste man auf ihn hetzen, damit sie ihn verhexte!
Ich trug meine Einsamkeit durch den Hof, wobei mich glücklicherweise niemand sah, und ging zum Tor hinaus auf die Felder. Das heißt, ich schritt immer noch. Und ich schritt auch über die Hügel, über die Stoppeln der abgeernteten Acker und durch die Zuckerrübenreihen.
Schließlich traf ich Onkel Willi und Ziethen, die dabei waren, den uralten Trecker zu reparieren, der zum Hof gehörte, und der dauernd irgendwo auf den steinigen Wegen mit einem neuen Schaden liegen blieb.
»Na mien Jong«, sagte Onkel Willi, »wo fehlts denn?«
»Och, nichts«, sagte ich und beugte mich interessiert über den Motor. »Ich habe euch schon gesucht.«
»So, so«, sagte Onkel Willi. Weiter nichts. Ich hatte ein unsicheres Gefühl. Wer weiß, was Onkel Willi sich dachte. Nachdem die beiden ein halbes Kilo Draht verarbeitet hatten, bekamen sie den Traktor wieder in Gang. Ziethen setzte sich ans Steuer. Für Onkel Willi gab es einen Sitz auf dem einen Kotflügel, und ich stellte mich hinten auf den Haken, an dem man Pflug oder Egge festmachte. So zockelten wir zum Hof zurück. Aus dem senkrechten Auspuff stieg eine schwarze Wolke. Obwohl der Bulldog auf dem schlechten Weg holperte, drehte Onkel Willi sich eine Zigarette. Er setzte sie in Brand. Nachdem er gegen die Konkurrenz des schwarz blakenden Auspuffs ein erstes heiles Wölkchen ausgestoßen hatte, sagte er: »Hast du all hört, dat sich uns Ziethen verlobt?« -
»Mit wem denn?«, fragte ich. »Mit Margot?« Ziethen drehte sich entrüstet um. »Na wat denn, du Döskopp«, sagte er.
Das Fest war an einem Samstag. Der Sonntag darauf war ein Eintopfsonntag, und das, meinte Onkel Willi, passe ganz gut nach der Völlerei. Ich fragte Tante Anna, ob denn das Ernst sei mit dem Eintopfsonntag, hier auf dem Lande. Tante Anna wischte sich die Hände an der Schürze ab und trat aus der Küchentür, um zu sehen, ob Onkel Willi nicht in der Nähe war. »Stellenweise ist er eben doch ein Nazi«, meinte sie.
Onkel Willi ließ sich am Samstagmorgen von Ingeborg rasieren. Dann zog er seinen dunklen Bratenrock an und steckte sich den Hakenkreuzbonbon ans Revers. »Der Kreisbauernführer kommt nämlich«, erklärte er. Aus der Küche roch es gut. Außer Ingeborg, die Kammerzofenaufgaben zu erfüllen hatte, waren alle Frauen in der Küche beschäftigt. In dem kühlen Korridor standen Bleche mit Streuselkuchen zum Abkühlen auf einem langen Tisch. Die Hunde schnupperten, und ihr Geifer tropfte auf den Steinfußboden.
Am Nachmittag kamen die Gäste. Die Verwandten aus der Umgebung mit Kutschwagen, die Leute aus dem Dorf zu Fuß. Der Kreisbauernführer, in brauner Uniform, fuhr in einem kleinen Auto vor. Der Pfarrer saß schon hinten in der Stube und trank mit Ziethen und Blücher einen Schnaps. Margot war mit zum Küchendienst gepresst worden. Der Lehrer hatte auch einen Parteibonbon anstecken und unterhielt sich mit dem Kreisbauernführer über den Endsieg. Da auf das Dorf keine Bomben fielen, waren sie sehr viel optimistischer als ihre Kollegen in der Stadt.
Als Letzte hoppelte die Fuckruschen durchs Tor, angelockt vom Duft des Streuselkuchens. Sie trug ihren großen Hausschlüssel, am Handgelenk schlabberte eine Markttasche. »Passt man auf die olle Fuckruschen auf«, sagte Blücher. »Sie hat wieder ihre Tasche mit.«
»Was heißt das, Tasche mit?«
Blücher flüsterte: »Sie klaut Koteletts.«
»Vom Tisch?«
»Nein, bevor es losgeht. Aus der Küche. Wetten, dass sie es auf die Hunde schiebt, wenn jemand merkt, dass die Koteletts weg sind?«
Johanna zeigte sich an die Stirn und meinte: »Denk dir was Besseres aus, Blücher! Kuchen und Koteletts wittert die Fuckruschen auf drei Meilen gegen den Wind!«
»Ruhig doch!« – Die Fuckruschen schlurfte schon durch den Korridor, die Nüstern gebläht.
Beim Kaffee ging es noch manierlich zu. Echter Bohnenkaffee natürlich, aus Berlin per Paket im Austausch gegen Hühnerfutter geliefert, und dort auf dem schwarzen Markt erstanden, hundertzwanzig Mark das Pfund. Im Zimmer und auf der Veranda waren Tische gedeckt, der Kreisbauernführer, der Pfarrer und der Dorfschullehrer saßen in Onkel Willis Nähe. Von den Verlobten und den übrigen Gästen war die Gruppe durch Tante Annas füllige Gestalt getrennt. Ganz unten am Tisch saßen die Mädchen, saßen Werner, der Ingeborg wieder schöne Augen machte, und ich. Den alleruntersten Platz nahm die Fuckruschen ein. Sie war nicht böse deswegen. Hier konnte sie ungestört ein Stück Kuchen nach dem anderen hinunterschlingen. Ihre Augen waren schon wieder rot hinter der Brille. Auch Johannas Nase glänzte in frischem Rot. Beide hatten zusammen in der Küche gepichelt.
Nach dem Kaffee gingen die Bauern auf die Felder, um den Fortschritt der Kornernte zu überwachen, die im vollen Gange war. Die Ernte war ja auch der Anlass für den Urlaub der beiden feldgrauen Brüder gewesen, diesem Urlaub, der nun zu Ziethens Verlobung mit der ohrschneckengeschmückten Margot geführt hatte, während seine Kameraden einen neuen Blitzfeldzug vollendeten. Endlich hatten unsere tapferen Soldaten die Franzmänner, den Erbfeind, die Welschen, in die Knie gezwungen. Endlich hatten wir Revanche genommen für die Schlappe, die wir 1918 hatten erleiden müssen. Das Wort Revanche allerdings war ihnen nicht zu welsch. Von Mars-La-Tours sprachen die Alten, während sie über die Felder gingen, und von Vionville, Orte, an denen ihre Großväter 1870-71 siegreich gewesen waren, und die jetzt ihre Enkel wiedererobert hatten. Die Parteibonbons blitzten an den Aufschlägen. Blank blitzte im Mittagslicht auch der große Hausschlüssel der Fuckruschen, der neben ihr auf dem Tischtuch lag, als sie nun fast als Letzte an der verwüsteten Kaffeetafel saß, zusammen mit Johanna, die ein Fläschchen Likör besorgt hatte. Die bucklige, gekrümmte, rote Fuckruschen war die Einzige, deren Herz nicht höherschlug bei den mit Fanfarenstößen eingeleiteten Sondermeldungen. Sie war eine Spökenkiekerin. Sie sah Schutt und Trümmer überall. Wer glaubte ihr? Werner und ich lachten sie aus, als wir im Vorbeigehen ein paar düstere Prophezeiungen aufschnappten. Wir hatten auch anderes im Sinn. Denn im Stall war Ingeborg, frisch und adrett wie immer, und melkte Kühe.
Am Abend tranken alle viel von dem Kartoffelschnaps, den Onkel Willi aus schwarzen Quellen besorgt hatte. Der Kreisbauernführer, schon leicht betrunken und mit klebriger, feuchter Stirnlocke, hielt eine Rede auf die deutsche Ehe, an die Adresse von Ziethen, der gutmütig lächelte, und die Braut Margot gerichtet. Margot kratzte sich ausgiebig unter der Achsel. Dann standen alle auf und tranken ex, und noch mal ex, und noch mal, und der Kreisbauernführer plumpste in seinen Sessel zurück und sagte zu Onkel Willi: »Mensch, soll ich dir mal erzählen, wie ich sechzehn in Reims die französische Nutte gevögelt habe?« Damit war man von den Ermahnungen für eine reine deutsche Ehe zum gemütlichen Teil des Abends übergegangen. Die Bäuerinnen, soweit sie im Dorf wohnten, waren nach Hause gegangen, um das Vieh zu besorgen. Die Männer hielten sich an den Kartoffelschnaps, aßen kalten Schinken von der letzten Schwarzschlachtung und Brot mit Butter, die auf den von uns geschmuggelten unplombierten Zentrifugen erzeugt worden war. Es war wie in alten Zeiten.
Wo war Ingeborg? Ziethen spielte das Schifferklavier, und Johanna zupfte die Klampfe. Er spielte Wenn das Schifferklavier an Bord ertönt und Lili Marleen und alle Lieder, die Ilse Werner in den neuen Ufa-Filmen pfiff. Die jungen Leute rollten den Teppich auf, in dessen vielen Löchern man sich zu leicht verfing, schoben das Klavier hinaus, das keiner spielen konnte, und tanzten. Die Alten verkrümelten sich. Sie soffen in den anderen Zimmern weiter. Der Kreisbauernführer kotzte draußen im Hof beim Misthaufen, band sich die Krawatte ab und kam wieder rein, um weiterzusaufen. Ingeborg tanzte wunderbar. Aber nicht mit uns. Wir konnten nicht tanzen.
Plötzlich war Werner verschwunden. Und Ingeborg auch! Ich suchte sie überall, konnte sie aber nicht finden. Im Flur fing mich Tante Anna ein. »Was, du bist noch nicht im Bett?«, fragte sie, »Marsch, nach oben!«
Ich ging langsam hinauf. Vor mir drehte sich alles, denn ich hatte natürlich auch von dem Kartoffelschnaps probiert. Von unten her hörte ich Ziethen spielen: Drei Lilien, drei Lilien, die pflanzt’ ich auf mein Grab… Aus der Räucherkammer schlüpfte die Fuckruschen mit einer Wurst unter dem Arm. Sollte sie. Sie sah mich böse an im Halbdunkeln. Ich warf mich angezogen aufs Bett, aber ich konnte nicht einschlafen. Hier lag ich nun im Dunkeln, Karl Kaiser, jetzt Einfamilienhausbewohner, aber fremd unter all den Menschen. Onkel Willi mit dem Parteibonbon, die unheimliche Fuckruschen, und Ingeborg, die ich liebte, und die mich wohl nicht wiederliebte.
Plötzlich musste ich mal. Weil ich zu betrunken war, um nach unten zu gehen, pinkelte ich aus dem Fenster. Unten war ja nur der Park. Aber als der Strahl unten auftraf, hörte ich laute Schreie und Flüche. Mir war es gleich. Würde ich eben sagen, Rabumm sei’s gewesen. Ich wankte zum Bett zurück -. Aufrecht blieb ich sitzen. Wenn ich mich zurücklehnte, drehte sich wieder alles. Nach einer Weile kam Werner nach oben, ohne Licht zu machen, zog er sich aus. »Werner?«, fragte ich. – »Was denn!« – »Werner, hast du sie geküsst?« Werner kam auf mich zu, und plötzlich haute er mir eine runter. »Fensterpisser«, sagte er.
