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2.2 Die zweite Große Erzählung vom Guten und Bösen

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Das Christentum und das philosophische Denken

Wir haben eine alttestamentarische Erzählung verwendet, um einige Perspektiven des Beginns der Geschichte vom Guten und vom Bösen im Abendland zu erläutern. Daraus sollte nicht der Schluss gezogen werden, diese Geschichte sei in erster Linie die Geschichte der christlichen Religion. Es ist eine philosophische Geschichte, die durch Denker vorangetrieben wurde, von denen sich die meisten nur nebenbei und außerhalb ihres Philosophierens religiös verpflichtet fühlten. Aber die Philosophie entstand zwar im historischen Kontext des besonderen sozialen und politischen Lebens in den griechischen Stadtstaaten, sie verband sich jedoch Jahrhunderte später immer enger mit dem Denken, dessen Ursprung in Palästina lag. Bereits an diesem Ursprung war das Christentum schon von den Folgen des griechischen Denkens beeinflusst. Diese in der menschlichen Geschichte einzigartige Konstellation von philosophischer Überlieferung und religiösem Offenbarungsglauben entwickelte sich in der römischen Welt weiter und führte schließlich in der gedanklichen Welt des Mittelalters zu einer Einheit von philosophischem und theologischem Denken. Als Autorität dieses philosophisch-theologischen Denkens galt nun Aristoteles, der in vielen Schriften kurz und einfach als ‚der Philosoph‘ bezeichnet wurde.

Diese Einheit war nicht von langer Dauer. Mit der Emanzipation des Menschen von einem ausschließlich religiösen Selbstverständnis befreite sich auch das philosophische Denken wieder von den Beschränkungen und Vorgaben der christlichen Religion. Der Prozess dieser Emanzipation war darüber hinaus auch eine Folge der Eigendynamik des philosophischen Denkens, das sich nicht lange durch die Verbindlichkeiten einer Religion binden lassen konnte. Mit dem Ende dieser Symbiose von Philosophie und Theologie fand auch die Geschichte vom Guten und Bösen wieder zu einer in erster Linie philosophischen Grundlage zurück. Aber auch das Denken kann seine Geschichte nicht einfach hinter sich zurücklassen. Die Geschichte des Denkens am Anfang der Philosophie in den griechischen Stadtstaaten blieb auch dann wirksam, als Philosophie und Theologie nahezu ununterscheidbar wurden, und die Philosophie, die aus dieser Verbindung hervorging, war durch diesen Weg eine andere geworden und auch diese Geschichte folgte ihr. Nichtsdestoweniger entstand in der Auflösung der theologischphilosophischen Symbiose wieder ein eigenständiges Denken über das, was als gut und was als böse gelten soll. Dieses Denken war zwar durch die theologische Phase hindurch gegangen, aber es konnte auch wieder an die Denkmodelle vor dieser Verbindung anknüpfen, dies umso leichter, als diese Modelle in der christlichen Theologie bestimmend geblieben waren.

Die ursprüngliche Entscheidung zum Auszug aus dem Paradies und damit zu einem Wissen des Guten und Bösen war auch die Wahl eines Gottes, der in einem Verhältnis zu einer unvollkommenen Welt steht, die durch die Unterscheidung zwischen Gut und Böse bestimmt wird. Diese Geschichte setzte sich in der Religion und in der Philosophie fort. An diesen Anfang konnte nicht mehr jede Religion anschließen. Es musste sich eine Religion entwickeln, die in einer unvollkommenen Welt die durch den Auszug aus dem Paradies bewiesene Freiheit mit dem Gedanken der Vollkommenheit des Gottes zu vereinbaren suchte. Diese Religion musste den Menschen als frei und damit als fähig zum Guten und Bösen auffassen. Sie musste deshalb auch Gedanken enthalten, die Bestimmungen über das vorgaben, was der christlich verpflichtete Mensch als richtig und als falsch aufzufassen hatte. Es war deshalb notwendig und konsequent, dass eine auf der Grundlage der biblischen Erzählung vom Paradies und vom ursprünglichen Sündenfall als dem Anfang der Geschichte der Menschen sich entwickelnde Religion eine Lehre vom Guten und vom Bösen enthalten musste.

Diese Religion aber hatte sich seit ihrer Neubegründung im Christentum mit den Folgewirkungen des ursprünglichen philosophischen Denkens in der christlichen und römischen Welt verbunden. Deshalb folgte die Geschichte des Guten und Bösen, wie es nun in der Religion bestimmt und für alle Gläubigen verpflichtend gemacht wurde, der Philosophie wie ein Schatten und wie ein Schatten blieb sie abhängig von und hinter dem Denken zurück, das den Schatten warf. Auch in der Religion wurde vom Guten und Bösen nie nur eine religiöse Geschichte vom Guten und Bösen erzählt. In dieser Geschichte war immer auch Vernunft enthalten, die über die bloße Offenbarung hinaus das bestimmte, was auf der Grundlage des Glaubens verbindlich gemacht wurde. Der christliche Glaube war nie nur Glaube. Das Christentum zeichnet sich unter allen Religionen in der Welt dadurch aus, dass es stets den Anspruch erhob, auch auf Vernunft gegründet zu sein. Was die Religion vorschrieb, sollte sich auch gegenüber dem reinen Denken ausweisen können. Im diesem Gedankenzusammenhang konnte es im Grunde überhaupt kein Denken geben, das in der Lage gewesen wäre, den Aussagen des Glaubens zu widersprechen, wenn es denn wirklich aus der einen und universalen Vernunft entstammte.

