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1. Kultur und Geist des Westens
ОглавлениеDer Westen als Kultur und Wertsystem?
Viele Jahrhunderte lang konnte sich der Westen als die allein maßgebliche Kultur verstehen. In der Bedeutung von ‚Hochkultur‘ galt schon der Begriff der Kultur als eine Auszeichnung des Abendlandes, und deren Fehlen bei anderen Völkern und in anderen Kontinenten wurde als Beweis für die Überlegenheit Europas genommen. Aber auch wenn der Begriff der Kultur anders gebraucht wurde und eine bestimmte Einheitlichkeit von Formen des Lebens und des Zusammenlebens bezeichnete, so wurden die anderen Kulturen doch in der Regel als mindere Formen der eigenen Lebensweise aufgefasst. Eine Anerkennung als ‚Hochkultur‘ fanden allenfalls noch die arabische Welt sowie die chinesische und japanische Kultur. Die Beschäftigung oder gar die Auseinandersetzung mit diesen ‚fremden Kulturen‘ war jedoch ein weitgehend folgenloser Randbereich des europäischen Denkens und fand in erster Linie im engeren Bereich der Kultur als Kunst und Wissenschaft statt. Die außereuropäischen Kulturen erforderten auch keine besondere Aufmerksamkeit. Die Kontakte blieben auf Randbereiche beschränkt. Dass jene Kulturen das Selbstverständnis des Abendlandes in Frage stellen könnten, war kein vorstellbarer Gedanke.
Diese Situation hat sich inzwischen fundamental verändert. Dies hängt auch mit der Ausweitung des Kulturbegriffes durch verschiedene Geistes- und Sozialwissenschaften zusammen. Aber wirkungsmächtiger ist die in wenigen Jahrzehnten vollzogene Globalisierung unserer Welt geworden. Globalisierung ist nicht nur ein ökonomischer Vorgang, der auf der politischen Ebene zu einer Herausforderung für die Steuerungsmöglichkeiten des Nationalstaates und die demokratische Selbstbestimmungsfähigkeit der westlichen Länder geworden ist. Globalisierung ist auch der Vorgang, in dem die europäisch-amerikanische Welt das Bewusstsein ihres Alleinvertretungsanspruches als Weltkultur verlieren musste. Diese Entwicklung verlief im Vergleich zu den Zeiträumen, die Jahrhunderte lang fundamentale geschichtliche Ereignisse benötigten, mit einer solchen Geschwindigkeit, dass die Verarbeitung der Folgen für unser Selbstverständnis und für unser Selbstbild gerade erst begonnen hat. In vielen Bereichen wurde überhaupt noch nicht zur Kenntnis genommen, was es bedeutet, dass eine Kultur, die sich in einer langen Abfolge von Generationen als die Kultur verstehen konnte, nun damit fertig werden muss, sich selbst nur noch als eine Kultur unter anderen mit gleichen Rechten auffassen zu können.
Je stärker sich ein Funktionsbereich des gesellschaftlichen Zusammenlebens durch technische Rationalität definieren kann und sich instrumentellen Handlungszwängen ausgesetzt sieht, desto einfacher ist eine solche Umstellung zu bewältigen. Die Ökonomie kann sich an den veränderten Bedingungen der Kapitalverwertung orientieren und sich auf solche notwendigen Umstellungen im Selbstverständnis beschränken, die sich auf die Prozesse der Produktion und Vermarktung von Gütern und Dienstleistungen beziehen. Internationales Marketing erfordert zwar neue Fähigkeiten auf dem Gebiet der kulturellen Kompetenz, aber diese Veränderungen sind durch die Bedingungen des Markterfolgs vorgegeben und deshalb in ihrem Umfang beschränkt. In vielen Bereichen der staatlichen Politik gilt Ähnliches. Handlungsbereiche wie Wirtschafts- und Außenpolitik können sich darauf beschränken, ihre Kompetenzen um geopolitische Perspektiven und Kenntnisse zu erweitern. Auch dort, wo sich globale Herausforderungen im innerstaatlichen Bereich in veränderte Bedingungen des Wirtschaftens umsetzen, kann sich die instrumentelle Vernunft an vorgegebene Reaktionsverläufe halten, die sich nicht prinzipiell von denen unterscheiden, die durch intern erzeugte Problemlagen erfordert werden. Die Handlungsmöglichkeiten der Angebots und/oder Nachfragepolitik sind prinzipiell die gleichen, ob es sich um endogene Strukturprobleme oder exogene Folgen der Globalisierung handelt.
Das Selbstverständnis des Westens gerät jedoch dort in Probleme, wo die technische Rationalität nicht ausreicht, um Handlungsmöglichkeiten vorzugeben und zweckmäßig unter ihnen zu wählen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn sich Alternativen überhaupt nicht daraus ableiten lassen, dass geeignete Mittel für gegebene Zwecke gesucht werden, sondern die Bestimmung der Zwecke selbst eng mit dem Selbstverständnis des Westens verflochten ist und entsprechend durch dessen Veränderungen beeinflusst wird. Mit den Folgen der ökonomischen und politischen Globalisierung konnte Deutschland sehr schnell und sehr effizient umgehen. Die Folgen der Migration aus anderen – nicht-westlichen – Kulturen dagegen sind bisher noch kaum verstanden. Deshalb reagiert die Politik so hilflos bemüht mit dem Repertoire ökonomischer und ordnungspolitischer Eingriffe, wenn einzelne Folgeprobleme von der politischen Öffentlichkeit nicht mehr länger ignoriert werden können. Aus dem gleichen Grund dauerte es so lange, bis das Problem der Migration endlich als kulturelles Problem zum Thema einer Auseinandersetzung werden konnte, die allerdings immer noch unangemessen verengt geführt wird.
In dieser Situation sind zwei Leitbegriffe für die Diskussion bestimmend geworden, die in einem engen Zusammenhang stehen. Die Veränderungen im Selbstverständnis des Westens in einer globalisierten Welt werden als Herausforderungen an eine ‚Kultur‘ des Westens verstanden, die sich durch ‚Werte‘ definiert. Die Aufgabe wird dann darin gesehen, diese Kultur zu verteidigen, indem man ihre Werte rekonstruiert und rechtfertigt. Der Begriff der Werte weist in dieser Perspektive darauf hin, dass eine Kultur nicht nur aus einem Zusammenhang solcher Vorstellungen besteht, mit denen Menschen gemeinsam ihr Leben in der Welt verstehen, sondern auch aus gemeinsamen Handlungsorientierungen. Die Identität in einer Kultur ist nicht nur eine theoretische, sondern auch eine ‚praktische‘, d. h. sie bezieht sich auf ein Handeln, das durch technische Mittel-Ziel-Beziehungen allein nicht ausreichend bestimmt werden kann. Man könnte als Kultur also eine bestimmte Disposition zum Handeln verstehen, die sich von anderen Dispositionen unterscheidet, wenn sich beide auf vergleichbare Situationen beziehen.