Er war es also gewesen. Er und Ingeborg. Ich fiel in die Kissen zurück, und musste kichern. Betrunken und traurig und glücklich zugleich schlief ich ein, ich, Karl Kaiser, der nun ohne Zweifel erwachsen wurde. Karl Kaiser in der Fremde. Die Ziehharmonika hatte aufgehört zu spielen. Ziethen küsste wohl seine Braut. Irgendwo im Dunkeln.
Ingeborg bekamen wir am nächsten Tag nicht zu sehen. Ziethen grinste, als er mich sah. »Düwel«, sagte er, »solche Tricks von die Stadtmenschen muss man sich merken.« Dabei hatte er doch angefangen mit der verdammten Pinkelei!
Tante Anna stand auf der Treppe, als wir ein paar Tage später zurückfuhren in die Stadt. Onkel Willi hockte schon steif auf dem Kutschbock, Werner und ich saßen hinten im Wagen. »Kommt bald wieder«, rief Tante Anna. »Und bringt Zentrifugen mit!«
Onkel Willi knallte wütend mit der Peitsche, dass die Pferde mit einem Ruck anzogen. »Willst du wohl das Maul halten«, schimpfte er.
In P., wo die Bahnstation war, trafen wir Ingeborg und Ziethen und Margot. Sie waren einkaufen gewesen. Wir verabschiedeten uns. Ingeborg schaute uns an. Wir waren verlegen, Werner wegen seines Gedichtes über das Fischerkind, ich wegen des Unglücksfalls. Wir waren beide ein bisschen froh, als unser Zug abfuhr. Unsere Versuche in ländlicher Liebe waren wohl als gescheitert anzusehen. Jedenfalls war Ingeborg kühl wie eine frisch geerntete Zuckerrübe.
Im Zug hielt man uns wieder für tüchtige Jungen. Braun gebrannt und in Uniform, sahen wir aus, als ob wir einen wesentlichen Beitrag geleistet hätten, um die deutsche Ernährung sicherzustellen. Wir bildeten uns das auch selbst ein. Als der Zug die Stadt erreicht hatte, sahen Werner und ich, dass bei manchen Häusern die Wände aufgerissen waren. Man konnte hineinsehen wie in Puppenhäuser mit abnehmbaren Fassaden.
Es gab jetzt viele Luftangriffe. Zu Hause hatte Ede die meisten Doppelfenster herausgenommen und im Keller gestapelt, und auf der Treppe und unter dem Dach standen Kübel und Tüten mit Löschsand. Unsere Laube war mit Brettern verschalt. Ede wühlte im Garten, um einen sogenannten Splittergraben zu bauen. Das war die neueste Erfindung. Wir trugen Holz zusammen und zimmerten den Graben aus. Fünf Jahre früher hätten meine Freunde und ich dieses Bauwerk als ideale Höhle angesehen. Jetzt bauten die Erwachsenen so etwas! Meine Mutter schleppte alles vermeintlich Wertvolle herbei. Großmutter inspizierte die Höhle, sagte: »Pfui Deibel, da wollt ihr drinhocken? Wie stinkende Füchse?«, und war nie zu bewegen, darin zu sitzen. Sie blieb im Haus, im Keller. Aber im Herbst lagerte sie heimlich Winteräpfel im Splittergraben ein.
Othmars Eltern baten um Asyl im Splittergraben. In der Kolonie Tausendschön bauten die Laubenbewohner einen mindestens hundert Meter langen Splittergraben auf der Wiese, auf der früher das sommerliche Gartenlaubenfest stattgefunden hatte. Der Graben wurde mit Zementbohlen verschalt. Er verlief im Zickzack. Später, als die Angriffe heftiger wurden, benutzten auch Leute aus den Siedlungshäusern den Splittergraben in der Laubenkolonie. Man kam einander immer näher.
Großmutter wunderte sich, wohin Minnamartha zu rennen hatte:
»Was ist nun schon wieder los?«
»Ich mache was mit dem Schrankenwärter aus!«
»Mit dem Schrankenwärter?«
»Die Bahn kriegt früher Alarm. Wenn er Bescheid weiß, bläst er seine Tute.«
»Und dann?«
»Dann ist Frühwarnung. Gleich, wenn sie einfliegen.«
»Wat soll der Blödsinn? Manchmal kommen sie gar nicht her.«
Ich fragte: »Müssen wir da noch früher aufstehen?«
»Ja, aber wir haben genug Zeit, um in den Bunker zu rennen.«
»Ich will aber gar nicht in den Bunker.«
»Ich auch nicht«, sagte Großmutter. »Da musst du schon allein rennen.«
In der Nähe, aber immerhin noch ein Stück weiter weg als der Tausendschönsplittergraben, gab es jetzt einen nagelneuen Flakbunker, drei Meter Eisenbeton, absolut sicher. Den hatten Minnamartha und ein paar andere Frauen aus der Nachbarschaft sich ausgesucht. Minnamartha bepackte einen alten Kinderwagen, den sie im Keller gefunden hatte, mit Luftschutzgepäck: Eine Tasche mit Dokumenten, Kleidungsstücke, Notproviant, ein Reservekorsett. »Man weiß nie, was passiert«, sagte sie, und blieb damit ihrem Prinzip treu, das sie schon bei unseren Fressreisen in die Stadt veranlasst hatte, sich von Kopf bis Fuß frisch anzukleiden: »Falls man einen Unfall hat.«
Der Bahnwärter blies seine Tute bei Voralarm, die Frauenkolonne, vier oder fünf Bunkerwillige, alle mit Kinderoder Handwagen, setzte sich in Bewegung und raste über einen düsteren Waldweg dem Bunker zu. Manchmal kam öffentlicher Alarm, manchmal nicht. Großmutter und ich schliefen weiter, bis die Sirenen heulten. Dann gingen wir in unseren Keller, der in jenen frühen Angriffstagen ungeschützt und unausgebaut war, abgesehen von einigen Sandsäcken, die Ede vor die Fenster gestapelt hatte, gegen Flaksplitter. Dass hier draußen Bomben fallen würden, glaubte zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Die Stadt, das Zentrum, beharkten die Tommys, aber hier, wo die Häuser einzeln und frei standen, lohnte es sich doch nicht.
Wenn wir nach der Entwarnung vor den Keller traten, sahen wir nun über der Stadt fast immer einen rötlichen Schein. Brandbombenangriffe. Was die Sprengbomben anrichteten, sahen wir bei Tage: Zerstörte Häuser nun in allen Bezirken. Längst hielten sich die Glasermeister mit ihren Angeboten zurück, zersprungene Scheiben zu erneuern. Glas war knapp, und die Leute nagelten Pappendeckel vor ihre Fenster.
Othmar, Werner und ich sammelten immer noch Knochen, Buntmetall, alte Zeitungen. Die Einfamilienhäuser der anderen Siedlungsbewohner begannen innen dem unseren ähnlich zu werden. Wertvolle Möbel und Teppiche hatten die Leute in die Keller geschafft. Bei vielen waren die Vorhänge abgenommen wegen Brandgefahr.
Fast jeder trug jetzt irgendeine Uniform.
Der Winter kam, Großmutter hortete die Goldrenetten in unserem Luftschutzbauwerk. Ede bestach einen Lokomotivführer, täglich aus dem planmäßigen Vierzehnuhrvier Kohle abzuwerfen, wenn er bei uns vorbeifuhr. Denn Kohle wurde knapp. Die Einfamilienhausbesitzer kauften sich Öfen und legten die Zentralheizungen still. Aus Frankreich kamen Urlauber und brachten echten Bohnenkaffee mit. Die Gefreitengattinnen aus der Laubenkolonie trugen Füchse um die Schultern, aus Paris. Auf den Wäscheleinen flatterte schwarze Unterwäsche.
Wenn man auch um einen eisernen Ofen hockte, und wenn man sich auch nachts in die Erde verkroch: man siegte. Nun würde der Führer sicher England angreifen. Denn wir fahren, denn wir fah-ren, denn wir fah-ren gegen Engelland! sangen wir jetzt, wenn der Jungenzug Jomswikinger marschierte. »Na seht ihr«, sagte meine Mutter. »Es geht voran!« Auf dem freien Feld neben der Laubenkolonie grub sich eine Flakbatterie ein.
Tante Lizzi trug nun zu ihrer langen Zigarettenspitze Hosen im Marineschnitt, unten ganz weit. Ihrem Mann, dem Bomberpilot, hing ein höherer Orden aus dem Kragen für Verdienste bei der Luftschlacht um England. Sie zeigte uns ein Foto.
Im nächsten Jahr entschied sich der Führer anders. Abgesehen von Bombenangriffen auf London und U-Boot-Krieg ließ er England ungeschoren und entschloss sich, das russische Untermenschentum zu bekämpfen, das eine Bedrohung darstellte für die germanische Rasse. Unsere tapferen Soldaten marschierten wieder. Die Fanfaren dröhnten aus dem Radio. Sieg folgte auf Sieg. Auch wir ließen Engelland sein und sangen nun: Am Wege rote Rosen blüh’n – wenn die MG-Kas nach Moskau zieh’n. Ziethens Regiment war erfolgreich an der Kesselschlacht von Bialystok und Minsk beteiligt. Ede, nur Ede, stellte Vergleiche an mit Napoleons Russlandfeldzug. Aber er war allein auf weiter Flur mit seinen Unkenrufen.
Die deutschen Panzerspitzen näherten sich Moskau. Wir saßen in den Klassenzimmern bei offenen Fenstern, wiederholten, dass das Quadrat über der Hypothenuse gleich der Summe der beiden Kathetenquadrate ist.
»Der beiden Kathetenquadrate«, rief der Mathelehrer in den Raum. »Habt ihr das verstanden?«
»Jawohl«, riefen wir vormilitärisch.
»Gut«, sagte der Pauker, »vergesst das nicht, wenn ihr Kartoffeln buddelt.«
»Kartoffeln?«
Der alte Pauker winkte ab. »In zehn Minuten antreten. Auf dem Schulhof. Dann werdet ihr hören.«
Die oberen Klassen versammelten sich im Hof. »Bismarckschule – stillgestanden!«, rief der kriegsdienstunfähige Turnlehrer, seine verkrüppelte Hand zum Gruß ausstreckend. »Mann«, murmelte Rabumm, »die verarschen uns doch.«
Grau von Staub waren die Kastanienbäume am Rand des Platzes. Niemand sprengte hier mehr. Wir lauschten der Ansprache des Turnlehrers.
