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Einleitung Wer ist Jürgen Habermas?
ОглавлениеMan kann sich ziemlich leicht darauf verständigen, dass Jürgen Habermas in der Gegenwart der weltweit bekannteste Denker deutscher Sprache ist. Wenn man den Begriff ‚Denker‘ etwas spezifiziert, so wird man auch auf Zustimmung treffen, wenn man Habermas als den global berühmtesten deutschsprachigen Philosophen der Gegenwart bezeichnet. Aber schon hier könnte jemand zögern und nachfragen, ob es sich denn überhaupt um einen genuinen Philosophen handelt – was immer ‚genuin‘ hier heißen mag. Ist Habermas nicht vielmehr in erster Linie ein theoretischer Soziologe? Schließlich führte er mit den berühmtesten Ansätzen der soziologischen Forschung und vor allem mit Niklas Luhmann als einem der bekanntesten Soziologen der Gegenwart eine intellektuelle Auseinandersetzung, die sich um die Grundfragen des soziologischen Forschens drehte.
Wieder ein anderer könnte unter Umständen zugestehen, dass Habermas irgendwie aus der Soziologie kommt und auch auf philosophischer Ebene einiges zum Denken beigetragen hat, dass er aber doch vor allem als politologischer Theoretiker bedeutsam sei, weil er den Gedanken einer ‚richtigen‘ Politik wieder salonfähig gemacht habe. Aus der Ecke der politischen Ökonomie und der Politikwissenschaft gleichermaßen könnte jemand auf die Beiträge zur Theorie des Kapitalismus hinweisen und Habermas für eine Revitalisierung marxistischen Denkens auf einer reflektierten Ebene in Anspruch nehmen. Wieder ein anderer könnte Habermas ganz im Gegensatz dazu als Theoretiker eines altliberalen Denkens geltend machen und dabei vor allem die Bedeutung seiner Untersuchungen zur Wichtigkeit von Öffentlichkeit für eine demokratische Politik betonen.
Und schließlich könnte noch ein anderer darauf verweisen, dass die Bedeutung von Jürgen Habermas vor allem in seinen Beiträgen als politischer Intellektueller gesehen werden müsse, und dieser Jemand könnte geltend machen, dass darin die eigentliche Wirkung von Habermas anzutreffen sei, während die philosophischen und soziologischen Themen doch mehr oder weniger nur im Elfenbeinturm der entsprechenden Disziplinen Resonanz fanden und finden. Dieser Jemand könnte mit guten Gründen [<<9] darauf verweisen, dass gerade Habermas die öffentliche Auseinandersetzung über Grundfragen der Politik über die aktuellen Streitfragen hinaus, wie sie in der Presse diskutiert werden, vorangetrieben hat, wobei die Resonanz seiner Beiträge sicherlich die aller anderen politischen Kommentatoren aus der akademischen Welt weit übertroffen hat.
Die Bedeutung und das Wirken von Jürgen Habermas scheinen ein vielgesichtiges Phänomen zu sein. Dieses Bild verkompliziert sich noch, wenn man berücksichtigt, dass Habermas in der guten Presse als Musterbeispiel eines verständlichen und für eine breite Öffentlichkeit engagiert schreibenden Denkers angesehen wird, während jeder, der seine philosophischen und/oder soziologischen Texte – es wird noch zu fragen sein, ob eine solche Unterscheidung überhaupt zulässig ist – zu lesen versucht, zumindest dann mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen haben wird, wenn er nicht schon ein Soziologie- und Philosophiestudium mit gutem Erfolg abgeschlossen hat.
Dieses letztere Problem lässt sich allerdings leicht aufklären. Habermas pflegt seine Gedanken in intensiver Auseinandersetzung mit vielen, sehr vielen Denkern und Forschern aus sehr verschiedenen Disziplinen zu entwickeln, und er stellt diese Diskussionszusammenhänge in seinen Schriften intensiv heraus. Man kann an vielen Stellen den Eindruck gewinnen, dies geschehe womöglich ein wenig zu intensiv, weil der Wald des Habermas’schen Denkens bisweilen vor all den vielen Bäumen anderer Philosophen, Soziologen, Psychologen und Politologen kaum noch zu sehen ist. Aber das ist keine Marotte eines Denkers, der gerne und mit Freude seine vielen Lesefrüchte ausbreiten möchte, obwohl Habermas sicherlich als so etwas wie ein Rezeptionsgenie unter den Denkern gelten kann. Er ist ganz gewiss kein Doktorand, der seinem Promotionsbetreuer zeigen muss, wie viel er gelesen hat und auch noch darstellen kann.