Wenn auf die westliche Kultur Bezug genommen wird, so dient der Begriff der ‚Werte‘ in der Regel dazu, in der politischen Diskussion anwendbare Konzepte zu finden, die diese Kultur konkretisieren. ‚Kultur‘ wird dann als ein Sinnsystem aufgefasst, das konkrete und formulierbare Bedeutungen und Bewertungen enthält. ‚Werte‘ sind die Grundlagen solcher Handlungsweisen und Verhaltenstendenzen, durch die sich eine Kultur von einer anderen unterscheidet. Sie können in Institutionen gelernt und von Generation zu Generation weitergegeben werden. Deshalb bieten sie eine gemeinsame Verständigungsgrundlage, auf die die Mitglieder einer Kultur verpflichtet werden können. Bei Menschen, die gleiche Werte haben, können wir uns relativ sicher darauf verlassen, dass sie im Normalfall wissen, was ‚man‘ tut. Auf diese Weise bilden sie das Gerüst für eine Identität, durch die sich die Angehörigen einer Kultur dadurch erkennen können, dass sie sich selbst und andere nach ähnlichen Mustern beschreiben und interpretieren.
Zweifel
Durch die Konzentration auf die Begriffe der ‚Kultur‘ und der ‚Werte‘ wird die Welt, die in den vergangenen zweieinhalb Jahrtausenden in Europa und von Europa ausgehend in Amerika entstanden ist, nur in der Verzerrung einer Karikatur erkennbar. Der Begriff der Kultur kann unter Umständen noch so erweitert und umformuliert werden, dass er zur Bestimmung des Besonderen des Westens herangezogen werden kann. Der Begriff der Werte dagegen ist prinzipiell nicht geeignet, die Identität des Westens zum Ausdruck zu bringen. Er kann auch nicht zur Selbstbehauptung des Westens gegen andere Kulturen und Welten beitragen. Er ist darüber hinaus nicht in der Lage, eine Politik anzuleiten und zu begründen, die nicht nur mit neuen Herausforderungen von außen umgehen können muss, sondern auch mit noch kaum verstandenen Veränderungen im Inneren eines Landes, das mehr und mehr durch Migranten aus anderen Kulturen und Denkwelten geprägt sein wird.
Die Begriffe der Kultur und der Werte sind gleichzeitig zu allgemein bzw. abstrakt und zu konkret, um das Besondere der Welt des Westens ausdrücken zu können.
Sie sind zu allgemein, weil sie sich auf Gedanken und Dispositionen beziehen, die alles oder nichts bedeuten können. ‚Demokratie‘, ‚Toleranz‘, ‚Solidarität‘ und der ‚Wert des Individuums‘ sind Propagandabegriffe, die von allen totalitären Regimen verwendet werden, die Andersdenkende verfolgen, sozialen Ausgleich als Werk des Teufels ablehnen und den einzelnen Menschen nur als Rad im Getriebe des Apparates wahrnehmen wollen. Mit solchen Werten ist nicht nur kein Staat mehr zu machen, der in die Welt des Westens passen könnte. Sie reichen auch nicht aus, um das Besondere dieser Welt auf Begriffe bringen zu können. Wir werden in den folgenden Erörterungen jedoch darüber hinaus die Frage stellen, ob das, was den Westen ausmacht, überhaupt sinnvoll auf einzelne bestimmte Begriffe gebracht werden kann. Auch unter diesem Gesichtspunkt sind die Begriffe der Kultur und der Werte zu allgemein und zu abstrakt.
Diese Begriffe sind jedoch gleichzeitig zu konkret, um das Besondere des Westens umschreiben zu können. Das Phänomen, das wir als ‚den Westen‘ bezeichnen können, wird damit so radikal vereinfacht verstanden, dass es nur noch als Karikatur erscheinen kann. Der Westen besteht nicht aus einem gegebenen Set von Bedeutungen und Bewertungen, er besteht auch nicht aus einem Werkzeugkasten von Interpretationsanleitungen. Die Begriffe ‚Kultur‘ und ‚Werte‘ sind also zunächst deshalb zu konkret, weil sie den Westen auf einem zu niedrigen Niveau auffassen. Der Westen wird damit gewissermaßen auf Grundschulniveau bestimmt. Eine so einfach strukturierte Weltsicht ist nicht fähig, eine Selbstverständigung und Selbstbesinnung zu ermöglichen, die Grundlage einer Selbstbehauptung des Westens sein könnte. Auf diesem Niveau geschieht eine Implosion dessen, was wir als ‚Westen‘ bezeichnen können, und übrig bleiben einfache und tote Begriffe, mit denen allenfalls noch parteipolitische Kämpfe ausgefochten werden können.
Die Begriffe ‚Kultur‘ und ‚Werte‘ sind darüber hinaus deshalb zu konkret, weil mit ihnen eine geschichtliche Kurzsichtigkeit und ein geistesgeschichtlicher Gedächtnisverlust verbunden sind, die den Westen auf letztlich zwei Jahrhunderte gedanklicher und politischer Entwicklungen reduzieren. Was wir ‚den Westen‘ nennen dürfen, reicht jedoch viel länger zurück und kommt aus weiterer Vergangenheit. Der Westen beginnt mit der jüdischen Erzählung von der Erschaffung der Welt, er beginnt mit dem Entstehen eines autonomen Denkens in den griechischen Stadtstaaten, und er beginnt mit der christlichen Erzählung von der Menschwerdung Gottes. Entwicklungen wie die Aufklärung und deren politische Folgeerscheinung in der Französischen Revolution bleiben vollkommen unverstanden, wenn diese Geschichte nicht berücksichtigt wird.