»Bismarckschule, es ist eine Ehre, dass wir die Aufgabe übernehmen dürfen, die Ernte einzubringen«, rief der Turnlehrer. Othmar, mit blonden Locken immer noch, schaute seine Hände an. »Au warte«, murmelte er. »Hiermit?«
»Bismarckschule – weggetreten!«
Minnamartha las in heller Aufregung den Merkzettel. »Was soll denn das? Du kannst doch zu Onkel Willi fahren!«
»Befehl ist Befehl!«
»Und hier steht, ihr sollt einen Affen mitbringen. Wozu denn einen Affen?«
Ich klärte Minnamartha auf, dass es sich um einen Tornister handelte, der Affe genannt wurde, weil er hinten mit Fell bezogen war, und dass ich einen kriegen könnte, von Leuten, deren Sohn Soldat war.
»Also gut«, seufzte Minnamartha. »Packen wir zusammen. Sechs paar Strümpfe, da kann ich ja nur lachen. So viel hast du gar nicht. Außerdem gehen auf dem Lande die Kinder barfuß. Das kannst du auch. Ist doch Sommer.«
Ich verdrückte mich. Großmutter erntete draußen im Garten Stachelbeeren. »Erntehilfe«, sagte sie. »Du kannst doch keinen Maiskolben von einer Zuckerrübe unterscheiden!«
»Vielleicht lerne ich es?«
»Du nicht. Du bestimmt nicht.«
»Vergiss nicht das Kochgeschirr«, sagte Ede. Er freute sich, dass ich aus der gefährdeten Stadt herauskam.
Die Lehrer, emsig um unser Wohl bemüht, stopften uns eines Morgens in französische Beutewaggons, die auf einem Abstellgleis standen, bei sengender Hitze, bis zum Mittag. Dann spannte sich eine altersschwache Güterzuglok davor und schleppte uns im Schneckentempo über zahllose Weichen aus der Stadt. In drei Tagen sollte uns der Sonderzug an die äußerste Ecke Deutschlands bringen, wo Weizenfelder und kaschubische Bauern auf uns warteten. Langsam dampften wir durch die Mark, die Landschaft, die einst Friedrich der Große kultiviert hatte, beziehungsweise seine Untertanen, die er in den Oderbruch abkommandierte. Sumpf und Sand. Auch heute, zweihundert Jahre später, wuchs hier nichts anderes als Roggen, Kartoffeln und Gras. Schwarz-weiße Kühe weideten, Kühe mit den preußischen Farben.
Langsam fuhr der Zug weiter. Bar jeder Spur von Bartwuchs sangen wir: Unrasiert und fern der Heimat – fern der Heimat unrasiert… und freuten uns. Wir rollten endlich zum Einsatz. Wie Soldaten. Wie jene Soldaten, die uns auf Güterzügen begegneten, siegreich aus Russland kommend. Auf den Stationen reichten uns Rotkreuzschwestern Erbsensuppe und Kaffee. Lagermannschaftsführer Paul Gerhard Kleist, der uns begleitete, zupfte die Klampfe. Es war wie an den schönsten Tagen mit Jungenzugführer Kulle Rosenbusch im Birkenwäldchen.
Der Zug, unser Einsatzzug, hatte uns nur bis zur nächsten Kreisstadt gebracht. Dann waren wir in eine winzige rote Kleinbahn umgestiegen, die uns bis zur Endstation, ins Kaschubendorf in der Nähe des Meeres transportierte.
Am Bahnhof standen die kaschubischen Bauern. »Wo sind die Studenten?«, fragten sie. »Seid ihr das?« Wir fühlten uns geschmeichelt. Später stellte sich aber heraus, dass man den Bauern für die Erntehilfe wirklich Studenten versprochen hatte. Stattdessen wurden nun hier dreizehnjährige Stadtjungen ausgeladen, blass, ohne Muskeln und dürr durch die mangelhafte Ernährung in der letzten Zeit. Je nach Temperament packte die Kaschubenbauern das Mitleid oder die Wut. Sie begleiteten uns zur Jugendherberge. Stumm sogen sie an ihren Pfeifen. Vor der Herbergsbaracke warteten sie kaum, dass wir unser Gepäck ablegten und nahmen uns mit auf ihre Höfe.
Othmar und ich kamen zum selben Bauern. Er steckte uns, obwohl es schon dunkel wurde, auf den Heuboden und ließ uns das frisch eingestakte Heu festtreten. Wir hüpften umher wie Hunde in den Wasserpumprädern mittelalterlicher Bergwerke, während immer neues Heu vom Fuder durch die Dachluke zu uns hereinflog, um uns, dessen waren wir nach fünf Minuten sicher, lebendig zu begraben. Othmars blonde Locken glänzten schweißnass im Schein der Stalllaterne, die an einem Balken über uns hing. Er sprang, ein Floh im Braunhemd, auf und ab.
Struchen Johann, der Bauer, mit hohen Backenknochen, wie sie jenem slawischen Volksstamm eigen sind, schaute ab und zu von draußen durch die Luke herein, lachte und fragte: »Na, leben die Herren Studenten noch?« Eine Zeit lang konnten wir diese Frage bejahen. Dann antworteten wir nicht mehr, weil wir dazu keinen Atem mehr hatten.
Wie durch ein Wunder war das Fuder plötzlich aufgestakt. Struchen Johann zog zwei triefende Bündel vom Heuboden.
Othmar und mich.
In der Küche lächelte uns die noch junge Bäuerin mit einem teueren Goldzahn an und gab uns Milch und Linsensuppe. Wir erholten uns.
Als wir wieder reden konnten, mussten wir von uns erzählen. Das fiel uns leicht. Denn alles, was wir bisher erlebt hatten, erschien uns als sanftes Schicksal gegenüber dem, was uns hier in den ersten Stunden auf dem Bauernhof widerfahren war. Böse waren sie nicht, unsere Kaschuben. Sie konnten es nur nicht begreifen, dass jemand fast umkippte, bloß, weil man ihn zwei Stunden auf den Heuboden sperrte.
Neben Struchen Johann, dem Bauern, gab es auf dem Hof noch einen Bruder der Bäuerin, der nichts zu sagen hatte, sich um die Pferde kümmerte und einfach Schwager genannt wurde, dann eine alte Großmutter, die auch nichts zu sagen hatte und, im Gegensatz zum Schwager, auch nichts tat, sowie eine kugelrunde Ukrainerin, eine sogenannte Fremdarbeiterin, die kein Wort deutsch konnte und sehr freundlich war.
Einen Tag später entdeckten wir, dass auch noch ein vollgefressener Säugling vorhanden war, der sich hauptsächlich damit beschäftigte, in Brei verrührt jene Butterrationen aufzuessen, die uns zugeteilt waren. Er wurde von der Bäuerin »unser kleiner Kronensohn« genannt, eine Bezeichnung, über die wir uns zuerst wunderten, bis Othmar herausfand, dass es sich um »bürgerlich Kronprinz« handeln musste.
Nachdem wir abgefüttert waren, wankten Othmar und ich zur Jugendherberge zurück, wo sich inzwischen fast alle wieder eingefunden hatten. Vor der Tür stand geschniegelt und in Schaftstiefeln Lagermannschaftsführer Paul Gerhard Kleist und wollte uns zum Fahnenappell antreten lassen. Aber Werner Pethmann, Rabumm, sagte: »Mein Lieber, ab heute scheißen wir dir was!«
Damit war Paul Gerhard Kleist nicht einverstanden. Doch was blieb ihm übrig? Die nächste Parteibehörde lag Stunden entfernt, und außerdem durfte das Einbringen der Ernte nicht gefährdet werden. Wie fähig wir für diese Aufgabe waren, hatte jeder Einzelne bei seinem Bauern beweisen dürfen. Aber das hatte Paul Gerhard Kleist nicht gesehen.
Am nächsten Morgen, als Othmar und ich zu Struchen Johann kamen, sahen wir, dass in der Küche, im Fußboden, eine Klappe offen stand. Aber wir dachten uns noch nichts dabei und aßen unsere Brote mit ungesüßter Heidelbeermarmelade. Sie war ungesüßt, weil Kronensohn auch den Zucker fraß, um schnell zu wachsen. Dann bedeutete uns die Bäuerin, dass wir uns in das dunkle Loch zu begeben hätten, das unter der geöffneten Klappe klaffte. Es stellte sich heraus, dass sich dort ein Kartoffelkeller befand, gefüllt mit teils noch genießbaren, teils arg verfaulten Vorjahrskartoffeln. Die genießbaren waren mit mehrere Zentimeter langen Keimen versehen. Unsere Aufgabe war es, diese Kartoffeln von den Keimen zu befreien.
Wir hockten uns in dem fast lichtlosen Keller auf die Knie und begannen mit unserer Arbeit. Othmar erfand wilde Beschwörungsformeln gegen den Erfinder der Kartoffel. Er sah uns die nächsten acht Wochen in diesem Keller. Unsere Eltern würden erstaunt sein über die Blässe, die wir vom Land heimbrachten.
Wir arbeiteten aber zu langsam. Nach drei Tagen wurden wir aus der Kasematte befreit und durften mit dem Schwager ins Heu. Da mussten wir weit laufen, in Richtung Meer, und wir waren ganz allein mit dem Schwager, ohne Struchen Johann, und ohne die lächelnde Bäuerin, Mutter von Kronensohn, dem Vielfraß.
Mit dem Schwager ging es gemächlich. Er hielt beim Mähen alle paar Meter an und schnupfte aus einer silbernen Dose Tabak. Dazu häufte er ein Kegelchen des hellbraunen Pulvers auf die nach oben gedrehte Handkante, zwischen Daumen- und Zeigefingerwurzel, führte dieses Häufchen vorsichtig zur Nase und sog es erst in das eine Nasenloch, dann in das andere. Danach gab es einen befreienden Nieser, oder sogar mehrere, und dann steckte der Schwager die silberne Dose wieder in die Westentasche und mähte weiter. Wir arbeiteten mit dem Rechen hinter ihm her.
Nach einer Weile sah Schwager auf seine Taschenuhr, warf die Sense hin und sagte: »Nu is Pause.« Wir fielen in frisch gemähte Heuhaufen und schliefen eine halbe Stunde oder manchmal auch eine Stunde.
Allmählich erfuhren wir von Schwager, wo die Butter blieb, und noch einiges andere. »De Bur is nich schlecht«, meinte Schwager, wenn er von Struchen Johann sprach. »Aber de Ollsch. Die sitzt mit dem Moas up de Butter!« Das nahmen wir nicht wörtlich, aber im Grunde hatte Schwager recht: Sie saß auf der Butter, auf dem Zucker, auf der Wurst und auf dem Schinken. Nach meinen so gegenteiligen Erfahrungen bei Onkel Willi im Jahr davor konnte ich es nicht begreifen.
Ungesüßte Heidelbeermarmelade macht einen sauren Magen. Aber sauer macht nicht immer lustig.
Schön war es abends in der Jugendherberge. Wir konnten miteinander reden und waren nicht mehr den Bauern ausgeliefert. Den andern erging es ähnlich wie Othmar und mir. Es schien zum Beispiel im Ort überraschend große Vorräte an Vorjahrskartoffeln zu geben.