Auch deshalb konnte das philosophische Denken über das Gute und das Böse ohne Brüche an das ursprüngliche Verfahren des reinen Denkens anschließen, als sich die Symbiose von Philosophie und Theologie aufzulösen begann. Zwar hatte die Religion die Philosophie nur als ‚Magd der Theologie‘ gelten lassen wollen, aber sie hatte sich dieser ‚Magd‘ doch so bedient, dass sie selbst von ihrer spezifischen Leistung des vernünftigen Denkens abhängig geworden war und nicht mehr darauf verzichten wollte. Dies ist heute etwas in Vergessenheit geraten, da wir gewohnt sind, zwischen dem Diskurs der Vernunft und den Lehren der Amtskirche eine unüberbrückbare Kluft zu sehen, zumindest aber zwei Reiche des Denkens gelten zu lassen, die weitgehend unverbunden neben einander oder auch gegen einander stehen. Das philosophische Denken über das, was wir gut und was wir böse nennen sollen, hatte seine Identität bewahren können und vermochte deshalb problemlos zu sich zurückzukehren. Allerdings gab es in der langen Periode der Symbiose von Theologie und Philosophie in Europa keine bedeutenden Fortschritte in diesem Denken, so dass uns die Epoche der unumschränkten Herrschaft des christlichen Glaubens heute als eine gedankenarme Zeit vorkommen könnte.

Einen zentralen und in sich vielschichtigen Gedanken hatte die Philosophie jedoch aus dem Gedankenbestand des christlichen Glaubens übernehmen können. Der Gedanke der fundamentalen Gleichheit aller Menschen prägt unsere Kultur und unser Denken bis heute so sehr, dass wir ihn aufgrund seiner Selbstverständlichkeit oft kaum noch eigens als der christlichen Gedankenwelt zugehörig wahrnehmen. Wenn wir uns auf diesen Gedanken beziehen, so ordnen wir ihn in der Regel gerade der Kritik an der christlichen Welt zu. Wir fassen ihn als Teil der Emanzipation des Denkens von der Gebundenheit durch die aus dem Glauben entnommenen Ansprüche einer Offenbarung auf, die so lange Zeit ihre Geltung ohne kritische Ausweisung vor der Vernunft durchsetzen hatte können. Diese Auffassung kann gute Gründe für sich beanspruchen. Bei genauerer Hinsicht ist sie jedoch nur zum Teil wahr. Es gibt noch eine andere Seite dieser Wahrheit, die gerade unter der Perspektive des in der christlichen Welt entstandenen Diskurses über jene die Geschichte der Menschen von ihrem Beginn an prägende Unterscheidung zwischen Gut und Böse zur Geltung gebracht werden sollte.

Der Gott, der sich dem Menschen gleich gemacht hat

Der Gott der Christenheit bezog sich von Anfang an auf alle Menschen gleich. Das Neue Testament ist unter diesem Gesichtspunkt ein einzigartiges Dokument der Menschheitsgeschichte. Dieser Text handelt in erster Linie nicht von der Verkündigung einer göttlichen Botschaft, die als Lehre niedergeschrieben werden konnte. Er handelt unter anderem auch davon, und diese Botschaft ist für den Geist des Westens prägend geworden. Aber er erzählt zunächst eine andere Geschichte. Die zentrale Botschaft dieser Geschichte handelt von einem Gott, der Mensch geworden ist und sich den Menschen gleich gemacht hat. Ein Gott, der geboren werden und sterben kann, ist in der Geschichte des menschlichen Denkens einzigartig. Nur scheinbar kann dieser Gedanke an die sterblichen Götter der Antike erinnern. Diese waren Gleiche unter Gleichen, und die Welt der Götter war auf eine andere Weise streng getrennt von der der Menschen, obwohl sie sogar mit Menschen Kinder zeugen und direkt Einfluss auf deren Welt nehmen konnten. Sie konnten mit Menschen umgehen, aber sie konnten keine Menschen werden, äußerstenfalls konnten sie sich den Anschein von Menschen geben, um ihre göttlichen Wünsche besser verfolgen zu können. Sie konnten sich als Menschen ausgeben, aber nicht als Menschen geboren werden und als Menschen sterben. Sie konnten keine Menschen sein. Dass ein antiker Gott von Menschen gekreuzigt und getötet wird, wäre ein nicht zu denkender Gedanke gewesen.

Wenn der Gott Mensch wird, wird der Mensch deshalb nicht Gott. Im Gegenteil, er wird im Grunde nun dazu verpflichtet, erst recht Mensch zu werden und zu bleiben. Ein Mensch zu sein hat nun eine grundsätzlich andere Bedeutung gewonnen. Er ist ein Wesen geworden, dem Gott gleich werden kann und will. Dies wird die Geschichte der Menschen verändern, weil es ein Gedanke ist, der eine neue Perspektive in das menschliche Selbstverständnis einführt. Von nun an kann sich der Mensch nicht mehr als ein Wesen verstehen, das nur mit seinen eigenen Angelegenheiten befasst ist. Auch der Gott des Alten Testaments und die Götter anderer Religionen mischten sich in die Geschäfte der Menschen ein. Aber es war nie der Gott, der selbst Mensch geworden war. So nah war der Mensch seinem Gott nie zuvor gekommen, und der Gott war ihm nie so sehr gleich gewesen. Wir pflegen diese Revolution des menschlichen Selbstverständnisses zu unterschätzen, da wir in der westlichen Welt seit vielen Jahrhunderten in ihm leben und sie deshalb nicht mehr als etwas Außergewöhnliches betrachten. Es ist jedoch eine Sache, sich als Mensch der Welt der Götter gegenüber gestellt zu sehen, die Herrschaft ausüben und Gehorsam einfordern, deren Kontakt mit der Menschenwelt sich jedoch stets aus einer Distanz abspielt, die nie überwunden werden kann. Es ist eine ganz andere Sache, Mensch zu sein mit dem Bewusstsein, dass der Gott von sich aus und kraft seiner eigenen Entscheidung ein Mensch unter Menschen geworden ist.