Die Begriffe ‚Kultur‘ und ‚Werte‘ sind schließlich deshalb zu konkret, weil damit die umfassendere Dimension ausgeblendet wird, die erst den Westen als eine bestimmte Welt in der Entwicklung der Menschheit erkennbar werden lässt. Es wird die Dimension ausgeblendet, die erst verstehen lässt, welcher Stellenwert Interpretationen und Handlungsdispositionen, Bedeutungen und Werten für die Bestimmung einer Welt zukommt, von der als von ‚dem Westen‘ gesprochen werden kann. Solche Begriffe setzen immer schon zu viel voraus. Wer sie verwendet, nimmt an, dass die Kriterien für die Bestimmung einer Kultur unabhängig von dieser Kultur in der Welt vorhanden sind wie Steine oder Bäume. Von ‚Kulturen‘ und von ‚Werten‘ zu reden ist aber ein voraussetzungsvolles Unternehmen, das gerade und nur in der Welt des Westens möglich geworden ist.
Die Rede von ‚Kultur‘ und ‚Werten‘ ist also auch deshalb zu konkret, weil mit ihr gerade die Reflexion auf die Voraussetzungen eines Denkens ausgeblendet wird, die für die westliche Welt von so fundamentaler Bedeutung ist. Wer den Westen mit jenen Begriffen verstehen will, konzentriert sich auf einen schmalen, verengten, abstrakten und reflexionsarmen Gedanken, der selbst nur auf der Grundlage der umfassenden Welt des Westens entstehen konnte. Die Welt, aus der diese Begriffe kamen, kann aber selbst nicht mit solchen Begriffen verstanden werden, die sie zu bestimmten Zwecken und deshalb mit geringer Reichweite entwickelt hat. Die westliche Welt hat sich entschlossen, mit solchen Begriffen bestimmte Phänomene zu verstehen, um sie innerhalb dieser Welt ordnen und in gedankliche Fächer sortieren zu können. Das Ordnungs- und Verständnisprinzip dieser Einteilung in Fächer selbst kann damit nicht zum Verständnis kommen.
Der ‚Geist‘ des Westens
Es muss deshalb ein besserer Begriff für die Identität des Westens gefunden werden, die ihn prägt und leitet, und durch den das, was den Westen ausmacht, sich von anderen Identitäten unterscheiden und abgrenzen lässt. Ein solcher Begriff darf vor allem nicht die Geschichte der langen Entwicklung abblenden, in der die komplexe Identität geworden ist, die wir heute als ‚Westen‘ bezeichnen können. Er darf auch nicht die vielen Widersprüche überdecken, die diese Geschichte geprägt haben. Es würde zu einem ungenügenden Verständnis führen, wenn der Westen als ein zu einheitliches Phänomen aufzufassen versucht wird. Dieser Begriff muss es erlauben, eine Identität in Widersprüchen und im Zusammenhang komplexer Gedanken zum Ausdruck zu bringen. Das Phänomen, das wir als ‚den Westen‘ bezeichnen können, ist zu komplex, als dass es durch ein einheitliches und begrifflich klar abgrenzbares Prinzip bestimmt werden könnte, aus dem sich die einzelnen Elemente auf eine einheitliche Weise ableiten ließen. Es bietet sich deshalb an, statt von der ‚Kultur‘ oder den ‚Werten‘ des Westens vom ‚Geist des Westens‘ zu sprechen.
Der Ausdruck ‚Geist‘ hat sich in der deutschen Sprache für das eingebürgert, was am Beginn des abendländischen Denkens ‚pneuma‘ hieß und dann als ‚spiritus‘ ins Lateinische übersetzt wurde. Die romanischen Sprachen haben dieses Wort abgewandelt beibehalten, und im Englischen entspricht der Ausdruck ‚spirit‘ ziemlich gut dem, was in unserem Zusammenhang mit ‚Geist‘ gemeint ist. Ursprünglich war damit der Hauch bzw. der Atem benannt worden, was bald übertragen wurde auf das ‚Lebensprinzip‘ oder auch die immaterielle ‚Seele‘. Wir sehen für unsere Erörterungen jedoch von der philosophischen Begriffsgeschichte ab und verwenden den Ausdruck in dem Sinn, in dem er in den europäischen Sprachen geläufig wurde. Darin ist die ursprüngliche Bedeutung gut bewahrt. Der Geist ist der ‚belebende Atem‘ oder der ‚Lebensodem‘, man könnte auch sagen: die ‚Seele‘ eines komplexen Zusammenhangs. Es geht dabei also nicht um die Details, sondern um die gedankliche ‚Seele‘, die viele und sogar disparate Gedanken zusammenhalten und am Leben erhalten kann.
Wenn wir vom ‚Geist des Westens‘ sprechen, dann in dem Sinn, in dem wir den Ausdruck in Wendungen wie ‚der Geist eines Volkes‘ oder ‚der Geist der Gesetze‘ verwenden. Gemeint ist dann der ‚Sinn‘, der die einzelnen Regeln der Gesetze prägt und ohne den sie zu toten Buchstaben werden, die schematisch eingesetzt werden, und, wenn nur auf ihren Wortlaut geachtet wird, geradezu zu Entscheidungen führen können, die ihrem Sinn widersprechen. Der Geist eines literarischen Kunstwerks ist dasjenige, woran sich der Übersetzer halten kann, wenn er vor der Frage steht, wie einzelne Ausdrücke und Sätze in eine andere Sprache übertragen werden sollen. Wir könnten sogar an den Begriff der ‚Lebensgeister‘ denken, der ursprünglich aus der griechischen Medizin stammt und eine Übersetzung von Ciceros ‚spiritus vitales‘ darstellt. Der hier gemeinte Geist ist nicht passiv, sondern dasjenige, was das Leben in einem komplexen Zusammenhang erhält.