Paul Gerhard Kleist baute sich manchmal vor uns auf und befahl: »Achtung! Schrankappell!« Aber wir waren zu müde, um es ihm auch nur übel zu nehmen. Werner Pethmann rülpste und sagte: »Fass dir an’n Parteihut.«
Das war Paul Gerhard Kleist wieder nicht recht. »Ich mache Meldung«, schrie er und rannte aus dem Schlafsaal.
»Wir müssen ihn noch ein bisschen tupfen«, sagte Werner Pethmann. »Ist jemand Bettnässer?«
Niemand meldete sich. Othmar sagte: »Ich weiß es doch, der Klaus!«
Klaus wurde rot. Er war in Mathematik gut, sonst wusste eigentlich niemand etwas von ihm »Das – das stimmt nicht«, sagte er leise.
»Is wurscht, wir probieren es mal«, sagte Werner. »Du ziehst in das Bett über dem Lamafü.« Das war Paul Gerhard Kleist, der Lagermannschaftsführer. Klaus fügte sich, denn Werner konnte grob werden, das wussten wir alle.
In der Nacht wachten wir auf, weil sich im Halbdunkel ein Geisterballett zwischen den Betten bewegte. Rabumms Idee hatte vollen Erfolg gehabt. Klaus und der Lamafü tanzten umher und trockneten ihre Betttücher, Klaus sein Laken, Paul den Bezug von seinen Decken.
Werner liebte Erfindungen über alles. Der Lamafü hatte natürlich darauf bestanden, dass Klaus wieder ein unteres Bett bezog. Außerdem musste er unter Aufsicht von Paul G. Kleist jede Nacht ein paarmal geweckt werden.
Bald hatte Werner seinen Plan parat. Nachdem Klaus gegen Morgen zum letzten Mal geweckt worden war, schlich Werner hinaus, unter dem Arm einen langen Röhrenstiefel von Paul G. Kleist und eine Aluminiumwaschschüssel. An eine Seite der Herberge grenzte ein Bauernhof. Ein Bauernhof hat einen Misthaufen. Und um einen Misthaufen herum gibt es Jauche. Schöne dunkelbraune stinkende Jauche. Werner füllte Paul G. Kleists Röhrenstiefel mit dem braunen Saft. Die Waschschüssel versenkte er, dann trug er vorsichtig den Stiefel durch die Nacht zurück und stellte ihn wieder neben den anderen, vor Lamafüs Bett.
Der Morgen kam. »Es stinkt hier ja so«, sagte jeder, der aufwachte. »Es stinkt hier ja so«, sagte auch Paul G. Kleist, Lagermannschaftsführer, als er aus dem Bett stieg. Als er in die Stiefel fuhr, stank es noch mehr. Dem Prinzip des Archimedes folgend, verdrängte sein Fuß die Jauche. Sie spritzte heraus und ihm ins Gesicht.
Triefend und auf einem Bein stand der Lamafü vor uns, einen höllischen Duft verbreitend. »Wer war das?«, fragte er und schaute uns an.
»Icke«, sagte Werner Pethmann ruhig.
Von da an war der Lamafü ein liebenswürdiger Mensch. Er verzichtete auf Appelle, schrubbte den Schlafsaal, während wir bei den Bauern waren, und zog mit uns zum Schwimmen ans Meer, das uns ganz allein gehörte. Denn Kaschuben halten nichts vom Meer.
Nie war Rabumm arm an neuen und unterhaltenden Ideen. Sein nächster Anschlag galt Wulle Schnief, einem blonden Jüngling, der stilecht in Holzpantinen einherging.
»Weißte, wo Wulle Schnief immer abends steckt?«, fragte Rabumm.
»Keine Ahnung.«
»Wulle hat ne Braut. Der zischt hinter so ’ner Maus her. Ich habe sie gesehen, neulich, unten am Fluss. Die Maus ist ganz dick, rosig. Wie ne Muttersau. Wulle knutschte mit der. Sie treffen sich jeden Abend, du, die Maus rollt die Augen, wenn der mit seinen Pantinen anklappert. ’n Schnupfen wird er sich holen. Pass mal auf, heute Abend, der kommt ganz spät. Wenn’s Licht schon aus ist.«
»Ich dachte, Wulle arbeitet so lange?«
»Hier, Mensch.« Rabumm deutete sich an die Stirn. »Der spitzt seinen Bleistift, das schwöre ich dir. Aber ich hab’ schon eine Idee.«
»Warum denn? Hast du was dagegen, wenn Wulle mit der Maus rumknutscht?«
»Ach, wo. Nur so. Zum Spaß. Sammel mal alle Waschschüsseln ein.«
»Willst du wieder Jauche schöpfen?«
»Ganz was anderes!«
An diesem Abend, als der Lamafü das Licht ausgedreht hatte, stand Rabumm wieder auf, arbeitete geräuschlos in der Dunkelheit und konstruierte Rabumms Lärmmaschine. Neben der Tür baute Rabumm aus Waschschüsseln und Schemeln einen Turm, verband die wackelige Konstruktion mittels einer Schnur mit der Türklinke. Ich half ihm. »Was soll das?«, flüsterte ich. »Wirst schon sehen. Auftritt Wulle in zwanzig Minuten.«
Die Zeit stimmte, als wenn Minnamartha ihre Eieruhr gestellt hätte: Genau zwanzig Minuten später schlich sich Wulle in die Herberge. Die Lärmmaschine brach mit Getöse zusammen, alle wurden wach, der Lamafü machte Licht an, und Wulle bekam was zu hören. Rabumm lachte, dass ihm die Tränen kamen. Wulle war beleidigt. »Arschlöcher«, sagte er. »Bloß weil euch der Schwanz noch nicht steht.«
Rabumm brillierte auch als Widerkäuer. Er konnte lange nach dem Essen gebratene Schinkenstückchen durch einen Rülpser wieder aus dem Magen nach oben befördern, um genüsslich daran herumzukauen. »Gibt dein Bauer dir Schinken zu fressen?«, fragte ich erstaunt. Rabumm grinste. »Die Bäuerin …«
Sonntags hatten wir frei. Manchmal gingen wir ans Meer. Danach besuchten wir das Dorfkaffee und aßen gelbes Kriegsersatzspeiseeis mit Süßstoff. Das Kaffeehaus lag im Oberdorf, am Fuß eines Berges mit Aussichtsturm, Revekol genannt. Zur Jugendherberge ging es über einen grünen Fluss, die Herberge lag im Unterdorf. Auf der Brücke sagten wir: »Rabumm, spuck mal gelb!« Rabumm beugte sich übers Geländer, rülpste, und spuckte einen knallgelben Kunsteisfladen in das grüne Wasser. »Aaaahh …«, riefen wir. – - -
Wulle Schnief arbeitete beim Verwalter des dörflichen Backofens, der hinter unserer Herberge stand. Jeden Donnerstag wurde der Ofen mit Reisig geheizt. Dann brachten die Bäuerinnen die blassen, in karierte Handtücher gewickelten Teiglaibe und backten Brot für die Woche. Weil Wulle Schniefs Chef dauernd zwischen dem heißen Backofen und seinem Hof hin- und herrannte, hatte er sich einen chronischen Schnupfen zugezogen. Wulle behauptete, dass dem Bauern beim Mittagessen alle drei Sekunden ein Tropfen von der Nase in die Suppe fiele. Wir glaubten es nicht. So kam es, dass der Bauer in der nächsten Zeit mittags ziemlich viel Besuch bekam. Jeden Tag saßen ein paar von uns herum und schauten zu, wie die Tropfen wirklich in regelmäßigen Intervallen in die Suppe kleckerten. Wulle verdarb das den Appetit nicht.
Eines Nachts wachten wir auf, weil draußen jemand ein Feuerhorn blies. Das Backhaus hinter unserer Herberge brannte.
»Los, löschen!«, schrie Werner, der nun schon gar nicht mehr abwartete, was etwa der Lamafü befehlen würde. Wir zogen im Gänsemarsch zum brennenden Backhaus. Werner Pethmann sang: Das ganze Scheißhaus steht in Flammen – der nackte Arsch ist in Gefahr. Da komm’n die Männer mit den Schläuchen – hurra! Die Feuerwehr ist da!
Die Dorfbewohner stürzten herbei, die meisten rangen die Hände, aber Struchen Johann und Wulles Schweinchenfreundin standen in der Eimerkette, die wir bildeten. Rabumm hockte oben auf dem Strohdach, aus dem Flammen schossen, und kübelte ins Feuer, was wir ihm hinaufreichten, das Werk mit kernigen Sprüchen begleitend wie: »Einen Eimer für den Führer – einen für den Reichsmarschall.« Dann sah Rabumm Struchen Johann unter sich stehen. Ihm fielen meine Kronensohngeschichten ein, und flugs leerte Rabumm, wahrer Freund, einen Eimer über meinen Arbeitgeber.
»Oll’n Döskopp«, rief Struchen Johann wütend, aber Rabumm schwang schon den nächsten Eimer, rief: »Ruhe im Puff! Hier wird gelöscht!« und Struchen Johann musste ihm den Wasserbehälter hinaufreichen. Alle wurden abgelenkt, weil Wulles Schweinchenfreundin sich beim schwungvollen Eimerreichen in eine Schubkarre mit Mist setzte. Rabumm sahs und rief: »Wulle, polier ihr den Arsch. Sie sitzt im Mist!« Wulle scherte tatsächlich aus der Kette aus und putzte seiner Freundin mit einem reinlichen städtischen Taschentuch die Hinterpartie ab.
Die Flammen erstickten, das dörfliche Backhaus war gerettet. Oben stand Rabumm, in Dampfwolken gehüllt, neben ihm der Backhausverwalter, dessen Nase nun ausgetrocknet war. Werner stocherte im verbrannten Stroh, kippte noch hier und da einen Eimer Wasser in die schwelenden Lagen, hatte aber Zeit, die zweite Strophe seines Liedes zum Himmel zu singen: Das ganze Scheißhaus ist gerettet …
Die Leute aus dem Dorf dankten uns. Nur Struchen Johann brummte Plattdeutsches und schwenkte sein nasses Hemd.
»Kann doch vorkommen. Entschuldigung«, sagte Rabumm. »Düwel ock, ick war di …«, murmelte Struchen Johann und kehrte heim zu Goldzahnweib und Kronensohn.
Während das Auge des Führers sicherlich auf unserer nützlichen Arbeit ruhte, zogen wir wieder in die Felder, Othmar und ich, im Gänsemarsch hinter Struchen Johann und Schwager. Wir befreiten die Rübenfelder von Unkraut, wir rechten das Heu von den Moorwiesen, wir lauerten den Wildschweinen auf, die am Waldrand die Kartoffeln auf den Feldern ausgruben. Auf dem Bauernhof gab es immer wieder die Brote mit Heidelbeermarmelade.
Nur sonntags war es anders. Da fuhren Bauer und Bäuerin mit dem Leiterwagen zu Verwandten. Schwager holte uns in seine Kammer neben dem Kornboden. Unter dem Bett hatte er einen Margarinekarton stehen, Rama im Blauband. Darin bewahrte er ein anknöpfbares Vorhemd auf, an dem der Schlips fertig angenagelt war. Das knöpfte er vor, bediente sich aus der Schnupftabakdose, machte ein paar Nieser und begann den Feiertag.
