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1.2 Differenzierungen innerhalb der Erkenntnisinteressen

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Allerdings erschöpft sich darin nicht die Habermas’sche Theorie der Erkenntnisinteressen, obwohl der gerade entwickelte Zusammenhang für die weitere Entwicklung des Denkens von Habermas von besonderer Bedeutung ist. Im Grunde wird damit bereits der Gedanke der Erkenntnisinteressen an diejenige Theorie zurückgebunden, aus der sich Habermas’ ganze Philosophie einer kommunikativen Rationalität und eines entsprechenden Handelns begründet. Die Bedeutung von Interessen für das Erkennen wird damit abhängig von der Bedingtheit sprachlicher Verständigung durch die Bereitschaft, Geltungsansprüche in einer idealen Gesprächssituation überprüfen zu lassen, wie ‚kontrafaktisch‘ diese Voraussetzung auch immer sein mag. Darauf werden wir noch genauer eingehen. Aber wir müssen zunächst noch berücksichtigen, dass es bei Habermas auch eine Differenzierung von Erkenntnisinteressen gibt, die parallel geht mit einer zum Teil alten, zum Teil neueren Unterscheidung zwischen verschiedenen Wissensformen.

Eine empirisch-analytische Wissenschaft stellt für Habermas die „systematische Fortsetzung eines kumulativen Lernprozesses [dar], der sich vorwissenschaftlich im Funktionskreis instrumentalen Handelns vollzieht.“ (EI 235) Gemeint sind damit alle Naturwissenschaften sowie diejenigen Teile der Sozial- und Geisteswissenschaften, die empirisch arbeiten. Das darin auffindbare Interesse ist dasjenige an einer technischen Verfügung. Die historisch-hermeneutischen Wissenschaften dagegen haben es von selbst mit dem kommunikativen Handeln zu tun, da sie als eine Weiterführung der Interaktion von Menschen innerhalb der Umgangssprache und der entsprechenden Handlungskoordinierungen aufgefasst werden können. Hier liegt ein ‚praktisches‘ Erkenntnisinteresse vor, das sich mit Interpretationen (und nicht mit empirischen Erkenntnissen) beschäftigt, in denen es um die „Intersubjektivität der Verständigung in der umgangssprachlichen Kommunikation und im Handeln unter gemeinsamen Normen“ geht (EI 221). Mit Interpretationen tragen diese Wissenschaften, die als ‚humanities‘ im Unterschied zur ‚science‘ bezeichnet werden können, also zur intersubjektiven Verständlichkeit im Sinne einer Selbstverständigung und eines Verstehens des Fremden bei.

Das emanzipative Erkenntnisinteresse dagegen ist in der über lange historische Zeiträume entwickelten Systematik der Wissenschaften (Natur- vs. Geisteswissenschaften; empirische vs. Interpretationswissenschaften) nicht so leicht unterzubringen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn ein eigenständiger Ort im Zusammenhang der akademischen Disziplinen angegeben werden soll, also über jene transzendentale Überlegung hinaus, wonach mit dem Beginn der sprachlichen Verständigung bereits der Weg zur diskursiven Einlösung von Geltungsansprüchen in einer idealen Gesprächssituation hin [<<25] begangen wird. Habermas findet dieses Erkenntnisinteresse vor allem dort angelegt, wo das Phänomen der ‚Selbstreflexion‘ innerhalb des Wissenschaftsbereiches institutionalisiert ist, nämlich in der philosophischen Reflexion.

Damit wird auch schon etwas deutlicher, was den Soziologen Habermas in den Philosophen Habermas verwandelt. Im Grunde ist es der Versuch, jenes in den Bedingungen der Verständigung angelegte emanzipative Interesse an wahrheitsorientierter Verständigung durch den zwanglosen Zwang der besseren Argumente in den Wissenschaftsbetrieb einzuführen. Nach dem soeben Gesagten kann dies in den empirischen Zweigen der Wissenschaft nicht gelingen, auch nicht in der empirischen Soziologie. In den Geisteswissenschaften sind die Verständigungsverhältnisse zwischen Menschen zwar zentrales Thema, aber nicht im Modus der Selbstreflexion, d. h. nicht in einer Reflexion darauf, dass sich darin ‚eigentlich‘ die in Richtung Emanzipation angelegten Bedingungen sprachlicher Verständigung durchsetzen ‚müssten‘ bzw. sollten.