Was als ‚Neuer Bund‘ zwischen den Menschen und dem Gott bezeichnet wird, reflektiert also eine fundamentale Veränderung des menschlichen Selbstverständnisses. Diese Revolution konnte nur so stattfinden, wie sie im Neuen Testament beschrieben wird. Der Mensch konnte seinen Gott nur als Person unter Personen erkennen, wenn er ihn auf menschliche Weise geboren, als Mensch und unter Menschen leben und als Mensch sterben sah. Von nun an ist das Gute und Böse, dessen Unterscheidung wir den Göttern bzw. dem Gott zuschreiben, ebenso Sache der Menschen wie Sache des Gottes. Damit sind Gut und Böse bereit dafür, von Philosophen gedacht und durch Vernunft bestimmt zu werden. Die Menschen, die nun das Gute und Böse bedenken, sind die gleichen, denen sich der Gott gleich gemacht hat. Sie müssen ihr Wissen deshalb nicht mehr als etwas Minderes auffassen, dem gegenüber die höhere göttliche Instanz steht, für die jenes Wissen nur Tand aus Menschenhand sein könnte. Das menschliche Denken über Gut und Böse hat nun eine wahre Bedeutung. Nicht jedes Denken kann diese Wahrheit beanspruchen. Aber alle Anstrengungen dieses Denkens können nun mit der Zuversicht betrieben werden, dass dieses unvollkommene Tun von einem Geist stammt, der dem Gott nicht fern ist, weil sich der Gott ihm gleich gemacht hatte.

Die Philosophie gewinnt mit ihrem vernunftgeleiteten Denken über Gut und Böse nun eine neue Bedeutung. Sie muss zwar als menschliches Wissen verstanden werden, aber als Wissen des Menschen, dem Gott gleich geworden war. Nur deshalb kann sie nun dazu beitragen, den Menschen über seinen Gott aufzuklären. Nur deshalb kann die Vernunft überhaupt eine Bedeutung für das Wissen und das richtige Bewusstsein von Gott gewinnen. Zwar ist es immer noch eine menschliche Vernunft, aber es ist die Vernunft des Menschen, dem der Gott sich gleich gemacht hatte. Die Vernunft der Sterblichen hat ein neues Gewicht gewonnen, weil sie sich nun als gleich mit dem Gott verstehen können, der geboren wurde und gestorben ist. Wir sollten uns nicht vorstellen, dass die Philosophen jetzt statt mit Menschen mit Engelszungen sprechen könnten und all ihr Wissen von der Weisheit Gottes gelenkt würde. Die Philosophen befinden sich auch jetzt in keiner besseren Lage als andere Menschen. Sie irren, solange sie streben. Aber sie können sich auf ihrem Weg über das Wagnis des Denkens und seine Irrtümer nun in einer Beziehung zum Ursprung alles Wissens verstehen. Ihr Tun ist nicht mehr bedroht von dem Bewusstsein der grundsätzlichen Vergeblichkeit des Wissens in einer Welt, die nicht in der ausgezeichneten Beziehung zu dem Gott steht, welche in der Großen Erzählung des Neuen Testaments beschrieben wird.

Mit dieser neuen Stellung des Menschen in der Welt hat sich auch das Verhältnis des Menschen zu seiner Freiheit, zu seinem Wissen um Gut und Böse und zu dem Reich des ganz Anderen, von dem her er sich bestimmt verstand und das er unter dem Titel ‚Gott‘ zusammenfasste, grundlegend verändert. Nach der ersten Großen Erzählung der westlichen Welt, die am Anfang des Alten Testaments vom Verlassen des Paradieses berichtet, wählten die ersten Menschen ihre Freiheit zum Guten und Bösen und damit den Beginn eines Lebens in der Geschichte. Sie drückten damit ihr Ungenügen an einer Welt aus, in der ‚alles gut‘ und nichts böse war, so dass sich das Gute nicht gegen das Böse bestimmen konnte. Sie wandten sich damit auch gegen einen Gott, der ein Verhältnis nur zu einer vollkommenen Welt unterhalten wollte, nicht aber zu einer Welt, in der es das Gute und das Böse gibt. Die Erzählung vom Auszug aus dem Paradies berichtet davon, dass den ersten Menschen ihr Wunsch gewährt wurde: sie wurden aus dem Stand der Vollkommenheit ohne die Unterscheidung zwischen Gut und Böse und mit der Beziehung zum Gott einer vollkommenen Welt vertrieben. Sie gewannen dafür das Leben in einer unvollkommenen Welt und einen Gott, der in einem Verhältnis zu einer solchen Welt stehen konnte.

Gewannen sie damit aber das angestrebte und von der Schlange versprochene Wissen um Gut und Böse, mit dem sie sein wollten wie Gott? Sie erreichten zwei Voraussetzungen für dieses Wissen. Zum einen verließen sie eine vollkommene Welt, in der ‚alles gut‘ und nichts böse war, und lebten nun in einer ganz anderen Welt, in der ihr Dasein so von der Unterscheidung zwischen Gut und Böse geformt wurde, dass sie das Streben nach dem Guten nicht mehr von ihrem Wesen trennen konnten, obwohl es nie zur Erfüllung gelangte. Zum anderen stand ihnen nun ein Gott gegenüber, den seine Beziehung zu einer unvollkommenen Welt bis ins Innerste prägte, in der nicht alles gut, sondern vieles böse war. Damit waren sie den Bedingungen ihrer Freiheit näher gekommen, die sie dazu gebracht hatte, das absolute Gute der vollkommenen Welt ohne Verhältnis zum Bösen zu verlassen, obwohl dies gleichbedeutend war mit dem Auszug aus dem Paradies. Aber sie waren nicht wie Gott geworden und wussten wenig vom Guten und Bösen und auch über das Wenige hatten sie keine Gewissheit.