Noch etwas anderes enthielt der Margarinekarton.
Schwager gefielen die Heidelbeermarmeladenstullen genauso wenig wie uns. Deshalb hatte er sich in günstigen Augenblicken einen Geheimvorrat von Schinken und Wurst angelegt. Sonntags schnitt er für sich und für uns über den Daumen schöne Scheiben herunter. Wir saßen auf seinem Bett und kauten und ernährten uns im Voraus für die kommende karge Woche.
Es war schön an den Sonntagen in Schwagers Kämmerchen. Wir probierten auch das Tabakschnupfen. Aber das ging schlecht. Schwager lachte. Abends schmiss er sein Vorhemd mit Schlips wieder in den durchgefetteten Karton, und Sonntagsstaat und Würste verschwanden unter dem Bett. Der Leiterwagen rasselte auf dem Hofpflaster. Bauer, Bäuerin und der wabblige riesige Kronensohn kehrten vom Verwandtenbesuch zurück. Es gab Pellkartoffeln und weißen Käse. Wir aßen auch das noch auf, um keinen Verdacht zu erregen.
Die kaschubische Großmutter schaukelte den Kronensohn in der Sonne und überwachte die junge Ukrainerin, die Mädchen für alles war.
Auch diese zwei hielten ihre Sonntagsfressorgien, wenn die Bäuerin nicht da war. Sie backten Kuchen, kochten sich eine riesige Kanne aufgebesserten Muckefuck und saßen damit vor der Küche. Ab und zu stand die Großmutter auf, machte einige Schritte und ging leicht in die Kniebeuge. Unter ihren knöchellangen Röcken kam nach ein paar Sekunden in den Ritzen zwischen den runden Steinen, mit denen der Hof gepflastert war, ein schmales Rinnsal hervor. Die alte Frau konnte das Wasser nicht mehr halten. Längst hatte sie es deshalb aufgegeben, unter ihren langen Röcken Hosen zu tragen. Schnell versickerte die Feuchtigkeit zwischen den Steinen.
Wenn wir an den Sonntagen, nach langem Fußmarsch, durch den knöcheltiefen Sand gewatet waren, der von den Wanderdünen zwischen die Kuscheln wehte, lag das Meer plötzlich vor uns. Am Ende des Strandes stand ein roter Leuchtturm, der nachts die Schiffe vor den drei Sandbänken warnen sollte, die hier der Küste vorgelagert waren. Die Sandbänke schimmerten gelb durch das grüne Wasser. Wir zogen uns aus. Zwanzig helle Hinterteile blitzten unter braun gebrannten Rücken. Niemand sah uns. Der Leuchtturm war weit entfernt. Hinter uns auf der Düne lag der Schuppen mit dem Rettungsboot, links, ein paar Hundert Meter weiter, steckte das Wrack eines gestrandeten Schiffes mit rostigen Spanten im gelben Sand. Wulle schwamm weit hinaus, bis hinter die dritte Sandbank, in deren Nähe schon die kleineren Küstenschiffe vorbeizogen. Hier erlebte er den Höhepunkt seiner fäkalischen Lust. Er kackte ins Meer. Braunes schwamm weit draußen an der Oberfläche, während Wulle sich erleichtert mit langen Kraulschlägen wieder zur Sandbank drei zurückschlängelte.
Eines Morgens sagte Schwager zu Othmar und mir: »Habt ihr gesehen, wie der Roggen steht?« Das war eine müßige Frage. Wir hatten keine Ahnung, wie der Roggen stehen musste. Schwager schulterte die Sense, und wir gingen hinaus zu Schlag neun, am Waldrand, um anzumähen. Morgen sollte der Mähbinder aus dem Nachbardorf kommen.
Der erste Erntetag im Roggen war immer ein Fest. Struchen Johann und Schwager zogen deshalb am nächsten Morgen weiße Leinenhosen und weiße Hemden an. Die Ukrainerin band sich Blumen ins Haar. Auf dem Feld wartete schon der Mähbinder, ein silbernes Ungetüm, das sich rasselnd in den Roggen fraß. Er spuckte die fertigen Garben auf die Stoppeln, und wir stellten sie zusammen. Gegen Mittag kam die Bäuerin. In großen blanken Milchkannen brachte sie Kartoffelsuppe. Alle löffelten. Dann ging die Arbeit weiter, im gleichen Rhythmus, bis zum Abend. Da fielen die letzten Halme. Die Pferde standen schwitzend still. Ihr schwarzes Fell glänzte. Die Schweife peitschten. Der Schlag war leer. Wir fuhren auf den Wagen nach Hause.
So ging es jetzt mehrere Wochen hindurch. Manchmal mussten wir auch sonntags aufs Feld. Jeden Mittag kamen die Suppenkannen. Schwager mähte die Felder an. Othmar und ich stellten die Garben auf. Wir sahen keinen Sommerhimmel mehr, keinen Baum, nur die Halme und die Garben vor uns, nach denen wir uns bückten. Unsere Hemden zerrissen von der Berührung mit Stroh, Grannen und Disteln. Über den Knien platzten die morschen Hosen. Unsere Haare bleichten, bis sie so hell waren wie Schwagers Schnupftabak, den wir in spitzen Tüten aus Struchen Mariechens Kolonialwarenladen holten.
Bei Struchen Mariechen konnte man vom Schnürsenkel bis zum eisernen Ofen alles kaufen. Schwager nannte das Geschäft die »Konnealhandlung«. In braunen Tüten war Glaubersalz, das die Pferde ins Futter gemengt bekamen, wenn sie an Verstopfung litten. In der Ecke lehnten scharf geschliffene Torfspaten. Zaumzeug hing von der Decke. Neben dem Blechfass mit Petroleum waren Fässer mit Sauerkohl und mit Bismarckheringen gestapelt. Struchen Mariechen verkaufte Lampendochte, Waschpulver, Einheitsseife, Backpulver und Romadur und Stolper Jungchen. Jede Ware roch eigentümlich, und das ganze produzierte eine eigentümliche Duftmischung. Auch Struchen Mariechen, man merkte es, wenn man ihr nahe kam, roch wie ihr Laden. Mariechens Leidenschaft waren die Katzenzungen aus süßer Schokolade, und Kognakkirschen. Wenn sie ein Viertel gemischtes Konfekt einwog, sparte sie die Kognakkirschen möglichst aus. Eines Tages kaufte ein kleines Mädchen von nebenan bei ihr Konfekt. Als es sah, wie Struchen Mariechen ein paar Kognakkirschen wieder heraussammelte, die aus Versehen in die Tüte gekommen waren, sagte das Mädchen: »Ach, bitte nicht die Kognakkirschen. Die esse ich so gerne.« Da gab sich sogar Struchen Mariechen geschlagen.
Wir aber kauften nur Schnupftabak und Glaubersalz.
Der Betreuungslehrer, Assessor Gockel, reiste mit der roten Kleinbahn von der Kreisstadt her an. Er wollte Latein und Geschichte geben. Paule Kleist hatte für ihn einen separaten Raum in der Herberge ausgeräumt, wo Gockel. die untere Etage eines doppelstöckigen eisernen Feldbettes bezog. Das kleine bebrillte Männchen hatte bald heraus, dass wir von Cäsars gallischem Krieg zu Themen herabgestiegen waren, die er als Altsprachler bei der künftigen geistigen Elite der Nation nicht vermutet hätte. Er machte deshalb Versuche, uns Stunden zu geben, sprach sogar mit den Bauern, die uns die dafür notwendige Zeit einräumen sollten.
»Wat, Latein?«, sagten die aber. »Und wer macht die Rüben raus?«
Deshalb befahl uns Assessor Gockel in den Abendstunden, ihm vorzuübersetzen, wie Cäsar ein mit Wall und Graben umgebenes festes Lager bezog, bevor er sich erneut auf seinen gallischen Widersacher Vercingetorix stürzte. Aber wir schliefen dabei ein, und Wulle bekam, wie er sagte, Verstopfung. Da packte Assessor Gockel sein Lateinbuch in den Koffer, der auf dem oberen Bettrand stand, und ließ sich von Werner Pethmann einen Haselnussstecken schnitzen. Damit marschierte er über die Felder, um möglichst viel über das Wesen der kaschubischen Landschaft zu erfahren.
Wir waren beim Garben aufstaken, als Assessor Gockel auch zu uns kam. Er lehnte sich auf seinen Haselnussstock und sagte: »Ach, Sie ernten wohl gerade Korn?«
Struchen Johann, der oben auf der Fuhre stand, war so erstaunt über diesen Ausspruch, dass ihm die brennende Pfeife aus dem Mund fiel, mitten zwischen die schon aufgeladenen Garben. Er rettete sie, schaute von oben auf den Assessor, dessen Brillengläser ihn anblinkten, und sagte: »Jau!«
Mehr als nee oder jau sagten die Leute hier selten. Das war aber Gockel zu wenig. Deshalb fragte er weiter: »Und dann fahren Sie wohl das in die Scheune?«
Struchen Johann zwinkerte mit den Augen und sagte wieder: »Jau!«
»Ach und dann dreschen Sie es im Winter?«
»Jau!«
»Und das Korn wird gemahlen? Zu Mehl?«
»Jau!«
»Na ja«, sagte Assessor Gockel. »Das habe ich mir gleich gedacht.« Und damit sprang er über die Stoppeln davon. Struchen Johann schaute ihm nach. Er schüttelte den Kopf. »Und dee kann Lateinisch snacken«, sagte er.
Othmar passte unser Leben auf dem Land überhaupt nicht, und er war oft deprimiert. Er beschloss, krank zu werden. Auf dem Tauschwege besorgte er sich ein Stück Friedensseife und aß es auf. Ihm wurde sehr schlecht. Die ganze Nacht hindurch wachte Assessor Gockel an seinem Bett im Krankenzimmer der Herberge und stellte hohes Fieber fest. Am Morgen aber war Othmar wieder gesund. Und weil es so viel essbare Seife nicht gab, konnte er auch keinen neuen Versuch machen. Er blieb noch ein paar Tage im Bett. Dann tauchte er wieder bei Struchen Johann auf, schulterte die Hacke und zog hinter Schwager und mir in die Rüben. »Warst wohl krank?«, sagte Schwager. »Du musst Tabak schnupfen. Das tötet alle Keime.«
Hinten übers Feld sprang Assessor Gockel heran. Er wollte aber nur wissen, ob es Othmar wieder richtig gut ging. »Habe ich mir gleich gedacht«, sagte er befriedigt und hüpfte davon.
»Er hat gar nicht gefragt, wann wir die Rübenblätter ausdreschen«, sagte Schwager.