Was hier unter ‚Selbstreflexion‘ verstanden wird, lässt sich im Grunde in zwei Richtungen ausdifferenzieren, was Habermas mit einem ‚einerseits – andererseits‘ so formuliert:

„einerseits die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Kompetenzen des erkennenden, sprechenden und handelnden Subjekts überhaupt, und andererseits die Reflexion auf die unbewusst produzierten Eingrenzungen, denen sich ein jeweils bestimmtes Subjekt (oder eine bestimmte Gruppe von Subjekten oder ein bestimmtes Gattungssubjekt) in seinem Bildungsprozess selber unterwirft.“ (EI 411)

Offenbar werden hier zwei Ebenen unterschieden, von denen die erstere sich auf überindividuelle Strukturen von sich verständigenden Menschen bezieht, während die letztere Bezug nimmt auf die individuellen Bedingungen der Verständigung, wie sie im individuellen Bildungsprozess entstanden sind. Es geht also um eine Selbstreflexion auf gesellschaftlicher und um eine solche auf individueller Ebene.

Damit sind Soziologie und Psychologie als die beiden ‚kritischen‘ Wissenschaften ausgezeichnet, in denen in besonderem Maße ‚kritische Theorie‘ als Wissenschaft geschehen kann. Allerdings sollte man dabei nicht an die Formen dieser Wissenschaften denken, die im Ausdifferenzierungsprozess der Wissenschaften einerseits und im Prozess von deren Vereinheitlichung in der Orientierung am Wissenschaftsideal der empirischen Naturwissenschaften andererseits entstanden sind. Habermas meint durchaus besondere Formen von Soziologie und Psychologie, die explizit an Emanzipation in seinem Sinne orientiert sind. [<<26]

Emanzipation in diesem Sinne heißt jedoch nicht eine Prüfung von bestehenden Verhältnissen in Wissenschaft und Gesellschaft an festen Maßstäben dessen, was in einem traditionellen ethischen Sinne als ‚richtig‘ oder auch ‚gut‘ bezeichnet werden kann. Die Forderung nach Emanzipation als Orientierungsmaßstab auch der Forschung in Soziologie und Psychologie rechtfertigt sich vielmehr aus jenem fundamentalen Gedankenzusammenhang, der die Habermas’sche Philosophie prägt und ihr ihre individuelle Gestalt verleiht: aus der Verwiesenheit jeder sprachlichen Verständigung an eine Wahrheit, die nur in einer idealen Gesprächssituation, also im Diskurs, gefunden werden kann. Diese Verwiesenheit besteht unabhängig von aller kritischen Wissenschaft, deren Aufgabe es deshalb nur sein kann, die Verwiesenheit selbst aufzuklären und darüber hinaus dazu beizutragen, Einschränkungen und Verunstaltungen zu benennen und zu analysieren, die den Einfluss des ‚zwanglosen Zwanges des besseren Argumentes‘ auf die Lebens- und Kooperationsverhältnisse der Menschen behindern, die sich miteinander verständigen und verständigungsorientiert handeln.

Wenn Habermas also von Erkenntnisinteressen spricht, so kann er seine eigene Theorie eigentlich erst in einer selbst kritischen Theorie einlösen. Es geht dabei aber nicht darum, der Wissenschaft ihre Orientierung an Wirtschaftsinteressen oder politischen oder individuellen Macht- oder Bereicherungsinteressen nachzuweisen. Ein auf dem Habermas’schen Niveau des Argumentierens zu belegender Zusammenhang von Erkenntnis und Interesse ergibt sich vielmehr erst in der Selbstreflexion einer kritischen Wissenschaft, also in dem Denken, das jene Bedingungen der Möglichkeit von Verständigung und von verständigungsorientiertem Handeln so weit aufgeklärt hat, dass darin deren Verwiesenheit auf eine Wahrheit im Diskurs deutlich werden kann. Kritisch gegen die Wirklichkeit von Wissenschaft kann Habermas sich also nur auf der Grundlage der eigenen Theorie über den Zusammenhang von Wahrheit und Verständigung wenden. Erst in dieser Selbstreflexion kann von einer „Einheit von Vernunft und Interesse“ die Rede sein (EI 349).