Das neue Wissen vom Guten und Bösen

Erst die Große Erzählung des Neuen Testaments berichtet von der – prekären – Erfüllung des tiefsten Wunsches, der die ersten Menschen aus dem Paradies geführt hatte. Aber diese Erfüllung war von Bedingungen abhängig, die in der paradoxen Geschichte vom Auszug aus dem Paradies ihren Anfang genommen hatten. Mit der auf diese Weise gewonnenen Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen begann die Geschichte der Menschen. Die nicht vergehende Zeit des Paradieses war an ihr Ende gekommen und die ersten Menschen traten in eine Entwicklung ein, die nach langer – und nun wirklich vergehender – Zeit zu einer neuen Großen Erzählung führen konnte. Keine andere Entwicklung hätte mit der Geschichte des Gottes enden können, der sich zum Menschen macht. Wäre der Boden für diese Geschichte nicht bereitet gewesen, so wäre sie vielleicht erzählt worden, aber sie wäre eine Zeit lang verbreitet worden und nach einiger Zeit in Vergessenheit geraten, als neue und unterhaltsamere Legenden in Umlauf kamen. Nur weil sich die ersten Menschen mit ihrer Entscheidung für die Bedingungen des Wissens vom Guten und Bösen auch für das Eintreten in die Geschichte entschieden hatten, deshalb konnte die Entwicklung dieser Geschichte dazu führen, dass Jahrtausende später eine neue Große Erzählung die Geschichte des Westens prägen konnte.

Aber auch diese Große Erzählung erfüllt den Menschen, die nun in der Geschichte und damit in der Unterscheidung zwischen Gut und Böse leben, den ursprünglichen Wunsch nicht so, wie er ursprünglich formuliert worden war. Auch der Neue Bund der Beziehung zwischen Gott und den Menschen stellte ihnen kein endgültiges und für alle Situationen passendes Wissen über Gut und Böse zur Verfügung, und sie sind dadurch nicht geworden wie Gott. Aber ihr Verhältnis zu dieser Unterscheidung hat sich nun fundamental verwandelt und das gleiche gilt für die Beziehung zu ihrem Gott. Mit dieser Verwandlung beginnt eine neue Epoche der Geschichte des Westens. Der Geist, der nun entstanden ist, konnte eine Kultur bilden, die nicht mehr der strikten Trennung zwischen Denken und Offenbarung, zwischen Philosophie und Religion folgen musste, sondern deren Philosophie durch die Große Erzählung des Christentums angeregt und deren Religion durch das Denken über Gut und Böse erleuchtet werden konnte. Diese Kultur enthält deshalb ein neues Bewusstsein über das mögliche Wissen vom Guten und Bösen, ebenso wie zu ihr das Bewusstsein einer fundamental veränderten Beziehung zwischen Gott und den Menschen gehört.

Dieses neue Bewusstsein über den Status des Wissens vom Guten und Bösen ergibt sich daraus, dass der Mensch sich nun verstehen kann von der besonderen Göttlichkeit eines Gottes her, der sich dem Menschen gleich gemacht hat. Damit ist das menschliche und unvollkommene Wissen mit einer neuen Würde ausgezeichnet. Es ist nicht mehr das Wissen der Sterblichen, das nichts ist im Angesicht des überlegenen Wissens des Gottes, dessen Denken alle Dinge der Welt schafft und vor dem alles herrliche Denken der Menschen höchstens ist wie des Grases Blumen. Es ist das Wissen von Menschen, deren einer der Gott selbst war, und zwar nicht der Gott in Verkleidung, sondern der Gott selbst, der geboren werden und sterben konnte als Mensch. Der neue Status des menschlichen Wissens über Gut und Böse ergibt sich also aus dem neuen Verhältnis des Menschen zu seinem Gott. Dieser Zusammenhang bestand schon in der Großen Erzählung des Alten Testaments. Der Anfang des Wissens vom Guten und Bösen im Wissen von deren Unterscheidbarkeit war gleichzeitig das Bewusstsein von einem Gott, der in einer Beziehung zu einer unvollkommenen Welt steht, in der nicht ‚alles gut‘, sondern manches gut und vieles böse ist.

Man könnte sogar behaupten, dass die Große Erzählung des Christentums von der Aufhebung der Vertreibung aus dem Paradies berichtet. Das soll nicht bedeuten, dass sie die Rückkehr in das verlorene Reich der Vollkommenheit ankündigt. Wenn das Zentrum dieser Erzählung aber in der Menschwerdung des Gottes zu sehen ist, so wird von ihm gesagt, er habe sich nun mit seiner Auffassung als Gott einer unvollkommenen Welt versöhnt. Wie anders sollte es verstanden werden, dass er bereit ist, voll und ganz Mensch und damit Teil der unvollkommenen Welt zu werden, in der die Unterscheidung zwischen Gut und Böse herrscht und das Gute nur in seiner Relation zum Bösen bestimmt werden kann und nicht einmal auf diese Weise ein sicheres Wissen vom Guten zu gewinnen ist? Er ist nun nicht mehr nur der Gott, wie ihn sich die ersten Menschen wünschten, nämlich der Gott in seiner Beziehung zu einer unvollkommenen Welt. Er ist auch selbst Mensch in dieser unvollkommenen Welt geworden. Diese Welt kann deshalb nicht mehr die Welt sein, die der vollkommenen Welt des Paradieses als eine Welt im Stand der Verderbnis entgegen gesetzt werden musste. Die unvollkommene Welt ist keine mindere Welt mehr.