Die hohe Ehre, dass wir beim Einbringen des vaterländischen Roggens helfen durften, täuschte auf die Dauer nicht darüber hinweg, dass wir ein eintöniges Leben führten, ausgenommen die Nacht als der Backofen brannte. So waren wir froh, als eines Samstags eine Schar städtischer BDM-Mädchen angereist kam, um im Schlafsaal zwei der Jugendherberge zu übernachten. Sie kamen auf der Dorfstraße anmarschiert, in weißen Blusen, die sich über Brüsten spannten. Vorneweg ging ein Mädchen mit einem blauen Wimpel. Wir legten schnell unsere Uniformen an und hissten die Fahnen. Wulle war traurig wegen seines verschrumpelten Schulterriemens. Er als Fachmann für den Umgang mit Mädchen dachte, dass dieser Schönheitsfehler seine Chancen beeinträchtigen könne. »Was willst du«, sagte Werner. »Du hast doch dein Dorfkalb.« Doch diese Stadtkälber waren schöner, nicht alle, aber einige. Auch Lagermannschaftsführer P. G. Kleist litt. Sein Stiefel hatte seit der Jauchekur nie wieder die richtige Fasson angenommen.
Stets Auge in Auge mit den auf fetten Wiesen gedeihenden Rindern hatten wir das Gefühl, zu Männern herangereift zu sein. Deshalb empfingen wir auch die Mädchen rau und herzlich. Sie verstanden das alles gar nicht und sagten immerzu Heil Hitler! Sie waren schließlich nur ein paar Kilometer mit der Kleinbahn von der Kreisstadt hierhergefahren. Paul Kleist nahm Kontakt mit der Führerin der Gruppe auf, die kastanienbraunes Haar hatte und wunderschön aussah. Er wollte, dass die Mädchen für uns Kuchen backen sollten.
Trotz seiner durch den Jauchestiefel verursachten Unsicherheit überzeugte er die Führerin. Wulle bat seinen Bauer, den Dorfbackofen zu heizen, obwohl Samstag war. Wir organisierten bei unseren Bauern Mehl und was sonst nötig war. Zu dieser Gelegenheit stiftete Kronensohn sogar hundert Gramm von der Butter, die ihm nicht gehörte. Die Mädchen in den weißen Blusen rührten Teig und wir schauten zu, wie ihre Arme sich bewegten. »Schaut nur, die vielen Brüste!«, flüsterte Wulle voll Hochachtung. Zusammen mit einem Mädchen, das blonde lange Zöpfe hatte, trug er eilfertig die Kuchenbleche mit Teig in das nahe Backhaus.
Wir aßen Streuselkuchen. Die Führerin mit dem braunen Haar hatte schöne Augen. Lamafü Paul griff zur Klampfe. Werner Pethmann wollte das Lied vom brennenden Scheißhaus singen. Aber er begnügte sich mit ein Soldat saß in der Schenke, was auch schlimm genug war. Erst bei Herrn Pastor sien Kau, jau, jau lebten die Mädchen auf. Aber schon um neun sagte die Führerin: »Heil Hitler!«
Wir schliefen unruhig diese Nacht.
Am nächsten Morgen führten wir die Mädchen zum Meer, aber niemand hatte daran gedacht, eine Badehose mitzunehmen. So spielten wir Dritten abschlagen am Strand. Das war enttäuschend. Wir waren froh, als mittags die Gruppe abmarschierte.
Die Heimat lag im Kampfe, während wir die Ernährung sicherstellten. »Es sind schon wieder Bomben hier in der Gegend gefallen«, schrieb meine Mutter. »Ziehst du dich auch immer warm an? Herr Reh sollte verhaftet werden, ist aber wieder zurück. Wir haben die letzten Innenfenster ausgehängt. Oma hat wieder einen Zahn verloren. Ich sage ihr doch immer, sie soll nicht die Kirschkerne zerbeißen. Morgen schicke ich ein Paket mit frischer Wäsche. Auch Schokolade habe ich eingelegt, es gab welche auf Zuckerkarte. Lass sie dir gut schmecken.«
In der Zeitung stand wenig über Luftangriffe. Aber aus den Briefen erfuhren wir, dass es schlimm wurde in der großen Stadt. Mehrere Klassen der Bismarckschule wurden kinderlandverschickt, in den Warthegau und nach Österreich. In Russland war es nicht ganz so gut gegangen wie im letzten Jahr. Manchmal wurde die Front begradigt. Die NSV sammelte Wollsocken und Skier für den kommenden Winter.
Nur Rommel machte noch Sondermeldungen. Seine Panzer rollten durch Nordafrika, in Richtung Kairo. Wir fuhren weiter Mist auf die Felder der Kaschuben, ernteten Kartoffeln und schließlich Rüben. Kronensohn war größer geworden. Struchen Johann und die anderen Bauern hatten sich daran gewöhnt, dass sie statt ausgewachsener Studenten nur magere Schüler einsetzen konnten. Sie ernährten uns weiter mit ungesüßter Heidelbeermarmelade und ließen uns hinter der Egge hertraben, die liegen gebliebenen Kartoffeln aufzuklauben.
Acht Frauen krochen nebeneinander übers Feld, die Reihen entlang auf Knien. Unter ihren Röcken kamen die herausgegrabenen weißfleischigen Robusta hervor. Wir klaubten sie in Körbe. Schwager leerte die Körbe in Säcke. Struchen Johann kam mit dem Fuhrwerk und lud die Säcke auf. Im nächsten Jahr würde Marke Robusta anderen Schülern oder Studenten durch ihre Keimfreudigkeit Sorgen bereiten.
Es war schon weit im November, die deutsche Sechste Armee begann sich in Stalingrad festzubeißen, als Paul Gerhard Kleist die Tür der Jugendherberge zuschloss und den Schlüssel beim Herbergsvater abgab. Der Abschied von den Bauern war nicht sehr herzlich. Wir marschierten zum Bahnhof und fuhren zurück in die große Stadt. Zwei Tage später waren wir zu Hause. »Meinjeh, ist der Lümmel jewachsen«, sagte Großmutter.
Ede bewachte immer noch sein aufgeschnittenes Haflingermodell in dem nie benutzten Pferdelazarett. Es gab jetzt jede Nacht Fliegeralarm. Großmutter, die zunehmend schwerhörig wurde, vernahm kaum den Lärm der Abschüsse der nahen Flakbatterie. Nur, wenn in der Nähe eine Luftmine mit lautem Krach explodierte, sagte sie: »Ich glaube, unsere Flak schießt wieder.« Meine Mutter sagte: »Hoffentlich bleibt das Eingemachte heil.«
Die Bismarckschule war leer, kein Unterricht fand mehr statt. Unsere Klasse wurde zur Luftschutzwache eingeteilt. Zu dritt hausten wir abwechselnd auf Pritschen in einem dunklen Klassenzimmer. Nachts bei Alarm, wenn wir in den Angriffspausen durch die Räume gingen, sah die Bismarckschule ganz anders aus als früher, an den Vormittagen, wenn Hunderte von Schülern Klassenzimmer und Flure füllten.
In dem nun nicht mehr benutzten Raum, in dem unsere Feldbetten standen, starrten uns drei Reihen schwarzer Pulte an. Vor Kurzem waren die Schülerschnitzereien in den Tischplatten mit Kitt ausgefüllt und die Flächen neu lackiert worden. Nur wenig Zeit hatten die Schüler dieser Klasse, 6 b, noch gehabt, um an den noch weichen Kittstellen den Lack hereinzudrücken. Er bildete erst Dellen, dann brach er. Für neue Schnitzereien, Initialen, Herzen, Schachbretter, geometrische Figuren und obszöne Darstellungen war der Lack noch zu abschreckend neu gewesen.
In den Schulkorridoren hallten unsere Schritte bei den nächtlichen Kontrollgängen. Endlos lief an den Wänden die Galerie der leeren Kleiderhaken. Im ersten Stock lag die Aula. Sie war jetzt ungeheizt. Kalte abgestandene Luft schlug uns entgegen, wenn wir einen Flügel der schweren kassettierten Tür öffneten. Der Schein unserer Taschenlampen lief über die nur gemalten klassizistischen Stukkaturen an Wänden und Decke, über die Gemälde früherer Direktoren und natürlich über das Porträt Bismarcks. Auf dem Podest verstaubte der Flügel, der aus dem benachbarten Musikzimmer durch die Bühnenöffnung hier herübergerollt worden war, flankiert von zwei Lorbeerbäumen, die schon dort gestanden hatten, als man Großmutter in diesem Saal das Mutterkreuz in Bronze überreicht hatte. Den Orden, mit dem sie doch so wenig anzufangen wusste, und der nur zwischen anderem Gerümpel bei uns zu Hause Grünspan ansetzte. Vor der Aula befand sich die Gedenktafel mit den Namen der im Ersten Weltkrieg gefallenen Mitglieder unserer Anstalt, unten begrenzt von einem steinernen Relief eines sterbenden Kriegers, das uns seit je durch seine naturalistische Darstellung Abscheu eingeflößt hatte, denn der Kopf des gestürzten Soldaten, von einem verrutschten Stahlhelm bedeckt, war nach hinten abgeknickt, als sei das Genick gebrochen. Der Adamsapfel stach heraus wie eine Speerspitze. Auf den Stufen vor diesem Bild und der Gedenktafel lag ein frischer Kranz. Denn trotz der schweren Zeit hatte auch diesmal die Schulleitung, einer langen Tradition folgend, am Heldengedenktag einen Kranz niedergelegt, vorerst für die damals Gefallenen. Die neuen, aus diesem Krieg, hatten noch keine Berücksichtigung gefunden.
Am Treppenhaus, neben dem Gang zum Musiksaal, lag die Toilette, Ablageort für Spickzettel und Kabinett für heimliche Raucher, jedoch als Raum prächtig mit rotweißen Schachbrettfliesen und Porzellanschüsseln an den Wänden, deren Höhlungen weiße Antigeruchskügelchen bargen. Sie wurden sonst ständig von Wasser berieselt. Jetzt, in den Alarmnächten, war es totenstill hier. Die Wasserversorgung war abgedreht. Das einzige Geräusch in dem riesigen leeren Gebäude kam aus dem Biologiesaal. Dort versorgte eine Frischwasserpumpe das mit Schleierschwänzen und Black Mollies besetzte Lehraquarium, Ebenbild jenes, das Rabumm einst ausgesoffen hatte. Weiße Bläschen strömten vom Grund des Beckens zur Wasseroberfläche. Die amphitheatrisch ansteigenden Bankreihen wirkten im Halbdunkel wie Festungswälle.
Letzte Station des Kontrollganges war die Turnhalle, in der es nach Schweiß, Leder und schlechtem schwarzen Wachs roch, wie es die sparsamen Schulverwaltungen auch jetzt noch verwenden, ohne daran zu denken, dass sie über den Weg der Geruchsorgane Tausenden von Jungen und Mädchen die Freude an der Schule verderben. Wir kehrten zurück in das Klassenzimmer und erwarteten den Morgen.