Wenn der Geist des Westens verdeutlicht werden kann, dann lässt sich auch genauer erkennen, unter welchen Umständen man davon sprechen könnte, dass der Westen ‚seinen Geist aufgibt‘, also sein Lebensprinzip verliert und ohne belebendes Wesen zu einem ‚Zombie‘ wird – zu etwas nur noch scheinbar Lebendigem, aber eigentlich doch ‚Untotem‘. Dazu kann eine Bedeutung beitragen, die in ‚Geist‘ auch enthalten ist, nämlich ‚Gesinnung‘ oder ‚Einstellung‘. Der Geist des Westens ist auch eine bestimmte Tendenz, wie man die Fragen des Lebens und die Probleme mit der Welt angeht und sich ihnen stellt. Solange der Geist des Westens im Sinne einer ‚Lebenseinstellung‘, die ein Verhalten zum Leben und aus dem Leben bedeutet, erhalten ist, solange wird dieser Geist lebendig sein. Man könnte hier auch an ein Bedeutungselement denken, das im englischen ‚spirit‘ noch lebendig ist, nämlich ‚Mut‘ oder ‚Elan‘. Schließlich bedeutet ‚spirit‘ auch die ‚richtige‘ Stimmung und Einstellung, die von der Situation gefordert ist, wie etwa in ‚that’s the spirit!‘
Der Geist als das, was eigentlich lebendig macht und über die Buchstaben und die Details hinaus den Sinn einer Sache darstellt, wurde bereits am Beginn des abendländischen Denkens jedoch nicht nur generell als eine ‚Stimmung‘ und ‚Einstellung‘ aufgefasst. Der Begriff des Geistes stand in enger Verwandtschaft zu Verstand und Vernunft. Der griechische Ausdruck für Vernunft bzw. Verstand (‚nous‘) wurde oft gerade mit ‚Geist‘ übersetzt. Dies führte schließlich bei Descartes dazu, von ‚Geist‘ im Singular zu sprechen und als ‚einen Geist‘ ein ‚Ding‘ anzusprechen, das denkt, mit anderen Worten: ‚ein Geist‘ war nun der vernunftbegabte Mensch. Diese Bedeutung ist heute noch lebendig, wenn wir einen Menschen etwa als ‚geistvoll‘ oder ‚geistreich‘ bezeichnen. In diesem Sinne ist im Begriff des Geistes stets auch die schöpferische Intelligenz enthalten. Geist erscheint hier als ergänzender Begriff zu ‚Materie‘. Diese Bedeutung findet sich etwa auch in der christlichen Vorstellung von einem ‚heiligen Geist‘ als dritter Person der Gottheit.
Damit sind zwei Momente im Begriff des Geistes deutlich geworden, die ihn geeignet erscheinen lassen, um mit seiner Hilfe das Phänomen ‚der Westen‘ über seine geographische Bedeutung hinaus besser verstehen zu können, als dies unter den Titeln der ‚Kultur‘ oder der ‚Werte‘ gelingen könnte. Der ‚Geist‘ ist eine Stimmung oder Einstellung, die den Sinn einer Sache über den toten Buchstaben hinaus lebendig macht. Damit gewinnt diese Sache ein Leben, das aus Mut und Elan die richtige Einstellung erschafft. Der ‚Geist‘ ist aber all dies gerade deshalb, weil er ebenso Verstand und Vernunft in sich enthält. Wir können nur schwer und nur in übertragenem Sinn von einem Geist sprechen, der ein Bienenvolk oder eine Vogelschar erfüllt. Den Sinn gewinnt eine Sache nicht durch ihre materielle Struktur, sondern durch das Denken, das sie begreift. Ihr Geist ist sozusagen stets über sie hinausgegangen, um über diesen Umweg zu ihr zurückzukehren. Darin findet sie ihren Begriff, der sie zu einer verstehbaren und denkbaren Sache macht.
Der Geist und die Geister
Wir haben oben schon auf Descartes und seine Bestimmung des Menschen als ‚Geist‘ im Sinne eines denkenden Wesens hingewiesen. Wenn wir vom ‚Geist des Westens‘ sprechen, so scheinen auf den ersten Blick darin aber keine Individuen vorzukommen. Das ist jedoch ein Missverständnis, das nur geschehen kann, wenn wir den Geist als ‚Substanz‘ auffassen, die ein Eigenleben in einer Welt reiner Ideen führt. Aber der Geist ist nichts ohne die Menschen, die ihn erzeugen, formen und stets neu gestalten. Das kann jedoch andererseits nicht heißen, dass der Geist von den Entscheidungen einzelner Menschen abhängt, von denen er planvoll und gezielt hergestellt wird, wie man eine Ware oder eine Dienstleistung für den Markt produziert. Aber auch die umgekehrte Vorstellung entspricht nicht dem, was unter ‚Geist‘ verstanden werden sollte. Es ist keineswegs so, dass der Geist der Produzent ist, der sich in den denkenden Menschen nur darstellt und bestimmt, wie er erscheinen will und soll.
Beide Vorstellungen folgen dem Schema eines Dualismus von Subjekt und Objekt. Danach gibt es entweder eine quasi-objektive geistige Welt, die sich in den Köpfen denkender Menschen widerspiegelt, oder es gibt nur Subjekte, die die geistige Welt aus der Tiefe ihres Inneren heraus erschaffen, ohne auf etwas anderes Bezug zu nehmen als ihre individuelle Genialität. Beide Vorstellungen haben mit der Wirklichkeit der Entwicklung des Geistes wenig zu tun. Der Geist in der oben skizzierten Bedeutung entwickelt sich nicht in der Form eines solchen Dualismus, sondern als eine ‚Dualität‘, d. h. in einem Prozess, in dem subjektive und objektive Faktoren so ineinander greifen, dass sie letztlich nur gewaltsam getrennt werden können. Es gibt im Geist weder eine feste und bleibende Struktur noch die Produkte einzelner großer Geister, die die Elemente, durch die sich der Geist des Westens auszeichnet, durch ihre Einfälle in die Welt bringen.
Man könnte auch in Bezug auf den Geist des Westens deshalb von einem Prozess der ‚Strukturierung‘ sprechen. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass die Strukturen des Geistes ebenso durch das Denken von Menschen erzeugt werden, wie dieses Denken durch die Strukturen des Geistes bestimmt wird. Wenn wir nur die eine Seite sehen, so nehmen wir eine Abstraktion vor, die in manchen Fällen hilfreich sein kann, die aber zum Verständnis des Entwicklungsprozesses im Geist des Westens nur wenig beitragen kann. Der einzelne Denker nimmt das auf, was er in den geistigen Strukturen vorfindet und setzt sich damit kritisch auseinander. Indem er das tut, wird er abhängig von dem, was er kritisiert. Hegel hat hier von ‚bestimmter Negation‘ gesprochen, womit gemeint ist, dass wir nie abstrakt einfach kritisieren, sondern stets etwas Bestimmtes kritisieren. Das Ergebnis dieser Kritik bleibt deshalb von den bestimmten Gedanken abhängig, in deren Kritik gerade dieses Ergebnis erreicht wurde.