Der Grund dafür, dass so viele Bäume den Wald des Habermas’schen Denkens zu verstellen drohen, führt vielmehr bereits tief in die Grundstrukturen dieses Denkens hinein. Das wird am Ende dieses Buches – hoffentlich – deutlich geworden sein. Aber schon an dieser Stelle können wir darauf aufmerksam machen, dass eine solche diskussionsintensive Gestalt der Schriften bei einem Denker genau das ist, was man zu erwarten hat, wenn im Zentrum seines Denkens der ‚Diskurs‘ steht – einfacher gesagt: die Verständigung zwischen Menschen im Handeln und in der Suche nach Wahrheit und Richtigkeit. Es wäre sogar merkwürdig, wenn dieser Denker die argumentativen Zusammenhänge – und Ursprünge – seiner Theoreme und Behauptungen nicht explizit im Verlaufe seiner schriftlich dokumentierten Ergebnisse darstellen würde.
Natürlich stand und steht jeder Philosoph, Soziologe und Politologe in Zusammenhängen von Auseinandersetzungen mit anderen Denkern. Das war schon bei Platon so, und kein Denker dachte je für sich allein, sondern hatte gerade dann, wenn er [<<10] Wichtiges zu sagen hatte, implizit eine Fülle von Bezügen auf seine Vorgänger und Zeitgenossen in seinen Werken niedergelegt. Allerdings haben frühere Denker es nicht als so wichtig angesehen, all diese Einflüsse säuberlich zu dokumentieren und ihre eigenen Gedanken als Früchte aus virtuellen Diskussionen mit einer langen Reihe von meistens bereits toten Vorläufern darzustellen. Wer Kants ‚Kritik der reinen Vernunft‘, Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘ oder Heideggers ‚Sein und Zeit‘ liest, der könnte den Eindruck gewinnen, diese Autoren hätten alle Früchte ihres Denkens ausschließlich von den eigenen Bäumen gepflückt.
Der Unterschied in Bezug auf Habermas ist nun so zu verstehen: Ein Denker, der explizit alles Denken als Diskurs und verständigungsorientierte Auseinandersetzung mit anderen Menschen versteht, kann einfach nicht anders, als sein Denken eben so darzustellen: als einen Diskussionsprozess, an dem viele Vorgänger und Gesprächspartner teilgenommen haben, die entsprechend auch zu Wort kommen sollen, um den Autor nicht als den solipsistischen Schöpfer seiner eigenen und nur aus ihm stammenden gedanklichen Welt erscheinen zu lassen. Aber genau darin liegt eine der zentralen Schwierigkeiten eines Verständnisses des Habermas’schen Denkens für Leser, die mit den Theorien jener Gesprächspartner nicht so vertraut sind, wie dies bei Jürgen Habermas selbst zweifellos der Fall ist.
Damit sind wir bereits bei einer der zentralen Aufgaben des vorliegenden Buches. Um die bereits verwendete Metapher wieder heranzuziehen: Es soll den Wald des Habermas’schen Denkens deutlich sichtbar machen, der hinter den Bäumen der vielen Diskussions- und Rezeptionsschritte in seinen Werken zu verschwinden droht. Von einer Einführung wird niemand erwarten, dass die ganze Vielfalt eines Werkes bis in die Verästelungen und Randgebiete hinein ausgebreitet wird. Man könnte deshalb auch eine andere Metapher heranziehen, um das Ziel dieses Buches zu verdeutlichen: Es soll gewissermaßen die ‚Vogelperspektive‘ eingenommen werden, aus der sich ein Überblick über verschiedene Seiten, Gesichtspunkte und Themen des Habermas’schen Denkens gewinnen lässt. Aus einer solchen Perspektive bleibt notwendig einiges unberücksichtigt, manches kann nur angedeutet werden und vieles wird nicht ausführlich dargestellt.