Bald wurden wir zu größeren Einsätzen kommandiert. Eines Tages erklärte uns ein Stammführer angesichts der durch Bomben zur Teilruine verwandelten Banngeschäftsstelle, dass wir nun vom Jungvolk in die HJ übernommen seien. Als Mitglieder der Jugend des Führers hätten wir unseren Mann zu stehen. Albert Kutschke, in Goldfasangalauniform, kam am nächsten Tag zu uns, nahm dankend einen Kirschlikör an und sagte zu mir:
»Ich gratuliere dir.«
»Wozu?«
»Na, weil du doch jetzt in der HJ bist!«
Als er gegangen war, sagte Großmutter: »Dir wirds jehn wie den Rodeländern!«
Ich aber fragte mich, wieso jedes Mal ein Goldfasan zum Gratulieren kam, wenn es in meiner Karriere zum uniformierten Volksgenossen Neues zu vermerken gab. Othmar, Wulle, Werner Pethmann und ich fanden uns in einer Motorradstaffel zusammen, die nach Angriffen Kurierdienste zu leisten hatte. An den Motorrädern war, was mich betraf, Ede schuld. Er hatte frühzeitig meine Begeisterung für Motoren geweckt. Wir fuhren Puch-Doppelkolben und 100er DKW. Wulle fuhr sogar eine knallrote Jawa, die der NSKK-Sturm aus Privatbesitz requiriert hatte.
Nächtelang saßen wir in dem noch unversehrten Wandelgang eines im Übrigen eingestürzten Theaters, froren und aßen unsere Rationen: Komissbrot, Leberwurst und Margarine. Unser Gefolgschaftsführer, Hanns Thielebier, dirigierte die Einsätze. Er erinnerte an Harry aus der Kolonie Gartenlust, denn auch Hanns Thielebier war blond, hatte rote Augen und schwitzte in den Handflächen. Außerdem sagte er dauernd Heil Hitler, wie die Führerin jener Gruppe von BDM-Mädchen, die uns bei den Kaschuben besucht hatte. Hanns Thielebier sprach jedoch diesen Gruß gerafft und mit einem deutlichen a am Ende aus, sodass es klang wie Hitta. Er kam mit seinem Motorrad, das jetzt Krad hieß, vor die Front gefahren, hob aus dem Sattel die Hand und sagte: »Hitta Mota-HJ. Heute Abend um acht Uhr Einsatz. Sammelstelle bekannt. Hitta.« Dann brauste er wieder ab. Einmal schlug er dabei einer gerade vorbeigehenden Frau die Kanne mit Magermilch aus der Hand. Die Milch ergoss sich über ihn. Seine blaue Winteruniform war von oben bis unten beplempert.
»Blut und Ehre« stand immer noch auf unseren Fahrtenmessern, die wir nun benutzten, um die Leberwurstbüchsen der eisernen Rationen zu öffnen, Nägel aus den Kisten mit Kradersatzteilen zu ziehen oder Leichenfinger genannte Stinkkäse in Scheiben zu schneiden.
Manchmal hatte ich Sehnsucht nach den Fleischtöpfen der Großmutter, und wenn es möglich war, verließ ich die Dienststelle und ging zu ihr.
Ich stand neben der topfrasselnden Großmutter und beobachtete die schwarze Katze, die vor dem Lärm floh. Da klopfte es an der Küchentür. Kutschke trat ein.
»Heil Hitler«, grüßte er, strammstehend in grauem Overall, geschmückt mit Taschenlampe und Stahlhelm. Großmutter brummelte.
»Alles in Ordnung, Hitlerjunge?«, fragte Kutschke mich.
»Jawohl«, sagte ich. »Alles in Ordnung.«
Kutschke schnüffelte die Luft ein, denn aus den Kasserolen am Herd stieg unkriegsmäßiger Duft. Um genau zu sein: Großmutter bereitete Entenklein.
»Ich wollte was fragen«, sagte Kutschke.
»Mich?«, fragte Großmutter über die Schulter hinweg.
Kutschke: »Eigentlich die Frau«, sagte er.
»Ruf deine Mutter«, befahl Großmutter.
Ich holte Minnamartha, die in die Küche stürmte: »Ach nee, Herr Kutschke!«
Kutschke hatte seine Bumskiepe, den Stahlhelm, am Kinnriemen über den Arm gehängt wie ein Körbchen.
»Frau Kaiser«, sagte er, »wir müssen auch Sie zum aktiven Dienst am Volke auffordern. Sind Sie bereits Mitglied des Reichsluftschutzbundes?«
»Ach, nehmen Sie doch Platz«, sagte Minnamartha. »Reichsluftschutzbund? Ich glaube nicht.«
»Frau Kaiser, Sie wären die ideale Laienhelferin.«
»Laienhelferin! Sie meinen mit Verbänden und Schienen?«
»Exakt, exakt!«, sagte Kutschke. »Morgen um sechzehn Uhr erster Kursus. Sie nehmen doch sicher teil?«
So kam es, dass Minnamartha nun den Kornährenverband übte, und die Handhabung des keimfreien Verbandpäckchens mit rosa Wundauflage, dass sie Kramerschienen bog, Kinn- und Nasenschleudern anlegte, und vorgeblich lädierte Extremitäten in Dreieckstücher band. Zu Tante Lizzi marschierte Minnamartha, holte sich dort die Volksgasmaske, VM 37, für eine Gebühr von RM 5,-.
»Du kannst auch einen Bedürftigkeitsantrag stellen«, sagte Lizzi. »Dann kostet die Gasmaske nur fünfzig Pfennige.«
»Danke«, sagte Minnamartha. »Ich zahle voll.«
Die VM 37 trug Minnamartha nun am Riemen schräg über der Schulter. Auf dem Luftschutzwagen fand ein rotes Köfferchen Platz mit ihrer Sanitätsausrüstung. Denn eine Laienhelferin musste allzeit bereit sein.
Seit diesem Aufstieg Minnamarthas war Blockwart Kutschke uns ein Freund geworden. Jedenfalls von ihm aus gesehen. Kutschke traute uns nicht über den Weg. Überdies hatte er wahrscheinlich Ede im Verdacht, BBC zu hören. Der Feindsender mit dem Paukenklopfzeichen verbreitete üble Propaganda der Plutokraten auf den britischen Inseln. Sein Abhören wurde mit Konzentrationslager bestraft.
Ede hörte trotzdem BBC. Samt Radio verbarg er sich unter einem Pferdewoilach, einer grauen Decke, und vergaß auch nicht, nach dem Abhören die Skala wieder auf Deutschlandfunk zu drehen, denn es war ein beliebter Trick der Schnüffler, unauffällig in den Wohnungen die Sendereinstellungen zu kontrollieren.
Kutschke unternahm in Abwesenheit Edes einen Frontalangriff. Wieder kam er zu Großmutter in die Küche, schlug vor:
»Ob wir nicht in Ihrem Luftschutzkeller einen Drahtfunkempfang einrichten können? Zum Abhören der Luftlage?«
Großmutter zuckte mit den Achseln. »Meinetwegen bauen se da unten ein Kriegerdenkmal«, sagte sie. »Bitte bedienen Sie sich!«
»Jawoll«, schnarrte Kutschke, und trat rückwärts ab.
Kutschke rückte eine halbe Stunde später wieder an, einen Volksempfänger und eine Papierrolle unter dem Arm. Werkte im Keller, schloss den Drahtfunk ans Telefonkabel und befestigte die Papierrolle, einen Lageplan, über dem Volksempfänger an der Wand.
Ein Teil Großdeutschlands war abgebildet, überzogen von einem Netz von Quadraten, jedes mit Koordinatenbuchstaben bezeichnet. Dieses Netz diente der Überprüfung der vom Drahtfunk durchgegebenen Luftlagemeldungen.
»Ihr werdet sehen, wie uns das hilft«, erklärte Kutschke mir. »Seit der Führer auch mit Amerika im Krieg liegt, ist die Heimatfront wichtig.«
Großmutter, die mit in den Keller gestiefelt war, um sich die Neuerungen anzusehen, fragte: »Wie?« Durch ihre Schwerhörigkeit hatte sie nicht alles mitbekommen.
»Die Heimatfront«, brüllte Kutschke.
Großmutter nickte.
»Die Terrorbomber«, brüllte Kutschke weiter. »Wenn sie Reichsgebiet anfliegen, wissen wir jetzt, wo sie sind.«
»Wie schön«, sagte Großmutter. »Trinken wir ’nen Kirschenschnaps!«
Kutschke hob das Glas an die Brust. »Auf den Endsieg«, sagte er. Großmutter tippte sich an die Stirn und watschelte aus dem Heldenkeller.
Kutschke und ich standen uns verlegen gegenüber. Kutschkes Stirn zierte ein roter Druckstreifen vom Stahlhelm. Er setzte das Glas ab. »Sie hält wohl nicht viel von mir?«
Ich rückte an meinem Koppel. »Wissen Sie«, parlierte ich erwachsen, »in dem Alter …«
Kutschke stimmte mir zu. »Na klar«, sagte er. »In dem Alter. Hat ja auch allerhand durchjemacht, die Frau. Aber ihre Heimat haben wir wiedererobert. Den Korridor.«
Kutschke zog sich einen Stuhl heran, hockte sich vor den Volksempfänger und schaltete den Drahtfunk ein, der sofort zu ticken begann. Und damit hatte Kutschke, mittelbarer Eroberer des Korridors, Kämpfer an der Heimatfront und gesinnungstreuer Kirschenschnapsgenießer, seine neue Aufgabe gefunden. Grau gekleidet, in Hockstellung vor dem Drahtfunk, tief im Keller, verkörperte er den nächsten Abschnitt unserer heldischen Zeit, die nun vornehmlich unter der Erde stattfand.
Ede war außer sich, als er entdeckte, dass Kutschke bei uns Dauerstellung bezogen hatte. »Euch Trottel darf man keinen Tag allein lassen«, sagte er. »Wie könnt ihr diese Ratte ins Haus nehmen?«
Kutschke integrierte auch Ede in seine Luftverteidigungspläne. »Entschuldigen Sie«, sagte er demütig, »wir müssen den Keller versteifen. Mit Balken.«
»Dann machen Sie man«, sagte Ede.
»Entschuldigung«, sagte Kutschke. »Nach der Reichsluftschutzordnung sind sie als Hausbesitzer verpflichtet, den Keller sachgemäß auszubauen. Ich bin bereit, das Holz zu organisieren.«
Kutschke organisierte, Balken wurden angefahren, und wir zimmerten die Abstützung. Der Keller sah bald aus wie der Grunewald nach starkem Borkenkäferbefall, machte aber einen soliden Eindruck.
Auf den Flugplätzen Südenglands verlud britisches Bodenpersonal blank schimmernde Luftminen, Phosphorkanister und gebündelte Stabbrandbomben mit Sprengsatz in die Bäuche der viermotorigen B 17, Flying Fortress. Diese amerikanischen Bomber besaßen eine wesentlich größere Reichweite als die alten Lancaster, Vickers Wellington und Bristol Blenheim, die uns bisher mit Metall aus der Luft beregnet hatten.
Liebe Grüße malten englische Sergeanten mit Kreide auf die blanken Metalleiber der Luftminen AP 13500 LB, bevor der Stapellader sie in die Bombenschächte hob. Grüße an uns alle: »With love from Winston.«
Die Keller wurden wohnlicher, die Zimmer immer leerer.