Damit ist nicht gesagt, dass der einzelne Denker keine individuelle und kreative Leistung vollbringt. Auch der Weg des Geistes des Westens ist durch viele geniale Einfälle und schöpferische Entwürfe bestimmt. Die Genialität und die kreative Kraft wären jedoch ins Leere gelaufen, hätten sie nicht Widerstände vorgefunden, an denen sie arbeiten und so das Neue bilden hätten können. Deshalb bleibt das Neue aber auch durch eben diese Widerstände bestimmt. Wären die kritisierten Gedanken und Vorstellungen anders gewesen, so wäre im Durchgang durch die Kritik ein anderes Neues entstanden, ohne dass die Individualität und Kreativität des einzelnen Denkers eine andere hätte sein müssen. Im Grunde wird damit nur der ganz einfache Sachverhalt beschrieben, dass kein Denker ohne den vorgefundenen Geist seiner Zeit hätte denken können. Er hätte diesen Geist auch nicht weiterentwickeln können, wäre er nur auf die Vorstellungswelt seines Inneren angewiesen gewesen. Niemand hätte ihm in diesem Fall zugehört. Die Voraussetzung für die Bedeutung eines Denkers ist es, dass er seine neuen Ideen an den gegebenen Entwicklungsstand des Geistes anschließen kann. Dies kann in der Form schärfster Kritik geschehen. Auch Kritik ist eine Form, sich an das geltende Denken anzuschließen.
Die größten Geister schließen sich am stärksten an den Geist an, den sie kritisieren. Dies hängt damit zusammen, dass sie am tiefsten mit diesem Geist vertraut geworden sind und ihn deshalb in seinem Zentrum angreifen können. Gerade weil sie ihn dort auffassen, wo er am ‚dichtesten‘ ist, können sie wirkungsmächtige neue Ideen entwickeln, die den Geist verändern, weil ihre Urheber ihn auf seiner eigenen Höhe kritisieren konnten. Sie können ihn aber nur deshalb verändern, weil sie sich durch ihn verändern ließen. Hätten sie auf ihrer Individualität beharrt und sich nicht in eine Entsprechung zu dem gebracht, was im Geist des Westens galt, wären sie nicht in der Lage gewesen, ihn zu verändern. Nur weil sie sich an ihn angepasst hatten, waren sie in der Lage, ihn in einem mehr oder weniger großen Ausmaß an sich anzupassen. Das Beharren auf einer abgeschlossenen Subjektivität ist nicht der Weg des Geistes des Westens. Aber dieser Geist existiert auch nicht in einer Welt für sich, sondern nur in der Welt der ‚Geister‘, die sich ihm anpassen, um ihn an sich anzupassen und auf diese Weise zu verändern. Subjektivismus wie Objektivismus sind keine Begriffe, die den Entwicklungsprozess des Geistes des Westens beschreiben könnten.
Deshalb können wir den Geist des Westens am besten und am deutlichsten erkennen, indem wir die Auseinandersetzung großer Geister mit diesem Geist rekonstruieren. In deren gedanklichen Entwürfen hat sich nicht nur ihre Individualität zum Ausdruck gebracht. Ebenso hat sich dieser Geist darin mit eben diesen Geistern auseinandergesetzt, die ihn kritisiert und verändert haben. Nur deshalb konnten sie darin auch ihre individuelle Kreativität zur Geltung bringen. Die Gedankengänge der großen Denker zeigen die Anschlussstellen, an denen sie ihre Ideen in eine Auseinandersetzung mit dem Geist des Westens bringen konnten. Im Grunde ist dies die einzige Darstellungsmöglichkeit des Geistes des Westens, die ihn in seiner Entwicklung und inneren Lebendigkeit zeigt. Wir haben oben schon darauf hingewiesen, dass der Geist des Westens keine Zusammenstellung einfacher Begriffe ist. Er ist auch kein System, in dem sich alle Elemente nach einem einheitlichen Prinzip aufeinander beziehen ließen. Er ist die Geschichte seines Werdens, in der die großen Geister sich an ihn angepasst haben, um ihn kritisieren, verändern und weiterentwickeln zu können.
Die folgende Untersuchung über den Geist des Westens wird deshalb zwölf Positionen aus der Geschichte des philosophischen Denkens über das Gute und das Böse, über das gute Leben und das richtige Handeln, also über das, was wir tun und lassen sollen, daraufhin untersuchen, wie sie den Geist des Westens bestimmt haben. Es wird nun nicht mehr das Missverständnis möglich sein, damit werde behauptet, diese zwölf Denker hätten den Geist des Westens geschaffen. Die Behauptung lautet auch nicht, dieser Geist habe im Sinne eines Subjekts sich diese gedanklichen Konzeptionen erschaffen, um sich in ihnen darstellen zu können. Er hat sich in diesen Gedankengängen entwickeln können, weil diese sich an ihn angeschlossen hatten, um ihn gestalten und verändern zu können. Auf diese Weise wird deutlich, woran sie sich jeweils angeschlossen haben. Dieses Verständnis der Entwicklung des Geistes des Westens bietet eine einzigartige Möglichkeit, ihn so zu verdeutlichen, dass er nicht weit unter seinem Niveau verstanden werden muss.
Jedes Unternehmen, den Geist des Westens zu verdeutlichen, stellt selbst einen Anschluss an diesen Geist dar. Er kommt darin nur zum Ausdruck, wenn es ihm auf der entsprechenden Höhe begegnet. Deshalb werden die zwölf philosophischen Positionen, aus denen dieser Geist deutlich werden kann, im Folgenden nur so weit vereinfacht dargestellt, wie es für ein angemessenes Verständnis noch gestattet erscheint. Es wurde darauf verzichtet, sie auf Schlagworte zu reduzieren. Der Geist des Westens lebt nicht aus ‚schlagenden Worten‘, sondern aus subtilen Gedankengängen und Auseinandersetzungen, die nachvollzogen werden müssen, um die Höhe und die Besonderheit dieses Geistes verdeutlichen zu können.
Die für diese Verdeutlichung herangezogenen zwölf Denker sind nicht als Mitglieder einer Jury im angelsächsischen Strafprozess zu verstehen, die nur einstimmig zu einer Entscheidung kommen kann. Der Geist ist nicht in der Einheit einer Stimme, sondern in der Vielheit der Stimmen, die ihn bestimmen. Deshalb werden zwölf sehr verschiedene Denker herangezogen. Sie haben im Grunde nur zweierlei gemeinsam: es sind die wichtigsten Philosophen des Abendlandes, was die Frage nach der Bestimmung der Unterscheidung zwischen Gut und Böse betrifft, und sie haben den Geist des Westens an zentraler Stelle mitgeformt. Er konnte in ihnen je verschieden und in einem bestimmten Moment zur Darstellung kommen, weil sie ihn auf seiner jeweiligen Höhe aufgenommen und kritisch untersucht haben. Deshalb konnten sie ihn verändern, indem sie ein wichtiges Moment verstärkten oder ihm eine neue Bedeutung verschafften. Der ‚Westen‘ ist kein einzelner Gedanke, sondern ein Gedankenzusammenhang – ein sehr komplexer Zusammenhang verschiedener Gedanken. Diese sind nicht immer einheitlich, dennoch bilden sie einen Zusammenhang, den wir als ‚den Westen‘ bezeichnen können.