Um noch eine andere Metapher zu gebrauchen: Es geht in diesem Buch darum, ein Verständnis dafür zu erzeugen, was die Welt des Habermas’schen Denkens im Innersten zusammenhält. Es wird im Folgenden – hoffentlich – deutlich werden, dass es ein solches Zentrum bei Habermas gibt. Nicht bei allen Denkern ist das der Fall. Wer Kants Denken etwa so darzustellen versuchen wollte, der müsste notwendig Schiffbruch erleiden. Wenn man dieses Zentrum jedoch bei Habermas verstanden hat, dann lösen sich viele Schwierigkeiten auf, die sich bei der Lektüre sonst stellen. Es werden Zusammenhänge deutlich und konsequente Entwicklungen einsichtig; [<<11] spätere Schriften erläutern sich wie von selbst durch frühere; und auf frühere Werke fällt ein besseres Licht, wenn sie von dem erst später ganz deutlich gewordenen Zentrum her betrachtet werden.
Und damit können wir zurückkommen auf unser Anfangsproblem: Wer ist Jürgen Habermas? Politologe, Soziologe, Philosoph, politischer Intellektueller, reflektierter Marxist, in der Wolle gefärbter Altliberaler – oder was noch? In diesem Buch geht es um das ‚was noch‘, also um das, was in allen solchen Etiketten nicht erfasst wird. Wenn erst einmal jener Wald des Habermas’schen Denkens sichtbar wird, der vor lauter Bäumen gelegentlich zu verschwinden droht, dann wird auch jenes Zentrum deutlich, aus dem sich alle diese Facetten des vielgesichtigen Phänomens Jürgen Habermas erhellen lassen. Das soll nicht heißen, dass damit sein ganzes Denken verstehbar wird. Man sollte nie versuchen, einen Denker ganz verstehen zu wollen. Es heißt zwar, jeder große Denker denke nur einen Gedanken, aber wer nur einen Gedanken denkt, ist deshalb noch lange kein großer Denker.
Jene ‚Vogelperspektive‘, aus der in diesem Buch jenes Zentrum des Habermas’schen Denkens erhellt werden soll, das es im Innersten zusammenhält, kann also nicht nur Licht auf die vielfältigen Diskussionszusammenhänge und Rezeptionsdokumente werfen, die die Lektüre von Habermas’ Texten bisweilen so schwierig erscheinen lassen, sondern sie wirft auch Licht auf den Zusammenhang zwischen den vielen Facetten, unter denen die Denkgestalt von Jürgen Habermas sich dem interessierten Leser darstellt, der sich nicht auf die eine oder die andere Seite beschränken will. Dieser Zusammenhang erlaubt ein besseres Verständnis für viele Aspekte dieses Denkens, wenn man ihn als Hintergrundfolie bei der Rezeption verwendet. Man könnte ihn als das Zentrum auffassen, aus dem sich viele einzelne Elemente des Habermas’schen Denkens entwickelt haben. Es ist jedoch auch möglich, darin die Fluchtlinie zu sehen, auf der sich die einzelnen Gesichter dieses Denkens bewegen; vielleicht könnte man auch von einem Konvergenzpunkt sprechen.
Allerdings sollte man eine solche Fluchtlinie bzw. ein solches Zentrum bei der Rezeption eines Denkers auch nicht überbewerten. Würde man das tun und alle Themen ausschließlich auf einen einzigen Gedanken verrechnen bzw. alle auf ihn als ihren gemeinsamen Nenner bringen, so müsste man einen beträchtlichen Verlust an Gedankenreichtum in Kauf nehmen. Man sollte die Einnahme jener ‚Vogelperspektive‘ und die Präsentation eines Zentrums bzw. einer Fluchtlinie in Habermas’ Denken besser als ein heuristisches Hilfsmittel betrachten, das gerade für diejenigen Leser, die mit diesem Denken noch nicht vertraut sind, als Wegweiser durch dessen dichten Baumbestand dienen kann, so dass der Wald als solcher noch erkennbar bleibt und die vielen einzelnen Bäume nicht die Sicht darauf versperren. [<<12]