Damit hat auch die Unterscheidung zwischen Gut und Böse nicht mehr den Status des Kennzeichens einer minderen Welt. Dies macht das Ergebnis des Auszugs aus dem Paradies, wie er in der Großen Erzählung des Alten Testaments berichtet wird, vollends rückgängig, was den Bezug auf Vollkommenheit angeht. War die Welt der Menschen zunächst unvollkommen, weil die ersten Menschen sie durch die Abwendung vom Paradies gewonnen hatten, in dem ‚alles gut‘ und damit vollkommen war, so kann diese Unvollkommenheit nun als vollkommen angesehen werden, weil der Gott nicht in seiner Abwendung von dieser Welt geblieben ist, sondern sich als sterblicher Mensch zu ihrem Teil gemacht hat. Die Welt, in der die Unterscheidung zwischen Gut und Böse herrscht, ist nach der Großen Erzählung des Christentums nicht mehr die unvollkommene Welt, auch wenn die Kenntnis vom Guten und vom Bösen weiter nur bruchstückhaft und nie mit Gewissheit verbunden zu gewinnen ist. Die Welt, in der wir das Gute nur in der Absetzung vom Bösen kennen und uns deshalb nur um sein Wissen bemühen können, ist nun die Welt der Menschen, mit denen sich der Gott gleich gemacht hat. Eine solche Welt kann nicht mehr ganz und gar nichtswürdig sein.

Die Vollkommenheit des Unvollkommenen

Von nun an gehört zum Geist des Westens der Gedanke, dass diese unvollkommene Welt ihre eigene Vollkommenheit besitzt. Die Menschen, die dieses Selbstverständnis für sich gelten lassen, können damit auch den Status ihres Wissens auf doppelte Weise begreifen. Dessen Begrenztheit und Endlichkeit wird ihnen zwar gerade im Bewusstsein der göttlichen Vollkommenheit zu einer selbstverständlichen Gewissheit. Aber in dieser Endlichkeit können sie dem gleichen Wissen einen neuen Status zuschreiben: es ist das Wissen von Menschen, denen sich der Gott gleich gemacht hat. Die grundsätzliche Begrenztheit dieses Wissens teilten sie eine Zeit lang mit dem Gott, der Mensch geworden war. Von nun an ist auch das menschliche und endliche Wissen kein minderes Wissen mehr. Die Große Erzählung des Christentums berichtet also auch von einer Versöhnung des Gottes mit dem Wissen des Menschen. Die ‚Gottesgelehrten‘ können nun beginnen, ihr menschliches Denken einzusetzen, um den Gott durch ihre vernünftigen Erörterungen besser begreifen zu können. Wenn sich eine Theologie als Wissenschaft entwickelt, die beansprucht, den Logos von Gott geben zu können, dann kann sie darauf vertrauen, keine Gotteslästerung zu begehen, denn der menschliche Logos – der Verstand, die Vernunft, das Urteilen, das Begründen – ist dem Göttlichen nicht fremd, sondern Teil der Welt, die nun die Welt des Menschen und des Gottes ist.

Die Große Erzählung des Christentums handelt aber nicht davon, dass sich der Gott mit einem bestimmten Menschen oder einem bestimmten Volk gleich gemacht hat. Der Gott wurde Mensch wie alle Menschen und er starb wie alle Sterblichen, ungeachtet der besonderen Umstände dieses Todes. Die Geschichte berichtet also nicht nur davon, dass sich der Gott mit den Menschen und ihrer unvollkommenen Welt gleich gemacht hat, sondern auch davon, dass er sich darin auf alle Menschen gleich bezog. Auch dieser Gedanke wurde für den Geist des Westens und sein Wissen um Gut und Böse zu einem zentralen Bestandteil. Wir sollten diesen Gedanken nicht deshalb gering schätzen, weil wir seine schlechte Umsetzung in der Wirklichkeit der sozialen, politischen und religiösen Welt kennen. Auch ein in der Realität des Lebens der Menschen pervertierter Gedanke kann in der Tiefenstruktur einer Kultur und einer geistigen Welt wirksam sein, wenn auch nicht immer so, wie wir es uns wünschen mögen. Die Geschichte von dem Gott, der sich den Menschen gleich gemacht hat, berichtet auch von dem Prinzip der Gleichheit aller Menschen. Dieses Prinzip ließ sich in der Wirklichkeit des Lebens nahezu beliebig verkehren. Aber schon wenn wir von der Verkehrung eines Prinzips in sein Gegenteil sprechen, erkennen wir es doch an. Auf jeden Fall gab es nun die Möglichkeit, sich auf diese Gleichheit zu berufen, auch wenn eine solche Berufung bei den Mächtigen der Welt oft wenig Gehör fand. Die Machtlosen haben immer dann den ersten Schritt zu ihrer Befreiung zurückgelegt, wenn sie ein Prinzip gefunden haben, das ihre Lage nicht mehr rechtfertigt, sondern als wider alles Recht erklärt.