Damit soll nicht behauptet werden, die dargestellten Denker hätten einen vorhandenen Geist nur unter bestimmten Perspektiven betrachtet, indem sie sich auf bestimmte Ausschnitte konzentrierten. Sie haben den Geist des Westens auch geschaffen – um den Preis, dass er sie als Denker erschaffen konnte. Wir könnten dieses Verhältnis auch paradox so formulieren: sie haben ihn nachträglich so geschaffen, wie er schon immer war. Nachdem sie sich mit ihm auseinandergesetzt hatten, war er nicht mehr der Gleiche. Aber gleichzeitig war die Bedingung für ihre Wirkung, dass sie etwas in ihm gefunden hatten, was schon immer galt, obwohl wir eben dies gerade erst im Durchgang durch diese Denker erkennen können. Wir könnten auch sagen: sie hatten etwas in diesem Geist erfunden. Wir könnten aber auch sagen: nach den Gedankengängen dieser Geister war der Geist des Westens für die nach ihnen Kommenden schon vorher ein anderer als für die denkenden Menschen, die vor ihnen gelebt hatten. Auch die Auffassung vom Geist des Westens verändert sich mit der Entwicklung dieses Geistes. Damit zeigt sich auch auf der Ebene unserer Wahrnehmung dieses Geistes, dass er weder im Sinne eines Subjektivismus noch eines Objektivismus aufgefasst werden kann. Der Geist des Westens stellt sich in den Geistern dar, die ihn auf seiner Höhe auffassen konnten, weil es ihnen gelungen war, sich in ihm darzustellen.
Der Geist des Westens und die Geschichte vom Guten und Bösen
Am Beginn der Geschichte des abendländischen Denkens findet sich eine Unterscheidung, die bis heute die Einteilung unseres Wissens prägt. Das Wissen ist zum einen ‚Theorie‘, d. h. ursprünglich ‚Schau‘, ‚Betrachten‘. Es geht hier um das richtige Erkennen in einem Wissen, das Ausschnitte der Welt so beschreibt, dass daraus ein zusammenhängender Bestand von Kenntnissen entsteht, den wir dann als ‚eine Theorie‘ bezeichnen können. Theorien können uns jedoch nicht nur zu einer besseren Erkenntnis der Welt, in der wir leben, verhelfen. Mit ihrer Hilfe können wir auch die Welt so verändern, dass sie unseren Zwecken besser entspricht, als dies von der Natur geplant war. Das theoretische Wissen ist damit die Grundlage für das technische Wissen als Kenntnis über die geeigneten Mittel, die wir für unsere Zwecke einsetzen können.
Das Wissen ist zum anderen ‚praktisches Wissen‘. Damit wurde ursprünglich nicht das verstanden, was wir heute im Alltag so bezeichnen. Heute wird ein unmittelbar anwendbares Wissen so genannt, das uns nicht eine reine Erkenntnis gibt, sondern sich in konkreten Situationen einsetzen lässt. Dazu gehören auch Wissensformen, die nicht den Standards der Wissenschaften entsprechen, etwa das Erfahrungswissen eines Handwerkers, Lehrers oder Managers. Ursprünglich wurde als ‚Praxis‘ jedoch der Bereich des Lebens verstanden, in dem wir danach fragen, ob unser Handeln richtig ist in einem Sinn, der sich nicht auf technische Zusammenhänge bezieht. Es geht in diesem Lebensbereich nicht darum, dass wir für gegebene Ziele durch die Anwendung des theoretischen Wissens die geeigneten Mittel finden. Es geht vielmehr darum, dass wir unsere Ziele und Zwecke selbst bestimmen. Es geht also um die Frage, wann wir sagen können, dass unsere Ziele ‚gut‘ heißen können.
Das Wissen, das die ‚praktische Philosophie‘ gewinnen wollte und will, bezieht sich auf die Bestimmung der Unterscheidung zwischen Gut und Böse, auf das richtige Handeln und das gute Leben, so dass wir wissen können, was wir tun und lassen sollen. Von ‚Sollen‘ ist hier also die Rede im moralischen Sinn, nicht in den anderen Bedeutungen, in denen wir auch sagen, man ‚sollte‘ dies oder jenes tun. Vor allem unterscheidet sich das Sollen der ‚Praxis‘ von dem Sollen in einem technischen Sinn. Wenn wir sagen ‚Wer eine Last anheben will, sollte die Hebelwirkung einsetzen‘, so geben wir einen Rat, mit dem wir keinen moralischen Anspruch verbinden; gemeint ist nur der Hinweis auf einen theoretischen Zusammenhang, der für technische Zwecke verwendet werden kann. Auch der Rat, man solle am Vormittag besser keinen Smoking tragen, bezieht sich nicht auf ein moralisches Sollen, obwohl er auch nicht auf einen technischen Zusammenhang hinweist.
Der Bereich des praktischen Wissens umfasst die Kenntnis von dem, was wir in diesem besonderen – ‚moralischen‘ – Sinn als ‚gut‘ bezeichnen können. Bereits am Anfang des abendländischen Denkens galt dieses Wissen als ganz besonders erstrebenswert, mehr noch als das theoretische Wissen. Dies ging auf die Einsicht zurück, dass der Mensch in seinem Wesen stärker durch das bestimmt wird, was er über sein Sollen denkt, als durch seine Theorien über die Welt. Als besonders wichtig wurde das praktische Wissen also deshalb angesehen, weil mit dem Menschen die Freiheit in die Welt gekommen war. Die Frage nach dem, was wir im praktischen Sinne ‚sollen‘, weil es ‚gut‘ ist, kann nur unter der Voraussetzung der Freiheit gestellt werden. Wir könnten aber auch sagen: wenn wir uns als frei verstehen, dann müssen wir nach dem fragen, was wir ‚sollen‘, weil uns in diesem Fall die ‚Natur‘ nicht mehr sagt, was wir tun müssen.