Deshalb ist die ‚universalpragmatische‘ Rekonstruktion der Normen, die aller vernünftigen Verständigung zugrunde liegen, so dass sie in einer empirischen Verständigung immer schon vorausgesetzt werden müssen, der einzige Weg, auf dem Habermas den Zusammenhang von Erkenntnis und Interesse aufklären kann. Auch darauf werden wir noch genau eingehen. Darin besteht für Habermas der einzige Weg, auf dem er eine ‚kritische‘ Wissenschaft treiben kann. Deshalb ist die Theorie der Erkenntnisinteressen im Grunde nicht sehr weit entfernt von der Theorie des kommunikativen Handelns – eigentlich sind wir damit schon mitten in der Letzteren, auch wenn in diesem Kapitel noch einiges im Status von Vorgriffen bleiben musste. [<<27]

Dieser Zusammenhang ist mit der beim Thema Erkenntnis und Interesse gegebenen Begründung eines emanzipativen Erkenntnisinteresses aus der sprachlichen Verständigung gegeben, mit deren Anfang bereits der Anspruch auf Mündigkeit gesetzt sei. Später wird Habermas das so ausdrücken, dass

„die utopische Perspektive von Versöhnung und Freiheit“ schon „in den Bedingungen einer kommunikativen Vergesellschaftung der Individuen angelegt“ ist, anders gesagt: „sie ist in den sprachlichen Reproduktionsmechanismus der Gattung schon eingebaut.“ (TkH1 533)

Es wird deutlich geworden sein, dass Erkenntnis und Interesse nach Habermas über das verständigungsorientierte Handeln von Menschen, das er auch als ‚kommunikatives Handeln‘ bezeichnet, unauflösbar verbunden sind. Dieser Zusammenhang ist gewissermaßen in die Grundlagen der Erkenntnis in der Verständigung und damit in der Sprache eingebaut. Nun kann man Habermas zwar auch als Sprachphilosophen bezeichnen. Aber in erster Linie beschäftigte ihn doch stets das Thema Handeln, insofern es zusammen mit einer sprachlichen Verständigung zwischen Menschen geschieht. Wenn Handeln mit Sprache verbunden ist, dann ist in ihm auch bereits jener Zusammenhang von Erkenntnis und Interesse angelegt, auf den Habermas seinen Anspruch aufbaut, eine ‚kritische Theorie‘ entwickeln zu können.

Mit dem Handeln hat es in der Philosophie und in großen Teilen der soziologischen Theorietradition eine ganz besondere Bewandtnis. Man könnte sogar sagen, dass ‚Handeln‘ der Begriff ist, an dem Philosophie und Sozialwissenschaft als Wissenschaft vom sozialen Handeln aufeinandertreffen oder sogar unauflöslich miteinander verschränkt sind. Es gilt also zunächst diese besondere Bewandtnis zu erhellen, bevor wir uns näher mit Habermas und seiner eigenen Theorie des ‚kommunikativen Handelns‘ beschäftigen. Schon an dieser Stelle sei vorausgeschickt, dass dieses Thema keine Erfindung von Habermas darstellt. Eigentlich ist die Frage nach dem Handeln mehr als 2000 Jahre alt und gehört zu den Ur- und Grundfragen der Philosophie. Darauf werden wir im Kapitel 2.2 genauer eingehen. Daraus wird sicher deutlich werden, warum Habermas gerade zum Philosophen werden musste, um seine Theorie vom ‚kommunikativen Handeln‘ verfolgen zu können.

Zunächst aber werden wir uns damit beschäftigen, wie sich Handeln in und zwischen Philosophie und Soziologie darstellt, wobei in Kapitel 2.1 die Beziehung von Soziologie und Philosophie und die Annäherung an das Phänomen des Handelns in der theoretischen Soziologie im Vordergrund steht. Daraus wird deutlich werden, wie und warum das Handeln ein philosophisches Thema darstellt, das uns dann etwas [<<28] näher in Kapitel 2.2 beschäftigen wird. Letztlich geht das darauf zurück, dass Handeln ‚irgendetwas‘ mit Vernunft zu tun hat, worüber Habermas ausführlich nähere Auskunft gegeben hat, die wir dann im Kapitel 3 in den Grundzügen darstellen. [<<29]

1 Habermas’ Werke werden in diesem Buch mithilfe von Abkürzungen (Siglen) zitiert, die im Verzeichnis der Abkürzungen/Siglen auf S. 283. aufgelöst werden. Nach der Abkürzung steht die Seitenzahl. – Sämtliche Zitate wurden der reformierten Rechtschreibung angepasst.

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