Für die Frage nach der Bedeutung des Wissens um Gut und Böse im Geist des Westens können wir uns aber auf einen anderen Gedanken konzentrieren, obwohl die Frage nach der sozialen und politischen Gleichheit in diesem Zusammenhang eine eigene Bedeutung gewinnt. Die Versöhnung der göttlichen mit der unvollkommenen Welt, die die ersten Menschen gewählt hatten, als ihnen das Paradies nicht mehr genügte, bedeutet auch eine Versöhnung des göttlichen Wissens um Gut und Böse mit dem menschlichen Wissen von ihrer Unterscheidung. Damit ist nicht gesagt, dass der Gott nun ebenso wenig wie wir weiß, was gut und was böse ist. Diese Definitionsmacht gehört notwendig zum Begriff ‚Gott‘, wie ihn die Menschen verstanden haben, seit sie sich die ersten Vorstellungen von einem solchen Wesen machten. Aber nach der Großen Erzählung des Alten Testaments hatten sich die ersten Menschen dafür entschieden, sein zu wollen wie Gott und das Gute und das Böse zu wissen. Sie wurden zwar nicht wie Gott und sie erreichten auch kein solches Wissen. Aber sie fanden einen Gott, der eine Beziehung zu einer unvollkommenen Welt aufnahm und dem deshalb nicht mehr ‚alles gut‘ war, sondern der selbst die Unterscheidung vornehmen musste, die die ersten Menschen angestrebt hatten.

Der Gott nach dem Auszug der ersten Menschen aus dem Paradies war ein anderer geworden, der sich aus einer neuen Beziehung zu seiner Welt definierte. Er wurde zu einem Gott, der mit dem Guten und dem Bösen bekannt geworden war und nicht mehr ‚alles gut‘ finden konnte, sondern die Last des Wissens vom Guten und vom Bösen tragen musste. Die ersten Menschen waren zwar nicht wie Gott geworden, aber sie hatten ihren Gott verändert. Sie hatten auch in Bezug auf ihr Wissen nicht genau das erreicht, was sie angestrebt hatten. Es war ihnen nicht gegeben worden zu wissen, was gut und was böse ist. Aber auf eine andere Weise war dieses Wissen von nun an ständig bei ihnen. Es beherrschte sie so sehr, dass sie in die Geschichte eintreten und eine Entwicklung beginnen mussten, die sie Jahrtausende später zu einer neuen Großen Erzählung und dann bis zu der uns bekannten Welt führte. Dieses Wissen war bei ihnen in der Gestalt eines Mangels, der ihr Streben beherrschte. Das Gute und das Böse zu kennen war der Wunsch, der sie aus dem Paradies geführt hatte. In ihrer neuen Welt war dieser Wunsch nun auf Dauer gestellt und die bewegende Kraft auf ihren weiteren Wegen.

Die Ambivalenz des Wissens von Gut und Böse

Diese Beziehung zwischen einem Gott, der ein Verhältnis zu einer unvollkommenen Welt unterhält und deshalb das Gute und das Böse wissen muss, und den Menschen, die bis in ihr Innerstes durch die Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen angetrieben werden, ohne jemals zu einer endgültigen Entscheidung darüber gelangen zu können, verwandelt sich nun mit der Großen Erzählung des Christentums fundamental. Auch jetzt gelangen die Menschen nicht zu der Erfüllung des Verlangens, das sie aus dem Paradies getrieben hatte. Nicht nur werden sie auch jetzt nicht wie Gott, sie erreichen auch nicht das Wissen vom Guten und Bösen. Aber wie sich ihre Beziehung zu ihrem Gott fundamental veränderte, nachdem er Mensch geworden und sich mit ihnen gleich gemacht hatte, so verändert sich nun auch der Status des Nicht-Wissens vom Guten und Bösen. Sie wissen nun von sich und ihrer Welt, dass sie weder sich noch jener einen minderen Status zuschreiben müssen. Ihre Welt ist die Welt, in der der Gott als Gleicher unter ihnen lebte und starb. Als einer von ihnen verfügte er über das gleiche unvollkommene Wissen, und Gut und Böse waren ihm nur im Status des Nicht-Wissens gegenwärtig. Zwar hatte er Gebote vorgetragen, aber sie waren in menschlicher und geschichtlicher Sprache gesprochen und blieben deshalb Ansprüche, die nicht den Status eines Wissens beanspruchen konnten. Es ist bemerkenswert, wie sehr die ethischen Forderungen des Neuen Testaments auf das neue Verhältnis des Gottes zu den Menschen bezogen bleiben, und es ist bemerkenswert, wie wenig dieser Status in der folgenden Auslegungsgeschichte berücksichtigt wurde.

Weit bedeutsamer für die künftigen Versuche, zu einem Wissen vom Guten und Bösen zu gelangen, wurde der Neue Bund zwischen Gott und den Menschen, von dem die Große Erzählung des Christentums berichtet. Dieser Bund gründet auf der Menschwerdung des Gottes, mit welcher der Mensch ein neues Selbstverständnis gewinnt. Zu diesem Bewusstsein von sich selbst gehört auch ein neuer Bezug zu dem Wissen, das dem Menschen vom Guten und Bösen möglich ist. Nun kann das menschliche und stets unvollkommene Wissen beanspruchen, dasjenige Wissen zu sein, das einem Wesen möglich ist, dem sich der Gott so sehr gleich gemacht hat, dass er auf gleiche Weise geboren wurde und starb. Gerade weil es sich aber sowohl als Wissen dieses Wesens und in der Differenz zur göttlichen Kenntnis des Guten und des Bösen versteht, deshalb findet sich im Zentrum der westlichen Kultur eine Ambivalenz, die nur scheinbar eine Schwäche ist. In Wahrheit ist sie die Grundlage des Geistes, der zur machtvollsten Kultur der Weltgeschichte geführt hat. Der westliche Mensch weiß von nun an, dass er wissen kann.