Mit dem Bewusstsein von der menschlichen Freiheit war auch die Frage nach der Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen in die Welt gekommen, also zwischen dem, was wir tun sollen, und dem, was wir lassen müssen. Umgekehrt war diese Frage auch der Beweis für die Freiheit. Nur ein Wesen, dem die Natur nicht mehr alles vorschreibt, was es tun muss, kann eine solche Frage stellen. Das praktische Wissen ist also in einer ganz besonderen Weise mit der menschlichen Freiheit verbunden. Im theoretischen Wissen dagegen fragen wir gerade nach dem Notwendigen, also nach Naturzusammenhängen, die so verlaufen, dass wir Gesetze formulieren können, mit deren Hilfe wir dann Voraussagen darüber treffen können, wie sich die Natur in Zukunft verhalten wird. Wegen dieser Notwendigkeit – also Unfreiheit – in der Natur können wir solche Gesetze dann dafür einsetzen, die Natur nach unseren Zwecken und Zielen umzugestalten.
Wenn wir berücksichtigen, dass das Streben nach theoretischem Wissen in den meisten Fällen – obwohl nicht notwendig immer – durch das Ziel geleitet wird, die physische Welt so zu beherrschen, dass wir sie durch Technik an unsere Wünsche anpassen können, so könnten wir sagen, dass das theoretische Wissen in einem großen Ausmaß von unseren Zielen und Zwecken geleitet wird. Dieses Wissen sollte nicht unseren Wunschvorstellungen entsprechen, sonst könnte es nicht als Grundlage für technische Erfindungen und Innovationen dienen. Aber der Bereich des theoretischen Wissens ist jenseits des engen Bezirks völlig zweckfreier Forschung um der bloßen Erkenntnis willen doch auch durch unsere Zielsetzungen umgrenzt. Darin zeigt sich eine gewisse Vorrangstellung desjenigen Wissens, das die Ziele und Zwecke selbst bestimmen soll, also des ‚praktischen Wissens‘ in dem genannten Sinn. Was wir tun sollen, wenn wir ‚gut‘ leben und richtig handeln wollen, bleibt nicht ohne Einfluss auf das, was wir theoretisch über die Gesetzlichkeiten der Natur wissen.
Das Wissen von der Bestimmung der Unterscheidung zwischen Gut und Böse ist aber nicht nur dadurch ausgezeichnet, dass sich in ihm die menschliche Freiheit darstellt und dass es in weitem Ausmaß die Suche nach theoretischen Kenntnissen steuert. Das ‚praktische‘ Wissen bezieht sich auf zentrale Fragen der menschlichen Existenz. Dies gilt für das individuelle Leben ebenso wie für das Leben der Gemeinschaft. Seit Beginn des abendländischen Denkens geht es in diesem Bereich des Wissens um die Frage, wie wir leben sollen, wenn wir ein gutes und gelingendes Leben führen wollen. Die Suche nach Bedingungen eines guten Lebens stand nicht immer im Zentrum der praktischen Philosophie. Sie blieb aber immer der Hintergrund, vor dem die Verhandlungen in diesem Bereich des Wissens geführt wurden. Manche Positionen stellten jedoch gerade diese Suche in das Zentrum ihrer Bemühungen um ein praktisches Wissen.
In anderen Konzeptionen stand die Frage nach dem richtigen Handeln in der Gemeinschaft der Menschen im Mittelpunkt. Solche Untersuchungen beginnen mit der Suche nach einem Sozialverhalten, das wir als ‚gut‘ und moralisch begründbar bezeichnen können, weil es nicht einfach durch die animalische Natur des Menschen bestimmt ist, sondern durch das, was ihn spezifisch als Menschen und als freies Wesen ausmacht. In größeren Gemeinschaften wird das Verhalten der Menschen zu einander in der Regel durch feste Normen geleitet, die in höher entwickelten Gesellschaften in der Form des Rechts gesetzt und durch den Staat durchgesetzt werden. Die Frage nach dem, was wir tun und lassen sollen, wenn wir ‚gut‘ und richtig leben wollen, wird dann zu einer Untersuchung darüber, wie die Normen des Zusammenlebens und die staatlichen Institutionen gestaltet sein sollen, damit ein gutes Leben in der Gemeinschaft möglich wird.
Es gibt also mehrere gute Gründe dafür, dem praktischen Wissen einen Vorrang vor dem theoretischen Wissen einzuräumen. Schon deshalb wird es sinnvoll sein, die Suche nach dem, was den Geist des Westens ausmacht, auf den Bereich des praktischen Wissens zu konzentrieren, also auf die Wissensformen, die uns sagen, was wir tun und lassen sollen und wie wir ein gutes Leben führen. Wenn wir uns auf die leitende Frage nach dem Geist des Westens besinnen, so zeigt sich jedoch sofort noch ein weiterer Grund, gerade diese Form des Wissens für die Charakterisierung des Westens heranzuziehen. Das theoretische Wissen ist heute so universal geworden, dass Unterschiede zwischen verschiedenen Welten und Kulturen so gut wie keine Rolle mehr spielen. Allerdings gilt dies nicht so radikal, wie es zunächst scheinen könnte. Die Rolle des theoretischen Wissens kann etwa in der Medizin in verschiedenen Kulturen sehr verschieden sein. Ein anderes Beispiel wäre die Auseinandersetzung zwischen Evolutionstheorie und Kreationismus in den USA. Der Streit darüber, ob sich das Leben auf der Erde durch Mutation und überlebensrelevante Selektion oder aber durch die Schöpfungstätigkeit Gottes entwickelt hat, bezieht sich im Grunde auf eine theoretische Frage.
In den allermeisten theoretischen Fragen können wir jedoch keine Unterschiede zwischen dem Westen und anderen Welten und Kulturen feststellen. Damit hat das theoretische Wissen aber auch seine Fähigkeit verloren, die Identität des Westens bestimmen zu können. Wir könnten vielleicht feststellen, dass die westliche Weise der Begründung dieses Wissens in der Gegenwart ihren globalen Siegeszug vollendet hat, der keine anderen theoretischen Wissensformen als gültigen Erkenntniszugang zur materiellen Welt mehr möglich macht. Aber auch damit sagen wir, dass das theoretische Wissen keine Möglichkeiten bietet, sich der Identität des Westens zu vergewissern. Die entscheidenden Abgrenzungslinien sind nur auf ethischem Gebiet zu finden. Auch deshalb werden wir uns dem ‚praktischen Wissen‘ in dem genannten Sinn zuwenden müssen, um zu verdeutlichen, was den Geist des Westens heute ausmacht und wie er sich in seiner Geschichte entwickelt hat.