Kutschke hockte am Drahtfunkgerät und notierte Feindanflug von Gustav Emil sechs nach Gustav Gustav zwei, und wenn Gustav Gustav zwei von den Bomberstaffeln erreicht war, so krachte es auch. Es krachte, dass die schwarze Katze unter das Behelfsbett im Luftschutzkeller floh, und dass meine Mutter, im Bunker, wieder einmal sagen musste: »Meingottmeingott, wie soll das nur alles werden!«
Das wusste anscheinend weder der Führer, der nun Operationen aus seinem Tiefbunker lenkte und sich um das Benzin für einzelne Tigerpanzer zu kümmern begann, noch wussten wir es, wenn wir nach den Angriffen die fehlenden Ziegel auf dem Dach ersetzten und Zelluloiddrahtglas über die scheibenlosen Fenster spannten.
Selbst Kutschke, im grauen Overall verschnürt und drahtfunkgekrümmt, gingen die Parolen aus, und er begann nur noch halbe Sätze zu sprechen. »Der Führer wird schon …«, murmelte er, mit einem ängstlichen Blick auf Großmutter, die nun von ihrer Lieblingsvokabel, Schifferscheiße, auch Kutschke gegenüber fröhlich und ausgiebig Gebrauch machte, im Übrigen Kirschenschnaps ausschenkte und in rußigen Töpfen warme Kraftnahrung bereithielt.
»Gustav Gustav zwei«, hämmerte uns der Drahtfunk in die Ohren.
»Gustav Gustav zwei.« Kutschke, grau und gebeugt, murmelte: »Es wird schon nicht – diesmal nicht -« Und wenn es dann krachte, neue Ziegelflickarbeit verheißend, vergaß Großmutter nie zu sagen: »Ich glaube, unsere Flak schießt wieder.«
Alle Liebe der US-Piloten schien Gustav Gustav zwei zu gelten. So viele blank polierte Luftminen lauerten hinter den Bombenklappen der B-17-Geschwader, über diesem kleinen Planquadrat abgeladen zu werden, dass sich notgedrungen unser Schicksal erfüllen musste.
Meine Mutter, hochrot durchs Haus dampfend, ergriff letzte Schutzmaßnahmen, befahl Einigelung. »Karl, du bringst den Husarenkrug in den Keller. Und die Pekingente. Hinter die Weckgläser.«
Zu Großmutter: »Wir kochen in der Waschküche. Alle Töpfe herunter! Und nimm die Hühner aus dem Stall. Sie können in den Heizkeller!«
Ede war herübergeradelt, um mit Hand anzulegen. Er trug Müllers Kolossalgrafik mit dem nackten Reiter in den Heizkeller, hängte den forschen Unbekleideten hier zur Freude der umquartierten Leghorns auf.
»Was machst du da?«, fragte meine Mutter gereizt. »Jetzt ist keine Zeit für Witze!«
Ede lächelte. »Wir sind bereits im Eimer, Frau Kaiser«, sagte er fast genussvoll. Noch einmal betrachtete er den Husarenkrug, dessen Inschrift Auskunft gab, dass auch Ede das Vaterland schütze, wenn es blitzte und krachte. Dann stellte er ihn zurück ins Kellerregal, das sich im Zentrum von Planquadrat Gustav Gustav zwei befand, stellte ihn neben die Pekingente aus Porzellan und neben den nie benutzten Rauchverzehrer. Auf die Bretter, die eingemachten Erntesegen bargen.
»Ede, versündige dich nicht!«, rief meine Mutter von der Treppe her. »Im Eimer! Wie kannst du nur!« Und, indem sie ihren Vorsatz aufgab, treppan zu steigen und neue Gegenstände in den Keller zu retten, schritt sie auf Ede zu, wie er da am Regal lehnte und berührte seinen Arm. »Ede, du weißt doch. Am ersten Tag, als wir einzogen, in unser Haus hier. Denke, wie glücklich wir waren. Sollen wir das verlieren?«
Ede zuckte mit den Schultern. »Mitgefangen, mitgehangen«, sagte er. Aber auch er, das merkten wir, war traurig. Sogar Kutschke begriff und schloss leise die Tür zum Luftschutzkeller, wo der Drahtfunk schon wieder tickte. Auch ich, fast linientreu und bereit zum Durchhalten, wurde berührt von dieser Szene am Regal im halbdunklen Keller. Ich verdrückte mich.
Wer war als Opfer ausersehen? Fanselows, die ewig Fröhlichen, auch jetzt noch zu makaberen Scherzen aufgelegt? Herr Reh im kleinsten Typ? Othmars Familie, sie alle ringsumher in ähnlichen Siedlungshäusern? Sie kämpften mit Ziegel- und Glasschäden, Mauerrissen und herausgefallenen Rabitzwänden.
Kurz vor Mitternacht weckte uns Mutters Stimme. »Voralarm«, rief sie. »Der Bahnwärter hat schon getutet.« Während Großmutter und ich uns fertig machten, um in den Keller zu gehen, lud Mutter ihre Koffer mit Dokumenten und Bekleidung, auch die Laienhelferinnenausrüstung auf ihren alten Kinderwagen und verschwand in der pechschwarzen Nacht, in Richtung Bunker.
Großmutter klapperte die Treppe herunter, »verdammte Lümmels« und andere Verwünschungen murmelnd. Ich folgte ihr, stellte den Drahtfunk ein. Schon war auch Kutschke zur Stelle, krümmte sich, Bumskiepe im Nacken, auf dem Hocker, lauschte den monotonen Durchsagen, ein Goldfasan im schlichten Kellerkleid, dazu ausersehen, dem Wendepunkt Kaiser’schen Schicksals beizuwohnen. Geduckt, gläubig bis zum Eidsieg, neuerdings unfähig, Sätze zu Ende zu sprechen.
Stille. Nur der Drahtfunk tickte. Die schwarze Katze strich um Großmutters Knie. Sie nahm sie hoch. Die Stützbalken warfen dunkle Schattenstreifen. »Damals in Dubberow«, sagte Großmutter, »musste Großvater auch oft nachts aufstehen, wenn ein Zug durchfuhr. Aber es war doch etwas anderes.«
Kutschke fühlte sich verpflichtet, Tröstendes einzuwenden. »Es wird schon nicht …«, murmelte er. »Wissen Sie, wenn der Führer erst …«
Großmutter scheuchte die Katze von ihrem Schoß und stand auf.
»Ich habe so ein Gefühl«, sagte sie. »Ich glaube, ich will mal die Hühner wieder in den Stall bringen.«
Wir versuchten ihr das auszureden. »Lassen Sie doch«, sagte Kutschke. »Sie sind doch im Keller … Wissen Sie …«
»Er meint, sie sind sicherer«, ergänzte ich.
Großmutter schlurfte zur Tür. »Wer weiß«, sagte sie.
»Ich leuchte«, bot Kutschke sich an und sprang auf. Beide gingen hinaus. Ich hörte sie im Heizkeller rumoren. Dann brachten sie die Hühner in den Stall.
Als sie zurückkamen, ging es los. Unbeirrt waren die B 17 ihren Kurs geflogen, bis zum Ziel neuerdings begleitet von Jägern mit Zusatztanks, für größere Reichweite. Nur selten gelang es unseren Me 109, diesen waffenstarrenden Ring zu sprengen, sich an die Bomber heranzumachen, die Fliegenden Festungen zu vernichten, bevor sie ihr Ziel erreichten.
Ihr Ziel? Gustav Gustav zwei! Natürlich Gustav Gustav zwei.
Der Drahtfunk tickte. Kutschke, Bumskiepe in der Stirn, umkreiste den Volksempfänger. Nach Gustav zwei keine Ansage mehr. Woraus zu schließen war, dass in diesen Minuten die Moskitos Bomberziele mit Leuchtmarkierungen absteckten, den Tannenbäumen, wie die vom Himmel rieselnden Kaskaden genannt wurden. Der Bomberpulk musste in wenigen Minuten sein Ziel erreichen.
Stille. Einige Abschüsse der Flak. Dann schmissen mindestens siebzig Bomber einen Teppich. Bombenteppich bedeutete, dass keine Bombe mehr als hundert Meter von der nächsten entfernt fiel. Im entsprechenden Planquadrat wurde garantiert, dass kein Stein auf dem anderen blieb. »Sie schmeißen einen Teppich«, sagte Kutschke. Dann riss das Krachen ab, und wir dachten, alles sei vorbei, als sie noch einen einzelnen Badeofen schmissen. Ein lang gezogener Heuler, eine gewaltige Luftdruckwelle, die uns von den Stühlen warf. Das Krachen der Explosion hörten wir gar nicht mehr. Großmutter, der voll ausgerüstete Kutschke und ich lagen in einem Knäuel auf dem Boden. Mörtelstaub füllte den Raum, Putzbrocken, Holz- und Mauerteile fielen auf uns. Der ätzende Staub drang uns in die Münder. Der Keller hatte sich einen Augenblick lang gehoben, wie bei einem Erdbeben, und! war dann in seine ursprüngliche Lage zurückgesunken.
Wieder Stille, spürbar. Nur die Holzstreben der Abstützung knackten. Dazwischen ein paar letzte Flakschüsse. Einzelfeuer. Dröhnen der abfliegenden Bomberstaffeln.
An der Decke schwankte die Glühbirne im Staubregen hin und her. Beim flackernden, matt gewordenen Licht sahen wir einander an. Wir waren weiß überpudert. Kutschke, vorher noch in den blaugrauen Farben des Luftschutzfunktionärs, sah aus wie ein Bäcker. Die Katze kam miauend unter einem Bett hervorgekrochen. Auch sie war weiß.
Großmutter spuckte einen Mund voll Mörtel aus und rieb sich die Augen unter der Brille, die an ihrem Platz geblieben war. »Was sagt der Drahtfunk?«, fragte sie.
Kutschke rüttelte am Volksempfänger, aber der hatte die Druckwelle schlechter vertragen. Nichts tickte. Im Planquadrat Gustav Gustav 2;wei herrschte absolute Ruhe. »Er ist hin«, schrie er der schwerhörigen Großmutter ins Ohr.
»Wer?«
»Der Volksempfänger!«
»Ach so.«
»Er tickt nicht mehr.«
»Wer?«
»Frau, der Drahtfunk tickt nicht mehr!«
»Scheibenkleister«, sagte Großmutter.
Im Planquadrat Gustav Gustav zwei blieb es unglaublich ruhig. Kutschke stürmte, von Staub umhüllt, von Balkenwerk behindert, gegen die Kellertür. Sie ließ sich nicht öffnen. Wahrscheinlich blockierte Schutt sie von außen. Kutschke schwang seinen Pickel gegen die Mauer des Notausstiegs, die in Sekunden niederbrach und einen neuen Staubpilz in den Keller pustete. Hinter der Öffnung: Schutt. Nichts als Schutt.
Kutschke: »Wir sind verschüttet.« Er sprach wieder ganze Sätze.
Großmutter streichelte die Katze, was ich daran sah, dass zwischen ihren Händen weiße Staubwolken aufquollen. Die Katze maunzte.
»Ziehen wir eben in die Laube«, sagte Großmutter zur Katze.
»Falls wir hier je wieder rauskommen«, murmelte Kutschke.
Dann hörten wir die Rettungskolonne über unseren Köpfen rumoren.