Der Gedanke von einem Gott, der sich so weit entäußerte, dass er als Mensch geboren wurde und als Mensch starb, hat den Geist des Westens in seinem innersten Wesen geprägt. In den Kernländern dieser Kultur identifizieren sich heute nicht mehr sehr viele Menschen mit der Großen Erzählung, in der dieser Gedanke beschrieben wurde. Eine Kultur benötigt aber nie die bewusste Identifikation der Menschen, die von ihr geformt wurden. Sie kann ihre Macht noch lange ausüben, wenn der Glaube an die Große Erzählung, mit der sie begann, nur noch von einer Minderheit aktiv gelebt wird. Allerdings ist keine Kultur von ewiger Dauer. Niemand vermag zu sagen, ob der Niedergang des Christentums in den europäischen Kernländern des Westens der Anfang vom Ende der Kultur ist, die durch die Große Erzählung des Christentums und zuvor durch die Große Erzählung des Alten Testaments begründet wurde. Niemand weiß, welche Folgen die Verlagerung des christlichen Glaubens von den europäischen Kernländern weg nach Südamerika, Südasien und Afrika für die westliche Kultur nach sich ziehen wird. Im Zusammenhang der Frage nach dem Status der Unterscheidung zwischen dem Guten und Bösen für den Geist des Westens sind diese Veränderungen von geringer Bedeutung.

Die Großen Erzählungen des Alten Testaments und des Christentums haben sich so sehr in das Selbstverständnis des Westens eingegraben, dass der Niedergang des christlichen Glaubens in der europäischen Welt deren Geist nur wenig berührt. Dieses Selbstverständnis verbindet das Vertrauen in die Fähigkeit, das Gute vom Bösen unterscheiden und von beidem wissen zu können, mit dem Wissen um die Unvollkommenheit dieses Wissens und jener Fähigkeit. Das Bewusstsein dieser ausgezeichneten Fähigkeit und ihrer Schwäche geht auf den Gedanken eines Gottes zurück, der sich den Menschen gleich gemacht und als einer der ihren in ihrer Welt gelebt hat. Vom Guten und Bösen zu wissen und nicht zu wissen ist ein zentrales Bewusstsein im Geist des Westens. Es ist ein ambivalentes Bewusstsein, in dem sich dieser Geist demonstriert. Diese Ambivalenz geriet in der Geschichte dieser Kultur immer wieder in Vergessenheit, sie wurde verdunkelt und geleugnet. Die Geschichte des Westens ist auch eine Geschichte von Selbstgerechtigkeit und Hochmut in Bezug auf das, was gut und was böse heißen soll, und in ihr finden sich Organisationen und Vertreter des Glaubens, die die endgültige Definitionsmacht über das Gute und das Böse beanspruchten und Tod und Verderben über alle brachten, die an dieser Macht zweifelten.

Das Wissen, die Verzeihung und der Andere

Aber die Geschichte des Geistes des Westens ist nicht identisch mit der Geschichte einer bestimmten Religion, noch weniger mit bestimmten Erscheinungen innerhalb dieser Religion. Der Hochmut galt stets als eine der Kardinalsünden, aus denen alle anderen entspringen, und in der Großen Erzählung des Christentums steht auch die Warnung an jene, die richten, obwohl sie doch selbst gerichtet werden. Wichtiger aber ist, dass sich an zentraler Stelle eine Beschreibung des Verhältnisses zwischen den Menschen findet, die diese Erzählung für sich verbindlich machen wollen. Nach dieser Beschreibung sollen sie sich gegenseitig in einer Liebe begegnen, die Verzeihung ist. Dieses Verzeihen ist die Korrektur des Anspruchs, vom Guten und vom Bösen zu wissen. Das Liebesprinzip jener Erzählung demonstriert die Ambivalenz dieses Wissens auf eine Weise, die weit über den kognitiven Zweifel am Alleinvertretungsanspruch bestimmter Auslegungen des Guten und des Bösen hinausgeht. Dass Gottes Bodenpersonal zuweilen sehr ungnädig mit diesem Prinzip umgegangen ist, sagt wenig über dessen Bedeutung für den Geist des Westens aus. Das Liebesprinzip wäre jedoch um seine Kraft gebracht, würde man es auf eine Unverbindlichkeit des Nicht-Wissens um Gut und Böse reduzieren. Es entfaltet seine Bedeutung nur in der Ambivalenz zwischen dem Wissen, das einem Wesen möglich sein muss, dem Gott sich gleich gemacht hat, und dem Nicht-Wissen, das dem gleichen Wesen zugeschrieben werden muss, weil es weiter in der irdischen Welt und damit in der Differenz zu seinem Gott lebt.

Das Liebesprinzip und die Ambivalenz, die es in das Wissen vom Guten und Bösen einführt, könnten wir als die Grundlage verstehen, auf der die philosophische Erörterung dieser Unterscheidung und ihrer Bestimmung innerhalb der westlichen Kultur beginnt. Im Grunde baut die ganze westliche Philosophie – also alle Philosophie – ihre Gedankengebäude auf diesem Fundament. Sie hat nun die Erlaubnis gewonnen, innerhalb und außerhalb des theologischen Zusammenhangs vernünftig über das, was wir tun und lassen sollen, nachdenken zu können. Mit diesem Denken kann sie die Gewissheit verbinden, kein unverbindliches Spiel zu betreiben, das nur zum Zeitvertreib für die müßigen ‚happy few‘ dienen kann – und die griechische Philosophie kann man auch unter dieser Perspektive auffassen, obwohl sie sich freilich nicht in dieser Perspektive erschöpft. Aber die Suche nach einer denkerischen Bestimmung des Guten und Bösen hat nun eine andere Bedeutung gewonnen. Sie hat die Gewähr, dass es schon auf Erden Ernst ist mit dem Guten und dem Bösen, wie es durch menschliches Denken festgestellt werden kann. Was gewusst wird, gilt, denn es wird von Wesen gewusst, denen sich der Gott gleich gemacht hat.