Wir werden den Geist des Westens also nicht nach der Seite des theoretischen Wissens erkunden, sondern nach der Seite des Wissens um Gut und Böse. Wir haben oben schon darauf hingewiesen, dass der Geist des Westens nicht losgelöst von den Geistern zu bestimmen ist, die ihn entwickelt haben, indem sie in seinem Entwicklungsprozess selbst zu kreativen Denkern werden konnten. Es wird sich also um die wichtigsten Positionen in der philosophischen Ethik handeln müssen, die zur Bestimmung des Geistes des Westens beigetragen haben, indem sie die Fragen nach dem guten Leben und der richtigen Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen auf dem Niveau gestellt haben, das diesem Geist entsprach. Die Jury, die über die wichtigsten Perspektiven bestimmen soll, aus denen sich der Geist des Westens zeigt, besteht deshalb aus Denkern, die in der praktischen Philosophie entscheidende und maßgebende Positionen entwickelt haben.
Das Christentum in der Geschichte vom Guten und Bösen
Wenn die Frage nach dem Geist des Westens mit Hilfe einer Untersuchung über solche Positionen aus der philosophischen Ethik beantwortet wird, in denen am tiefsten über die Bestimmung der Unterscheidung zwischen Gut und Böse nachgedacht wurde, so wird eine andere Seite weitgehend außer Acht gelassen, die für diese Unterscheidung von nicht zu unterschätzender Bedeutung war. Das Christentum war für den Geist des Westens zumindest von gleicher Bedeutung, wie es die Entwicklung des Denkens über Gut und Böse in den dargestellten gedanklichen Positionen war. Wenn man Freude an extremen Vereinfachungen hat, so könnte man den Geist des Westens sogar auf die einfache Formel ‚Christentum plus Philosophie‘ bringen. Wie in jedem geglückten Slogan, so steckt auch darin ein Fünkchen Wahrheit, auch wenn die einfache Addition die komplexe Struktur im Geist des Westens bei weitem unterbietet. Das Denken, das wir als charakteristisch für das Abendland ansehen können, war jedoch auch Religion, und es gab Epochen, in denen der Glaube des Christentums so im Vordergrund stand, dass jenes Denken, das seine Herkunft der Vernunft der Philosophie verdankt, kaum mehr zu erkennen war. Das Denken des Westens war nie nur Philosophie und reines Denken ohne Zusammenhang mit einer religiösen Verpflichtung. Auch die Zusammenhänge des Denkens, das sich ohne Bindung an vorgegebene Ausgangspunkte und Ziele rein aus sich selbst entwickeln wollte, waren in ihrem Innersten von einem Glauben geleitet, der selbst nicht reines Denken war, obwohl er beanspruchte, sich auch gegenüber dem Denken behaupten zu können.
Aber ein Glaube, der sich auch durch seinen positiven Bezug auf das reine Denken definiert und sich damit der begründenden Vernunft öffnet, gerät in eine Verbindung zur Philosophie, von der er sich nicht mehr lösen kann. Er kann nicht ohne vernünftige Begründung und unangefochten als die Lehre auftreten, die von den Guten angenommen wird, während die Bösen sich durch ihre Abwendung von ihr zu erkennen geben. Deshalb ist der Geist des Westens auch in der extremen Vereinfachung nicht angemessen als eine ‚Addition‘ von Christentum und Philosophie aufzufassen. Der Geist des Westens ist ebenso das Ergebnis von Christentum gegen Philosophie und Philosophie gegen Christentum. Er ist gerade charakterisiert durch diese Auseinandersetzung. Auch diese Kritik verlief nach dem Muster einer ‚bestimmten Negation‘, d. h. das Ergebnis der Auseinandersetzung zwischen der Philosophie und dem Christentum ist nicht aus einer beliebigen Auseinandersetzung entstanden, sondern gerade in diesem Konflikt. Deshalb bleibt das Ergebnis von dem bestimmt, wogegen sich die Kritik – und auch die Feindschaft – richtete. Die neue Position entsteht stets aus der kritischen Auseinandersetzung mit einer anderen vorgefundenen Position. Die neue Position wäre anders, wäre sie in der Kritik an einem anderen Denken entstanden. Dies gilt auch für das Verhältnis zwischen Christentum und Philosophie, das die Bewegungsstruktur ausmacht, die den Geist des Westens mit geprägt hat.
Wenn wir im folgenden den Geist des Westens nur nach der Seite untersuchen, nach der er von der philosophischen Ethik bestimmt wurde, so ist im Grunde das Christentum stets als der Hintergrund präsent, gegen den sich die dargestellten Positionen entwickelt haben. Sie waren von ihm umfangen und mussten sich kritisch gegen ihn behaupten. Wir gehen jedoch nicht näher auf die christliche Ethik und ihre Auffassung von Gut und Böse ein. Dies ist in der Sache gut gegründet, da der Geist des Westens sich in erster Linie daraus entwickelt hat, dass sich die philosophische Seite gegen die christlichen Auffassungen über Gut und Böse durchsetzen musste. Deshalb können wir uns darauf beschränken, aus dem Geist des Christentums nur die gedanklichen Linien aus zwei der Großen Erzählungen auszuziehen, die die Entwicklung des philosophischen Denkens über Gut und Böse so folgenreich geprägt haben, dass es ohne sie nicht in der uns bekannten Gestalt vorhanden wäre.
Wir konzentrieren uns dabei auf die Großen Erzählungen der Schöpfungsgeschichte und des zentralen Geschehens am Beginn des Christentums. Mit dem Ausdruck ‚Große Erzählung‘ wird versucht, nicht die Selbstinterpretation des Christentums zu übernehmen. Es geht nicht um eine Kritik an oder eine Verteidigung der christlichen Lehre. Uns kommt es nur darauf an, denjenigen Hintergrund im Geist des Westens deutlich zu machen, ohne den seine Bestimmung aus dem Geist der philosophischen Ethik nicht verständlich werden kann. Das Zentrum der Großen Erzählung des Alten Testaments ist die Entscheidung der ersten Menschen für die Freiheit zum Guten und Bösen. Das Zentrum der Großen Erzählung des Neuen Testaments ist das Leben und Sterben eines Gottes, der sich den Menschen gleich gemacht hat. Ohne diese beiden fundamentalen Gedanken der Freiheit im Guten und Bösen und der Gleichheit der Menschen, von denen einer eine Zeit lang der Gott selbst war, ist die Geschichte des Geistes des Westens nach der Seite der Bestimmung von Gut und Böse nicht in ihrer ganzen Struktur zu verstehen. Deshalb legen die Interpretationen dieser beiden Großen Erzählungen die Grundlage für die Darstellung der Entwicklung des Geistes des Westens in den Gedankengängen der wichtigsten Denker über Gut und Böse.