Auf der anderen Seite aber findet sich in der Großen Erzählung des Christentums ebenso die ständige Korrektur dieses Anspruchs auf ein Wissen vom Guten und Bösen. Das Liebesprinzip des Neuen Testaments ist ja in erster Linie nicht ein Bestandsstück einer bestimmten Lehre, sondern ein Strukturelement der zentralen Geschichte, von der das Neue Testament berichtet. Der Gott hat sich nicht einfach zum Menschen gemacht, ohne ein bestimmtes Ziel damit zu verfolgen. Dieses Ereignis ist eingefügt in eine weitere Erzählung, die noch ungewöhnlicher ist und mit der sich das Christentum noch stärker von allen anderen Religionen unterscheidet. Dieser Erzählung zufolge ist der Gott Mensch geworden, um die Menschheit zu erlösen und auf der Grundlage dieser Erlösung einen Neuen Bund zwischen Gott und den Menschen zu schließen. Die Große Erzählung des Christentums berichtet also von einem Gott, der gewillt ist, seine Göttlichkeit aufzugeben um der Menschen und deren Erlösung willen. Gerade darin zeigt sich die Göttlichkeit des Gottes. Ein Gott, der für die Menschen stirbt, wäre kein möglicher Gedanke der Antike oder irgendeiner anderen Religion gewesen. Das Neue Testament berichtet also von einem Gott, der so sehr für die Menschen da ist, dass er sich nicht nur mit ihnen gleich macht, sondern sogar für sie als Mensch auf schmähliche und elende Weise zu sterben bereit ist. Erst jetzt und zum ersten und einzigen Mal in der Geschichte ist der Gott der Gott der Menschen.

Eine solch revolutionär neue Perspektive musste auch die Wahrnehmung des anderen Menschen verändern. Er ist von nun an nicht mehr nur der Mensch, dem sich der Gott gleich gemacht hat und der schon deshalb einen Respekt verdient, der ihm durch seine zeitweilige Gleichheit mit dem geborenen und gestorbenen Gott zukommt. Er ist auch der Mensch, für den der Gott geboren wurde und starb, damit jener Erlösung finden konnte. Wir müssen diese Erzählung nicht im Einzelnen als für uns gültig anerkennen, um die Bedeutung für das Selbstverständnis des Westens zu sehen. Wieder zeigte sich die Veränderung nicht so sehr an der konkreten Behandlung des anderen Menschen. Auch die Geschichte der christlichen Zeit ist eine Folge von Machtstreben, Unterdrückung und Grausamkeit. Wir sollten von den Großen Erzählungen der Menschheit keine Wunder erwarten und ihren Einfluss nicht überschätzen. Aber der Geist des Westens war nun durch eine andere Perspektive auf die Bedeutung des anderen Menschen geprägt.

Dieser neue Blick ging von nun an in die Geschichte von Gut und Böse ein. Auch diese Veränderung im Selbstverständnis der Menschen des Westens trug dazu bei, dass die Gewissheit der Möglichkeit eines Wissens um Gut und Böse durch den fruchtbaren Zweifel an jeder Sicherheit des Wissens korrigiert wurde. Nach der Großen Erzählung des Christentums konnte auch die Philosophie nicht mehr sicher sein, dass ihre Gewissheiten tatsächlich für alle Menschen wahr sein müssen. Auch die Berufung auf die eine Vernunft fand nun eine prinzipielle Grenze. Diese Grenze war der andere Mensch, der nach der Großen Erzählung des Christentums nicht nur durch das Liebesprinzip grundsätzlich in seiner Andersheit gerechtfertigt war. Er stellte auch deshalb eine Grenze für alle Erörterungen über Gut und Böse dar, weil sich ihm der Gott so sehr gleich gemacht hatte, dass er sogar für ihn geboren wurde und gestorben war.

Die Große Erzählung des Christentums, die die Große Erzählung des Alten Testaments auf eine bestimmte Weise fortsetzt und korrigiert, enthält damit eine Ambivalenz, die den Geist des Westens fortan prägte. Auf der einen Seite stand die Sicherheit des Wissens vom Guten und Bösen, die den Menschen selbstverständlich werden konnte, die in dem Bewusstsein lebten, dass sich der Gott ihnen gleich gemacht hatte. Auf der anderen Seite fand gerade diese Sicherheit eine Grenze im anderen Menschen, der nun bewusst wurde als jemand, für den der Gott in gleicher Weise Mensch geworden und für dessen Erlösung er in gleicher Weise gestorben war. Eine Ambivalenz ist keine statische Konstellation. Es kann immer versucht werden, sie nach der einen oder der anderen Seite aufzulösen. Die Geschichte der Auffassungen vom Guten und Bösen in der abendländischen Kultur können auch als Versuche zu einer solchen Auflösung gedeutet werden. Allerdings gibt es kaum einen Ansatz, der die Ambivalenz radikal beseitigen wollte. Die wichtigen und folgenreichen Positionen enthielten stets beide Seiten, deren Gewicht jedoch verschieden bestimmt wurde.

Der Geist des Westens

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